Mittwoch, 24. Juni 2020

Not a bug


Der 'Skandal' um Großabstecher und -zersäbler Tönnies ist nicht Ursache, sondern bloß Symptom

Wie Globalisierung funktioniert, wurde mir mal während der Neunziger klar, als ich als Student in einer Druckerei jobbte. Jeden Mittwochabend, kurz vor Feierabend, kam ein Vierzigtonner auf den Hof mit den Werbebeilagen eines großen Verbrauchermarktes. Jedes Mal 11 bis 13 Paletten, vor Weihnachten schon mal bis zu 15. Die wurden immer dem Gratis-Anzeigenblatt beigelegt, das freitagnachts gedruckt wurde. Zwar ist Abladen Aufgabe des Fahrers, doch die Paletten mussten noch in den Korridor gefummelt werden. Dort wurden sie zwischengelagert, damit man sie nicht extra aus dem Lager holen musste. Eine lästige Arbeit, denn eigentlich war man im Geiste schon zu Hause. Manchmal verspätete sich die Lieferung, dann hieß es warten.

Erschwerend kam hinzu, dass mit dem Fahrer eine Verständigung nicht möglich war. Die Beilagen kamen aus einer Druckerei aus Niederösterreich und der LKW hatte ein slowakisches Kennzeichen. Daraus schlossen wir, dass Slowakisch oder Tschechisch hier die Sprachen der Wahl gewesen wäre. Vielleicht noch Russisch. Konnte aber keiner von uns. Englisch funktionierte nicht, das hatten wir getestet. Also Hände und Füße. Etwa, um dem freundlichen, rührend bemühten Kutscher zu erklären, wieso es jetzt eine schlechte Idee ist, die für Lippstadt bestimmten Paletten bei uns in Recklinghausen abzuladen.

Einmal fragte ich meinen den Chef, der die Abteilung Rotation leitete, ob es denn nicht billiger wäre, die Dinger in einer Druckerei hier in der Gegend drucken zu lassen. Es sei doch Wahnsinn, einige Tonnen Werbeprospekte Woche für Woche tausende Kilometer durch die Landschaft zu kutschieren und überhaupt, die Umwelt und… Ich war eben alterstypisch jung, dumm und naiv. Er schaute mich mitleidig an, zeigte mir den Lieferschein der Spedition und zeigte auf die ausgewiesenen Lieferkosten. Angesichts des lächerlich niedrigen Betrages von deutlich unter 500 Mark fielen mir fast die Augen raus. "Kannst dir ja mal ausrechnen, was die arme Sau von Fahrer da noch verdient. Wette, die Karre gehört auch ihm.", meinte er. Und dann noch: "Die Druckerei ist in Grenznähe. Da arbeitet kaum ein Österreicher zu österreichischen Löhnen. Kann unsereins hier nicht mithalten."

Ich lernte: Globalisierung bedeutet nicht nur dort zu produzieren, wo‘s am billigsten ist, scheiß auf Löhne und Sozialstandards, sondern auch, dass Transportkosten absolut nicht mehr ins Gewicht fallen. Keine Schranken, keine Zölle mehr. Immer riesigere Containerschiffe. Und der zweite Mann im Führerhaus war auch längst den modernen Zeiten geopfert.

Warum mir dieser Schwank aus meiner Jugend gerade jetzt wieder einfällt? Die Zentrale und der größte Abstech- und Zerlegebetrieb des Corona-Superspreaders Tönnies ist in Rheda-Wiedenbrück. Das liegt in Ostwestfalen direkt an der A 2 und hat sogar eine eigene Ausfahrt. Die A 2 heißt hier in der Gegend auch 'Warschauer Allee'. Na, klingelt‘s? Paar Stunden mehr im Kühllaster würden die Billigwurst auch nicht fett machen. Machte Tönnies den Sprung über die Grenze, blieben zudem etliche Mastbetriebe in Norddeutschland auf ihren Viechern sitzen. Da kommt eine Menge an geballter Lobbymacht zusammen. Die "Bremsmaschinisten vom Bauernverband" (Vincent Klink) wissen eben, wie es geht.

Sie wissen unter anderem, dass moralische Empörung zwar menschlich verständlich ist und selbstverständlich von edler Gesinnung zeugt, in der Politik aber nie, niemals, nie, nicht wirklich zu etwas führt. Und wenn, dann dazu, dass es hinterher schlimmer ist als zuvor. Sie dürften sogar auch wissen oder zumindest dumpf ahnen, dass einer wie Tönnies im Kapitalismus keine verachtenswürdige Verirrung darstellt, sondern vielmehr einer ist, der das System beherrscht. Tönnies is not a bug, it‘s the system. Einen Al Capone haben sie am Ende nicht für seine Morde und seine Grausamkeiten drangekriegt, sondern wegen Steuerhinterziehung.

Sie wissen vermutlich auch, dass ein Ereignis wie der Tönnies-Skandal keineswegs eine breite Front der Ablehnung hervorruft. Dass vor allem moralisch sich höher stehend wähnende Besseresser das als weitere willkommene Gelegenheit nehmen, sich selbstgefällig mit ihrem superkorrekten Lebenswandel bzw. der Inszenierung davon zu spreizen und vom "Dreck fressenden" Pöbel abzugrenzen ("Da sieht man‘s wieder! Puh, wie gut, dass wir schon seit Jahren fast kaum noch Fleisch essen [Lebenspartner, der sich mehrmals die Woche heimlich eine Currywurst genehmigt, guckt angestrengt ins Leere], und wenn, dann nur von diesem superschönen Biohof, wo..."). Woher sie das wissen? Man nennt es Marketing. Und daher wissen sie auch, dass kaum ein Slogan hierzulande so zieht wie: "Die da wollen dir dein hart erarbeitetes Schnitzel wegnehmen."

Spökenkiekern wir mal. Ein Alternativszenario ginge ungefähr so: Tönnies macht hier den Laden dicht und geht mit der Produktion nach Polen. Von dort beliefert er weiterhin deutsche Discounter, allerdings greenwashed - man hat schließlich gelernt -  und ein wenig teurer. Weil er jetzt ein 'Tierwohl'-Label draufpappt. Die deutschen Mastbetriebe kommen unter noch härteren Preisdruck. Sein Neffe Robert, der in den Medien das Image des jungen, unangepassten, kritischen Reformers und Jungen Wilden pflegt, gründet unter neutralem Namen eine Kette 'Bio-Manufacturen', die fortan zu Kampfpreisen die Bioläden beliefern und den angestammten Öko-Erzeugern die Hölle heißmachen wird.

Was wäre damit gewonnen?






4 Kommentare :

  1. "Transport kostet nix", hat mir ein Opel-Manager mal beim Bier erklärt. Ein 12m-Container von Shanghai nach Hamburg = 600 Euro. Da bezahlt man für ein Billig-Shirt weniger als einen Cent Transportkosten.

    P.S.: Österreich mit Reisewarnung für NRW. Keine Touris aus Kitzbühl in Recklinghausen dieses Jahr?

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    1. Na ja, so viele sind das nicht, das kann die hiesige Tourismusbranche verschmerzen. Wenn die Niederlande eine Reisewarnung fürs Sauerland rausgäben, dann wäre Land unter...

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  2. Siewurdengelesen25. Juni 2020 um 11:50

    Und jetzt weisst Du auch gleich, warum die "Verkehrswende" ebenfalls Hohlphrase bleibt und weiter fleissig Strassen gebaut und kaputt gefahren werden mit immer mehr billigen Transportunternehmen rund um den Globus und beschissen bezahlten LKW-Fahrern oder Skippern.

    Noch billiger als mit den 13 Mann Besatzung eines riesigen Containerschiffs wird sich Transport derzeit kaum lösen lassen. Das ist einfach nur noch irre.

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    1. Willkommen im Kapitalismus. Das Kapital steht über allem. Das Kapital ist Gott und Religion zugleich, nur dass wirklich alle mitmachen.

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