Samstag, 6. April 2019

Wegsehen hilft nicht


Heute vor 25 Jahren begann der Völkermord an den Tutsi in Ruanda

"Aus der Geschichte der Völker können wir lernen, dass die Völker aus der Geschichte nichts gelernt haben." (Georg Wilhelm Friedrich Hegel)

Vor genau 25 Jahren, am 6. April 1994, wurde die Maschine des ruandischen Präsidenten Habyarimana beim Anflug auf den Flughafen der Hauptstadt Kigali von zwei Boden-Luft-Raketen getroffen. Es gab keine Überlebenden. Das und die Ermordung der belgischen Blauhelme, die zum Schutz von Premierministerin Uwilingiyimana abgestellt worden waren, war das Startsignal für die Hutu-Milizen, damit zu beginnen, die Tutsi-Minderheit im ganzen Land zu massakrieren. Dabei legten sie eine Effizienz an den Tag, die diejenige der NS-Mordindustrie im zweiten Weltkrieg bei weitem überstieg. Zwischen 800.000 und eine Million Menschen wurden binnen 100 Tagen ermordet. 8.000-10.000 pro Tag. Im Schnitt. Und das mit vergleichsweise einfachen Mitteln. In Handarbeit.

Eine nähere Schilderung des Schreckens erspare ich mir hier. Das haben andere gründlicher getan. Der Wikipedia-Artikel ist ein guter Anfang. Oder der Bericht von Human Rights Watch. Normalerweise neige ich nicht dazu, Triggerwarnungen auszusprechen, aber hier mache ich eine Ausnahme. Die Lektüre kann sich auf empfindlichere Gemüter zutiefst verstörend auswirken. Wer entsprechend veranlagt ist, möge also wissen, was zu tun ist und was nicht.

Im Gegensatz zu den technokratisch-bürokratisch vorgehenden NS-Todesfabrikanten gaben die ruandischen sich nicht einmal Mühe, die Leichen möglichst schnell, spurlos und diskret verschwinden zu lassen. Nur in Murambi, wo eines der schlimmsten Einzelmassaker stattgefunden hatte, bemühten sich französische Soldaten, dass mit schwerem Gerät Massengräber ausgehoben und schnell zugeschüttet wurden. Sehr kurz darauf befand sich dort ein Volleyballfeld. Ansonsten waren die allgegenwärtigen Leichenberge im ganzen Land den Mördern schlicht egal. Weil sie wussten, der Welt würde es weitgehend egal sein. Sie hatten nicht unrecht damit.

Die Europäer redeten sich ohnmächtig die Köpfe heiß wegen Sarajevo, die UN hatte sich auf dem Balkan ein ums andere Mal als zahnloser Papiertiger erwiesen. Die ansonsten interventionsfreudigen Amerikaner hatten nach dem Debakel in Somalia die Nase voll von Militäreinsätzen in Afrika. Überhaupt, stand 1994 wichtigeres an. Die Wahl Nelson Mandelas zum ersten frei gewählten Präsidenten Südafrikas etwa. Ging es nicht gerade so schön aufwärts mit Afrika?

Vorbereitet worden war der Genozid lange. Massenhaft Macheten und anderes Mordwerkzeug unbemerkt ins Land zu bekommen, war die eine Sache. Aber wie bekommt man Menschen dazu, so was zu tun? Unter anderem mit den Mitteln der Sprache. Indem man die auserkorenen Opfer entmenschlicht. Wer aus Ruanda etwas lernen will, sollte hier anfangen. (Weil man ja schließlich immer alles sagen dürfen muss.) Ab etwa 1990 hatten private Radiosender, wegen der hohen Analphabetenquote teils als Entwicklungsprojekte von der UNO finanziert, damit begonnen, inmitten modern gestalteter Programme die Tutsi als 'Ungeziefer', als 'Kakerlaken' zu bezeichnen, die man ausrotten müsse.

"RTLM [Radio-Télévision Libre des Mille Collines, d.V.] produzierte in seinen Programmen eine Atmosphäre aus ruhiger Autorität, hysterischer Mordlust und entspanntem Entertainement. Die Grooves der neuesten kongolesischen Bands und aggressive Rassenideologie befeuerten die Mordlust der Täter, die Moderatoren koordinierten mit Befehlen und Empfehlungen den Fortgang der Massaker." (Milo Rau)

Dabei schien die einst von deutschen und belgischen Kolonialherren eingeführte Unterscheidung zwischen Hutu und Tutsi im Alltag der meisten Menschen kaum mehr eine Rolle zu spielen. Im Gegenteil: Viele, hieß es, empfanden diese Trennung als künstlich. Alte Kamellen von gestern, die keinen interessierten. Die Hetze im Radio? Gewäsch, die erzählen doch eh bloß Müll. Privatsender halt, Dudelfunk! Hutu und Tutsi lebten schließlich seit Jahrzehnten friedlich miteinander. Was sollte also groß passieren?

Als es dann passierte, konnte jedenfalls niemand sagen, man habe nichts wissen oder bemerken können. Das Morden fand vor den Augen der Weltöffentlichkeit statt. Es gab alle Möglichkeiten damals. Kabel- und Satellitenfernsehen, Satellitentelefone, es waren Reporterteams vor Ort. 1991 hatte Peter Arnett vom Dach eines Bagdader Hotels in Echtzeit das NATO-Bombardement auf die Stadt kommentiert und die Welt sah zu. Alles keine Sache. Ja, es gab noch kein Internet und kein Facebook und man konnte auch keine mächtigen Online-Petitionen liken. Wir hatten aber alles, um wissen zu können. Trotzdem ist es geschehen. Wie viel brauchen wir denn noch?

"Die ersten Meldungen aus dem 4000 Kilometer entfernten Ruanda waren konfus: militärisches Kräftemessen, blutige Unruhen, ethnisches Gezänk, Bruderzwist. […] Typisch Afrika eben. »Ruanda?«, meinte ein britischer Kollege, »da hauen sich wieder mal die Tutsi und die Hutu die Köpfe ein, der ewige Stammeskrieg.« Der »Stammeskrieg« war ein Völkermord, der furchtbarste seit der Judenvernichtung durch die Nationalsozialisten und den Killing Fields in Kambodscha. Der Genozid war nicht das Werk archaischer Chaosmächte, sondern einer gebildeten, modernen Elite, die sich aller Instrumente eines hochorganisierten Staates bediente - des Militärs und der Polizei, der Geheimdienste und Milizen, des Verwaltungsapparates und der Massenmedien. Die Täter waren keine Dämonen, sondern Erfüllungsgehilfen eines verbrecherischen Systems. […]" (Bartholomäus Grill)

(Die Täter bei Völkermorden, muss hier ergänzt werden, waren und sind niemals "Dämonen", sondern immer ganz normale Menschen. Was denn sonst? Sie zu unmenschlichen Monstren zu erklären, gehört von jeher zum Standardrepertoire derer, die das Geschehene, warum auch immer, verharmlosen oder sonstwie herunterspielen wollen.)

1994 habe ich Geschichte studiert. Wer Geschichte studiert, neuere Geschichte zumal, befasst sich irgendwann auch mit Völkermord und tut das nicht selten mit dem Vorsatz: Nie wieder! Trotzdem hatten wir das, was da in Ruanda passierte, irgendwie nicht auf dem Schirm. Wie hat uns das so entgehen können? Wo blieb unsere Empörung? Waren wir durch die Massaker auf dem Balkan bereits so abgestumpft, dass wir das nicht mehr sehen wollten? Hatten wir uns unausgesprochen die Einschätzung des britischen Korrespondenten zu eigen gemacht? Weil uns das professionelle Aufarbeiten historischer Gräuel nonchalant bis zynisch gemacht hatte? Solche Fragen treiben mich noch heute um.

Vielleicht markiert der 21. April 1994 endgültig den Tag, an dem der Westen als 'Wertegemeinschaft' bzw. 'Hüter Universeller Werte' mindestens bis ins fünfte Glied und darüber hinaus versagt hat. Am 12. April wurden französische und belgische Elitetruppen angewiesen, Europäer aus dem Land zu evakuieren. Die Mörder ließen sie ziehen. Am 21. fiel dann im UN-Sicherheitsrat die Entscheidung, den größten Teil des UNAMIR-Blauhelmkontingents aus Ruanda abzuziehen und nur eine symbolische Präsenz von 270 Mann im Land zu lassen.

Was das bedeutete, wird in einer Szene des empfehlenswerten, aber nicht leicht anzusehenden Films 'Hotel Ruanda' von 2004 zugespitzt gezeigt:

Dem mit einer Tutsi verheirateten Hotelmanager Paul Rusesabagina (Don Cheadle), der in Kigali das Hôtel des Mille Collines leitet, ist es gelungen, über 1.000 Menschen vor den mordenden Milizen auf dem Hotelgelände zumindest vorübergehend in Sicherheit zu bringen. Lange wird er nicht mehr durchhalten können. Er arbeitet eng mit dem kanadischen Blauhelm-Kommandanten Colonel Oliver (Nick Nolte) zusammen (die Figur des Oliver ist an den unglückseligen General Roméo Dallaire angelehnt). Als ein Zug belgische und französische Fallschirmjäger am Hotel anrückt, ist der Jubel groß. Das ist die Rettung! Als Rusesabinga Oliver zu dessen Erfolg beglückwünscht und ihm zur Feier des Augenblicks einen Whisky anbietet, meint der, er solle ihn lieber ins Gesicht spucken. Die Soldaten hätten Befehl, lediglich die Europäer zu evakuieren.

Wie immer es gemeint war, was immer im Einzelnen die Hintergründe waren: Diese Entscheidung bedeutete im Ergebnis, allen hochtönenden Menschenrechtserklärungen zu Trotze, die Weißen dürfen weiterleben, die Schwarzen müssen halt irgendwie zusehen, wie sie durchkommen. Nee, wir mischen uns nicht in Interna ein. Tut uns leid. Haben gerade wichtigeres zu tun.

Dabei hatte es mal anders ausgesehen. Es ist nicht so, dass die Nordhalbkugel, darunter der Westen, nicht bereit gewesen wäre, in Afrika zu helfen. Gerade einmal zehn Jahre zuvor hatte es in Äthiopien eine verheerende Hungersnot gegeben, der eine unbekannte Anzahl Menschen zum Opfer gefallen war. Die Medienberichte lösten eine bis dahin nie dagewesene Welle der Hilfsbereitschaft aus. Promis wie Bob Geldof veranstalteten Benefizkonzerte, sogar die UdSSR beteiligte sich erstmals gemeinsam mit dem Westen an Hilfsaktionen.

Wie immer ist es leicht, ex post facto Schuldige zu benennen. Dem damaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan etwa wird Tatenlosigkeit und Unentschlossenheit vorgeworfen. Dabei wird wie so oft übersehen, dass auch ein UN-Generalsekretär kein allmächtiger Friedensfürst ist, auf dessen Kommando alle Waffen schweigen. Die UNO kann letztlich nur das tun, was die Staatengemeinschaft zulässt. General Dallaire war überzeugt, mit gerade mal 4.000 Mann und der Erlaubnis zu schießen hätte er das Schlimmste verhindern können. Er hatte sie nicht und ist darüber fast wahnsinnig geworden. Die UNPROFOR im ehemaligen Jugoslawien zählte ungefähr zur gleichen Zeit mehrere zehntausend Mann und konnte Srebenica auch nicht verhindern.

Heute, 25 Jahre später, wird Ruanda immer noch von Paul Kagame regiert. Kagame war 1994 Kommandeur der Rebellenarmee RPF, die den Völkermord und den Bürgerkrieg beendete. Kagame ist alles andere als unumstritten. Er gilt als Autokrat und Wahlfälscher, sein Image als Friedensbringer, der das geschundene Ruanda in ein afrikanisches Musterland verwandelt hat, ist höchst fraglich. Es heißt, die Clinton-Administration habe Kagame damals aus Scham über ihr Nichteingreifen zum good guy erklärt und ihn machen lassen. Dallaire hält es sogar nicht für ausgeschlossen, dass er den Genozid an den Tutsi billigend im Kauf nahm, um dann als Befreier aufzutreten und selbst an die Macht zu gelangen. Weiterhin besteht der Verdacht, dass die RPF noch 1994 auf kongolesischem Boden zehntausende Hutu tötete, die aus Angst vor Racheakten ins Nachbarland geflüchtet waren.

Man hüte sich also, Kagame zum Heilsbringer und Retter Ruandas zu erklären. Vielleicht muss man aber auch verstehen, dass Menschen, die etwas überlebt haben wie diese 100 Tage des Mordens, eventuell eher bereit sind, bei jemandem wie ihm über gewisse Dinge hinwegzusehen, wenn nur wieder Sicherheit und Ordnung herrschen. Weil Sicherheit und Ordnung für unsereins selbstverständlich, ja manchmal gerade lästig sein mögen, aber einen ganz anderen Wert haben, wenn man deren völlige Abwesenheit mal erlebt hat. Auf den Flüchtlingsschiffen aus Afrika befindet sich quasi niemand aus Ruanda. Man hüte sich als Europäer daher vielleicht auch, Ruandern Vorträge über Menschenrechte und Demokratie halten zu wollen.






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