Mittwoch, 17. Juli 2019

Gesaftelhuber


"Eine Lektion, die wir nur langsam zu lernen scheinen, ist, dass in schlecht regulierten digitalen Märkten der Preis, den man zahlt, nicht unbedingt dem entspricht, der die tatsächlichen Kosten widerspiegelt." (Julian Baggini)

Andere Zeiten, andere Berufsbilder. Microjobber etwa. So eine Art Akkordarbeiter. Nur ohne soziale Absicherung, denn das ist voll 20. Jahrhundert. Oder wissen Sie, was ein Juicer ist? Ein professioneller Saftpresser? Weit gefehlt! Betreiber eines Saftladens (was Juicer zu einem der eher häufiger anzutreffenden Berufe machen würde)? Nope. Ein Juicer ist kein Ent-, sondern vielmehr ein Besafter. Von E-Rollern. Juicer sammeln im Auftrag von Sharing-Unternehmens nachts leere E-Scooter ein, laden sie an einer Steckdose auf, meist einer heimischen, und verteilen sie nach getanem Laden wieder im Stadtgebiet.

Simon ist Juicer in Berlin. Macht das nebenberuflich. Pro aufgeladenem Scooter bekommt er vier Euro. Alle Kosten (Auto, Strom, Mehrwertsteuer) gehen zu seinen Lasten. Sieben Stunden dauert es, bis ein komplett leeres Gefährt wieder geladen ist. Weil sein Auto zu klein ist, schafft er immer nur, einen Scooter auf einmal zu transportieren. Aber er hat große Pläne. Denn Simon ist kein armer verzweifelter Teufel, der in eine Drückerkolonne gepresst und über den Tisch gezogen wurde. Er ist Angestellter mit festem Einkommen und macht das als Nebenjob, um Geld für Aktienspekulationen zu kommen (wobei ihm viel Glück zu wünschen ist):

"Simon schätzt, dass er fünf Roller pro Stunde einsammeln müsste, um profitabel zu arbeiten. 20 Euro Verdienst also vor allen Abzügen und ohne eingerechnete Kosten – für eine Stunde einsammeln, sieben Stunden aufladen und eine Stunde ausliefern. Und wenn Simon die Roller zu spät wieder in der Stadt verteilt, warten Strafen auf ihn, 50 Prozent weniger Bezahlung etwa. Bei sich häufenden Fehlern werde ein Juicer gar aus dem Programm geschmissen, erzählt er. [Der Anbieter] Lime sagt nur: »Die Juicer-Community basiert auf Werten wie Vertrauen und Integrität.«" (Lukas Waschbüsch)

Oh ja, letzteres hat bisher noch jeder Sharing Economy-Ausbeuter gesagt.

Überhaupt, man führe sich das vor Augen: Da setzt Nacht für Nacht eine Anzahl dienstbarer, lachhaft bezahlter Ameisen ihre privaten, mit Verbrennungsmotoren betriebenen Autos ein sowie ihren privaten Strom (der bekanntlich aus der Steckdose kommt). Damit ein Haufen Hipster tagsüber mit gesharten E-Scootern die Straßen Berlins unsicher machen kann, und sich auf ihr Öko-Bessermenschentum - siehe, Welt, meine real praktizierte, voll urbanhippe Micromobility! Wie, du Klimaschwein hast noch ein Auto? - einen runterholen kann.

Und nein, ich lehne E-Scooter nicht voll typisch deutsch per se ab. Alles und jedes Neue erst einmal für den Untergang des Abendlandes zu halten (wir erinnern uns: Skateboards, Segways, Tamagotchis,...) und es sofort zur tödlichen Gefahr aufzupumpen, geht mir nämlich auch gehörig auf den Dömmel. Die Dinger mögen ihren Sinn und auch ihre Vorteile haben. Aber angesichts des beschriebenen Geschäftsmodells kann mir dieses Geshare gestohlen bleiben. Daher bleibe ich lieber beim klassischen Modell. Auto vor der Tür, aber so oft wie es geht aufs Rad. Das ist zwar auch nicht gerade klimaschonend, dafür wenigstens ehrlich.



2 Kommentare :

  1. Hier am Rhein breiten die sich aus wie die Beulenpest. Und wenn ich mir anschauen muss, dass ich als notorischer Radfahrer (habe das gleich Modell wie du: Möglichst alles mit dem Rad, besonders der Arbeitsweg, und der Rest mit dem Auto) jetzt das völlig unterdimensionierte, schlecht geplante und noch schlechter erhaltene Radwegnetz jetzt auch noch mit diesen Hipster - Deppen teilen muss, geht mir echt das Messer in der Tasche auf.

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    1. Das ist ja genau der Punkt. Anstatt etwa Anstalten zu machen, das Radwegenetz halbwegs auf Stand zu bringen (niederländische Verhältnisse werden wohl auf ewig ein Traum bleiben), wird lieber die nächste stromfressende Sau durchs Dorf getrieben.

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