Samstag, 17. November 2018

Mittelschicht und Mittelmaß


"Faustregel: Wer mehr als ein Flugzeug besitzt, ist wahrscheinlich nicht Mittelschicht." (Oliver Welke)


Will eigentlich noch irgendjemand Oberschicht sein? Oder sich dazu bekennen, Unterschicht zu sein? Ist übrigens gar nicht so abwegig. Es gab nämlich Zeiten, da war Proletariat schick, da wollte man dazugehören, wenn die Revolution um die Ecke kam. In den Siebzigern auch die Studenten aus gediegenem Hause, die von Mutti immer den Bundeswehrparka gewaschen kriegten, weil sie selbst nicht dazu kamen vor lauter Revolutionmachen (daraus sind später die Grünen entstanden). In den Achtzigern dann konnte es für viele gar nicht Oberschicht genug sein. Die Bürgerkinder begehrten, reiche Säcke zu werden. Kamen mit Aktenköfferchen zur Schule, wählten Wirtschaft-LK, drohten mit Papis Anwalt, gingen BWL studieren und träumten von einem Job als Broker, um alsbald herumzulaufen wie Gordon Gekko.

Unterschicht will ja überhaupt niemand sein. Wie die Unterschicht funktioniert, das wissen wir dank der unermüdlichen Propaganda Aufklärungsarbeit diverser Fernsehsender und Druckerzeugnisse nur zu gut: Die Unterschicht ist bekanntlich faul, fett, arbeitsscheu, zockt das Jobcenter und damit die Volksgemeinschaft ab, lebt und ernährt sich ungesund (für Schipps, Kohla und Kippen hattse nämlich immer Geld) und liegt Von Unseren SteuergeldernTM vor dem Flachbildschirm (der ihr aber gar nicht zusteht) auf der Bärenhaut. Ihhh!

Nun ist spätestens seit der Finanzkrise dummerweise auch die Oberschicht ein wenig diskreditiert. Die ihr angehören, gelten als raffgierige Steuerbetrüger und Kapitalistenärsche, die sich selbige vom Steuerzahler retten lassen, wenn sie sich verzockt haben. Hartz IV mit 24 Karat Goldauflage und Brillanten quasi. Daher wollen seit einiger Zeit alle Mittelschicht sein. Mittelschicht ist der Place to be. Schwer angesagt. Der heißeste Scheiß seit geschnittenem Brot. Sogar plotzreiche Witwen wie Gloria von Thurn und Taxis und Maria Elisabeth Schaeffler zählten sich lustigerweise schon dazu. Und niemand lachte sich schlapp. Jüngstes Beispiel: BlackRock-Interessentrenner, Merkel-Rächer, Millionär, Flugzeugbesitzer und Wannabe-Kanzler Friedrich Merz. Auch der sieht sich schon irgendwie der Mittelschicht zugehörig. Sonst noch jemand, der gern Mittelschicht wäre? Herr Hopp, Herr Maschmeyer? Frau Springer? Frau Mohn? Huhu, noch jemand ohne Fahrschein?

Aber was ist das eigentlich, diese Mittelschicht? Der Definitionen sind viele. Ich behelfe mir gern so: Rein wirtschaftlich gehört zur Mittelschicht, wer - Abgrenzung zur Oberschicht - ganz oder größtenteils abhängig ist von einem aus abhängiger oder selbstständiger Tätigkeit erwirtschafteten Einkommen, von dem - Abgrenzung zur Unterschicht - noch genug übrig bleibt, dass Vermögensbildung möglich ist. Entscheidend ist dabei die Abhängigkeit vom Arbeitseinkommen und dass etwas Nennenswertes übrig bleiben muss davon. Wer genug Vermögen besitzt, um auch ohne irgendeine Form von Erwerbsarbeit kommod zu leben, ist daher nicht Mittelschicht, auch wenn das noch so sehr der Wunsch sein sollte.

"If you end up with a boring, miserable life because you listened to your mom, your dad, your teacher, your priest, or some guy on television telling you how to do your shit, then you deserve it." (Frank Zappa)

Stellt sich die Frage, was so attraktiv daran ist, Mittelschicht zu sein. Natürlich ist es verständlich, dass man möglichst genügend verdienen will, um noch was übrig zu haben für ein paar Extras. Mittelschicht ist aber mehr als nur Verdienst, da hat das obige Modell seine Lücken. Es geht auch um ein Lebensgefühl. Etwa um dieses Standardmodell, das so vielen immer noch als Ideal eines gelingenden Lebens vorschwebt: Kreditfinanziertes 08/15-Eigenheim, für das man die nächsten 30 Jahre buckeln muss, eine Ehefrau, die es längst heimlich mit jemand anders treibt und sich mit 60prozentiger Wahrscheinlichkeit wird scheiden lassen sowie momentan einskommasechs, aus lauter Sorge um deren Zukunft komplett überforderte Kinder, die entweder Stress machen oder kosten oder beides und spätestens, wenn man 60 ist, anfangen, aufs Ableben der Alten zu schielen, weil sie ans Erbe wollen.

Ist das erstrebenswert? Muss man sich damit brüsten? Das als erstrebenswert propagieren? Sollte jeder natürlich selbst entscheiden. Trotzdem: Es kann einfach kein Zufall sein, dass die Nähe des Begriffs 'Mittelschicht' zu 'Mittelmaß' bzw. zu 'mittelmäßig' so verteufelt schwer zu leugnen ist. Man sollte niemals vergessen, dass die Mittelschicht unter den herrschenden Zuständen auch ein Quell kleinbürgerlicher Niedertracht ist. Mittelschicht bedeutet nicht nur, es bequem haben in der Mitte, sondern auch eingeklemmt sein zwischen oben und unten. Bei Pegida, AfD & Co. versammeln sich, das ist inzwischen gut belegt, eben nicht die Abgehängten, sondern vor allem die, die Angst davor haben, abgehängt zu werden. Die neidisch nach oben schielen und dauergestresst und angstvoll nach links und rechts schauen, weil sie noch was zu verlieren haben, um dann umso heftiger nach unten zu treten, und zwar lustvoll:

Der "verunsicherte Mittelschichtler [...] verlangt, dass ihm vorgeführt wird, dass der Staat die anderen schlechter behandelt als ihn selbst. Wer sich zur Mittelschicht zählen will, der muss das genießen, dass man die da unten, in den Jobcentern und auf den Wohnungsämtern, so drastisch mies behandelt. Anderswo würde man so was vielleicht sogar Erpressung nennen: Wenn die Demokratie uns Mittelschichtlern unsere Privilegien nehmen will, dann werden wir aber sowas von populistisch Krawall machen." (Georg Seeßlen)

Man kann schließlich auch der geistigen Mittelschicht angehören. Möcht man da wirklich mittun? Wer in coram publico für sich in Anspruch nimmt, Mittelschicht zu sein, beansprucht damit, 'normal' zu sein, einer von den 'kleinen Leuten'. Fast immer ist das falsche Bescheidenheit. Wenn einer wie Merz vorgibt, zur Mittelschicht zu gehören, dann schiele ich wieder einmal neidisch nach Frankreich. Dort macht Emmanuel Macrón vor, dass zu einem Präsidenten selbstverständlich auch ein entsprechender Lebensstil gehört und lässt es fröhlich krachen. Niemals käme es ihm in den Sinn, öffentlich in einen Hamburger zu beißen. Man muss selbstverständlich weder das noch seine Politik mögen, aber irgendwie ist das sympathischer, da ehrlicher, als dieses verkrampfte, verlogene Bescheidentun (das ja, wie gesagt, keine Bescheidenheit ist).

Charles Bukowski warnte einst vor der zerstörerischen Kraft scheinbar harmloser Durchschnittsmenschen. Allzuleicht geht nämlich unter, dass man auch so normal sein kann, dass es einen gruselt.




7 Kommentare :

  1. In einen Hamburger zu beissen, oder als sein Lieblingsessen "Kartoffelsuppe" anzugeben! :)


    Mann, da hab ich so viele gemischte Gefühle beim Lesen eines Blog-Posts...! :) :(

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    1. Macrons Lieblingsessen ist nach eigener Aussage "Blanquette de veau" (https://www.marmiton.org/recettes/recette_blanquette-de-veau-facile_19219.aspx)

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    2. Da sind ja BRÜHWÜRFEL im Rezept - mon Dieu!
      @Thomas: So war das gedacht. :)

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  2. Der "verunsicherte Mittelschichtler [...] verlangt, dass ihm vorgeführt wird, dass der Staat die anderen schlechter behandelt als ihn selbst. Wer sich zur Mittelschicht zählen will, der muss das genießen, dass man die da unten, in den Jobcentern und auf den Wohnungsämtern, so drastisch mies behandelt. Anderswo würde man so was vielleicht sogar Erpressung nennen: Wenn die Demokratie uns Mittelschichtlern unsere Privilegien nehmen will, dann werden wir aber sowas von populistisch Krawall machen." (Georg Seeßlen)

    Siehe Brasilien. Wenn das liberale Bürgertum an den Kosten ihrer Wohltaten beteiligt werden soll, dann geht es auch mit dem Faschismus ins Bett.

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  3. Ich persönlich mag da ungern folgen, diesen schichtspezifischen Unterscheidungen von Ober-, Mittel und Unterschicht.
    Ich halte mich da lieber an meine eigene Begrifflichkeit, und zwar an die vom "bürgerlichen Bewusstsein", welches, abgesehen von der sog. Oberschicht, für mich kaum Unterschiede aufweist.

    Die Äusserungen von Georg Seeßlen zur Mittelschicht empfinde ich doch als stark überzeichnet. Weil ich in Richtung Deutschland nur Kontakt zu Menschen habe, die in finanziell relativ abgesicherten Verhältnissen leben und ich nicht über Menschen schreiben möchte, sondern sie selbst sprechen lassen will, hier zwei Beispiele, wie Ereignisse in Frankreich bewertet werden.

    Erstes Beispiel von einer Französin, welche die geringste Zeit in Frankreich gelebt hat: "Die Franzosen sollen endlich mal aufhören ständig zu streiken. Man muss auch mal auf Lohn verzichten." Auf die Antwort, worauf man denn noch verzichten noch könne, wenn man für netto 1.100 Euro Mindestlohn arbeitet kam Erstaunen "Sowas gibt es?"

    Aktuell zu den Blockadeaktionen 'Gilet jaune' von einem langjährigen Freund und Schulkameraden:

    "Sowas wäre in Deutschland nicht möglich (da hat er unbedingt Recht). In Deutschland sind Gewerkschaften Ordnungsfaktoren und den Staat so zu erpressen, das findet er schlichtweg unanständig. Und machen die sich denn keine Gedanken um das BIP?"

    Fast normal, dass man über etwas redet, von dem nichts gewusst wird. Weder Gewerkschaften noch Linke haben sich da ins Zeug gelegt.

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    1. Dass mein Modell von Mittelschicht seine Schwächen hat, schrieb ich ja. Es geht mir vor allem darum, dass die Mittelschicht in (West-) Deutschland eine Art heilige Kuh ist. Weil in der "nivellierten Mittelstandgesellschaft" (Schelsky) dank sozialer Marktwirtschaft die Klassengegensätze aufgehoben wären (was sie in der NS-'Volksgemeinschaft' auch sein sollten).

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    2. @ Stefan Rose,

      ist ja nicht ein Modell, welches Dir anzulasten wäre , sondern eines aus der bürgerlichen Soziologie, um es gegen die marxistische Klassengesellschaft in Stellung zu bringen.

      Ich habe da selbst inzwischen beträchtliche Schwierigkeiten, eine "theoretische Differenzierung" zu finden, welche die heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse einigermassen korrekt abbildet ohne auf die beiden "Modelle" zurückzugreifen.

      Beide Modelle sind für mich inzwischen ungeeignet die heutige Realität noch adäquat abzubilden.

      Möglicherweise wird das besser zugänglich , wenn ich das milieuspezifisch aufbereite: In den Betriebswohnungen der Varta, in denen ich mal aufgewachsen bin, da leben heute überwiegend unsere ehemaligen Gastarbeiter, Türken.

      Fast alle ehemaligen Proletenkinder aus dieser Zeit haben es zu bescheidenem oder auch mehr Wohlstand gebracht: mit Studium, Familie, Einfamilienhaus, teilweise ins Ausland an Forschungseinrichtungen, als Bundesligakicker usw..

      Diese ehemaligen Kinder der Arbeiterklasse sind heute ebenso in die bürgerliche Gesellschaft integriert, wie die sog. Mittelschicht, und sie schauen ebenso verächtlicht auf die herab, welche die Idylle der bürgerlichen Gesellschaft stören.

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