Samstag, 18. August 2018

Schmähkritik des Tages (21)


Heute: Bettina Weber über die Wellnessindustrie

"Das Gespräch kommt unweigerlich darauf, an jeder Party, an jedem Apéro. Man erwähnt so ganz nebenbei, müde zu sein oder gerade eine Migräne hinter sich zu haben, und schon legt das Gegenüber den Kopf schräg und sagt: »Dein Säure-Basen-Haushalt ist total aus dem Gleichgewicht.« Meist sind es Frauen, die einem ungefragt eine Diagnose stellen und gleich noch das Behandlungskonzept mitliefern, zum Beispiel, eine Detox-Kur zu machen. Oder Yoga.

Es sind nie Ärztinnen, die einen da ungewollt beraten. Aber sie wissen trotzdem Bescheid in Sachen Gesundheit. Weil die Gesundheit zum liebsten Hobby und zur grössten Obsession des modernen Menschen geworden ist. Obschon er noch nie so gesund und die medizinische Versorgung noch nie so hervorragend war wie heute, fühlt er sich dauernd krank. Latent ­leidend. Einfach nicht richtig gut. Die Lösung heisst: Wellness.


Denn der moderne Mensch ist mit seinen physiologischen Grundfunktionen überfordert. Er weiss nicht mehr, wie man richtig atmet. Oder schläft. Oder isst. Er ist gestresst, verspannt und vergiftet, deshalb muss er relaxen und entschlacken, er braucht Hilfe, sein Körper sowieso und sein Geist erst recht. Und die bekommt er in unzähligen Wellness-Kliniken, wo ihm für viel Geld gezeigt wird, wie er richtig atmet, schläft, isst.

[…] Während sich die Welt über alternative Fakten in der Politik echauffiert, haben sie dort, wo es um den eigenen Körper geht, seit Jahren Hochkonjunktur – ganz so, wie wenn es nie eine Aufklärung gegeben hätte." (Tagesanzeiger, 16.8.2018)


Anmerkung: Gegen Wellness im eigentlichen Sinne ist absolut nichts einzuwenden. Es ist nichts Schlechtes daran, zum Beispiel in die Sauna zu gehen, sich dort ein paar Stunden zu entspannten, sich massieren zu lassen, es sich sonstwie gut gehen zu lassen und hernach erfrischt an Körper, Seele und Geist in den Alltag zurückzukehren. Wenn dabei Klangschalen, Ayurveda-Kram, ätherische Öle, Kristalle und anderer Tinnef gegen Aufpreis zum Einsatz kommen – wenn es dem subjektiven Wohlbefinden dient, bitte sehr, ich habe da nicht zu urteilen.

Solange für entsprechende Einrichtungen kein öffentliches Schwimmbad geschlossen wird und gegen ein gewerblich betriebenes ausgetauscht wird, versteht sich. Dadurch bekommt die Sache eine üble soziale Dimension, nämlich die, dass sozial schlechter Gestellte von Schwimmbadbesuchen wegen der oft happigen Preise in solchen Wohlfühltempeln oft ausgeschlossen sind. Das ist nebenbei auch das Fiese daran, wenn Firmen ihren Mitarbeitern derartigen Kram (mit-)bezahlen. Es geht nicht um den Menschen selbst, sondern zuvörderst darum, dessen Ausbeutbarkeit zu steigern.

Richtig heikel wird es aber, wenn, wie oben beschrieben, so genannte 'Alternative Heilmethoden' in die Wellness-Szene einsickern und für sich in Anspruch nehmen, genauso wirksam zu sein wie wissenschaftsbasierte Medizin. Die beansprucht übrigens keineswegs, allmächtig zu sein oder alles heilen zu können, zumindest wenn die, die sie betreiben - Faktor Mensch - halbwegs auf allen Platten kochen. Auch ist es gewiss nicht so, dass dort keine Fehler passierten. So kann ich als medizinischer Laie nur den Kopf schütteln, wenn ich sehe, wie munter bei Erkältungen Antibiotika verordnet werden.

Apropos verordnet: Viele Menschen sind heutzutage antiautoritär eingestellt. Auch das ist im Prinzip nichts Schlechtes, aber wenn das in Paranoia ausartet, wird es nicht selten peinlich. Wenn die kleinste Regelung, die dem besseren Funktionieren der Dinge dient, gleich als gezielter faschistoider Eingriff in die persönliche Autonomie empfunden wird, wenn sofort "kinderfeindlich!" gezetert wird, wenn (die eigenen) Kinder nicht immer und überall alles dürfen etc.

"This always struck me as funny about the wellness world: how some people would brag about their mainstream credentials (»Trust me,« they’d say, with a straightening of their tie. »I’m a doctor«), while others felt that their legitimacy lay in the fact that they had no credentials. (»Trust me,« they’d say, jamming their thumbs mockingly toward the doctors. »I’m not a doctor.«)" (Lindy West)

'Alternativmediziner', 'Heiler' und andere Scharlatane profitieren am meisten von denen, die sich für 'kritisch' und 'selbst denkend' halten, weil sie jeden Arzt für einen von der Pharmaindustrie gekauften Stümper und jede wissenschaftliche Studie per se für gefinkelt halten. Finden wirksame medizinische Behandlungen deswegen nicht statt, kann es schon mal tödlich enden. Oft stehen Ärzte und Krankenhäuser mittlerweile vor dem Problem, den Flurschaden, den 'alternative Behandlungen' angerichtet haben, irgendwie ausbügeln zu müssen. Der 'Heiler' hingegen ist meist aus dem Schneider, denn er hat es sich in der Regel schriftlich bestätigen lassen, kein Heilungsversprechen gemacht zu haben.

Gerade der Pharmaindustrie wird je gern zum Vorwurf gemacht, Rendite über den Menschen zu stellen. Das mag natürlich sein, dass aber die aber ebenfalls gewinnorientiert arbeitende und daher inzwischen längst milliardenschwere Wellness-Industrie im Kern auch nichts anderes macht, geht dabei gern unter bzw. wird diskret unter den Tisch gewischt. 'Heiler' sind nämlich grundsätzlich nie an Geld interessiert, so der verlogene Subtext, sondern haben Kosten, die sie halt decken müssten.

So wie es jedem frei steht, bei jedem Wehwehchen zum Arzt zu rennen oder auch nicht, ist es natürlich die Sache jedes einzelnen, sein Geld zu dubiosen Heilern zu tragen oder Wellness für einen vollwertigen Medizinersatz zu halten. Nur möchte ich das bitte nicht mit meinen Kassenbeiträgen mitfinanzieren müssen. So wie ich auch ein Problem damit habe, dass gegenaufklärerischer esoterischer Mumpitz mit öffentlichen Mitteln gefördert an Volkshochschulen gelehrt wird. Übrigens soll das stellenweise inzwischen in jedem vierten Volkshochschulkurs aus dem Bereich Gesundheit der Fall sein.




1 Kommentar :

  1. altautonomer:

    Na ja, den Eso-Hokuspokus a'la "Entspannt in die Verblödung" lehne ich strikt ab, gar keine Frage. Aber die Pharmaindustrie ist auch nicht ohne, wie ein Papier von Goldmann-Sachs aus diesem Jahr zeigt.
    Demnach lohnt es sich nicht, Menschen zu heilen.

    https://www.huffingtonpost.de/entry/goldman-sachs-bank-investment-gesundheit-studie_de_5acf9309e4b0edca2cb79917

    Ist ja eigentlich auch nicht neu. Wobei das in der Presse zitierte Beispiel Hepatitis C (in @.de so gut wie ausgerottet) nicht taugt, denn seit 1990 wurde verschiedene, sehr teure Kombinationstherapien mit Ribavirin und Interferon später zuzüglich weiterer Stoffe an Patienten ausgeführt. Dauer 1 Jahr und länger. Auf sogenannten, in vielen deutschen Städten jährlich stattfindenden "Lebertagen" genannten Arzt-Patientenveranstaltungen wurden immer die neuesten Therapien vorgestellt. So spülte man die Verängstigen in die Wartezimmer der Gastroenterologen.

    Die "One-Shot-Heilung" bei HCV (über 95 %) beruht auf einer täglich einzunehmenden Pille über 3 Monate. Kosten: 800 Euro .
    - pro Pille.

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