Sonntag, 16. August 2020

Sommerloch: Die zunehmende Verlärmung der Welt


Was für ein Herdentier der moderne Mensch ist, lässt sich sehr schön an Dingen sehen von denen, niemand je geglaubt hat, dass sie jemals in Mode kommen würden. Zum Beispiel Biathlon. Früher war das eine Veranstaltung, die fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, abgesehen von ein paar angeglühten Einheimischen, die ihren Kater vom Vorabend auslüfteten. Aktiv wurde das betrieben von knorzigen Naturburschen mit seltsamen Namen wie Peter Angerer und Eirik Kvalfoss, die, wenn sie denn redeten, unverständliches Idiom sprachen und auf Langlaufskiern einsam durch verschneite Wälder ächzten.

Alle paar Kilometer wurde angehalten, der auf dem Rücken mitgeführte Schießprügel zur Hand genommen und auf schwarze Scheiben geschossen, die bei dichtem Schneetreiben in der Ferne kaum auszumachen waren. Es wirkte alles so skurril und auf so rührende Weise altmodisch, dass es mich nicht überrascht hätte, wenn da noch mit Vorderladermusketen rumgeballert worden wäre.

Ein kurzes sonntägliches Zappen durch die Kanäle offenbarte es mal wieder: Gegen das, was heutzutage beim Biathlon abgeht, ist das Dortmunder Westfalenstadion an einem Heimspieltag geradezu eine Oase der Ruhe. Biathlon ist offenbar hip bzw. angesagt. Das bedeutet, es zieht ein junges, erlebnishungriges Publikum der werberelevanten Zielgruppe an. Das wiederum bedeutet, dass eben dieses Publikum es zu einer Jubel-, Kreisch- und Brüllhölle degeneriert hat. Und wenn mal zwischendurch zwei Sekunden Ruhe herrscht, dann bölkt ein eigens angemieteter Anheizer mit Mikrofon die Menge an, gefälligst mal etwas lauter zu sein.

Dieses Schicksal teilt Biathlon mit anderen Sportarten, wie etwa dem Skispringen. Dort stürzten sich bis in die Achtziger leichtgewichtige Bubis, von denen die meisten aussahen, als dürften sie noch nicht Auto fahren und die von dem, was sie da taten, nicht leben konnten, unter höflichem Applaus des Publikums halsbrecherisch steile Hänge hinunter. Bei der Vierschanzentournee wurde es mal lauter, weil zur Anfeuerung traditionell die landestypischen Kuhglocken geschwungen wurden. Die Sieger kamen normalerweise entweder aus der DDR und redeten Sächsisch oder aus Finnland und hatten ein Alkoholproblem. In den späten Neunzigern kamen wieder ein paar Deutsche zu Erfolgen und plötzlich erkannten werbetreibende Industrie und Veranstalterbranche, welches Vermarktungspotenzial dort begraben lag.

Dann kam RTL und kaufte die Übertragungsrechte, was alles noch schlimmer machte. Das Neujahrsskispringen in Garmisch, einstmals ein hervorragendes, auf der Couch liegend einzunehmendes Sedativum gegen den Neujahrskater, war zum Event hochgejazzt worden. Was so viel heißt wie: lang, laut, bunt und rummtata. Das Volk will schließlich was erleben. Mit einem schnöden Sportereignis ganz ohne Showblöcke, Feuerwerk und dicke Lautsprecher ist heute niemand mehr vom Sofa zu bewegen.

Etwas erleben, das heißt in diesen Zeiten: Krach schlagen und die Umwelt behelligen. Im Rudel, noch lieber in Massen. Denn der moderne Mensch hält es nicht aus mit sich selbst und leise kann er auch nicht. Sie nennen es: Party machen und Spaß haben. In der Praxis bedeutet das: Die Bierpulle im Anschlag irgendwas vollgrölen. Wenn kein Rudel da ist und die Lärmbolzen tatsächlich einmal allein sein müssen, zum Beispiel im Auto, dann ballern sie sich die Birnen mit dämlicher Bummsmusik voll.

Noch nicht einmal Kinos sind vor ihnen sicher. Musste man sich früher nur mit Quasselstrippen und Chipstütenraschlern herumärgern, hat man es jetzt auch noch mit Hunderten im Dunkeln aufleuchtenden Smartphone-Bildschirmen zu tun. Deren Besitzer, die zudem nicht in der Lage zu sein scheinen, die Teile wenigstens auf lautlos zu stellen, müssen schließlich ihre komplette Facebook-Knalldeppenliste über das weltbewegende Ereignis, gerade in einem Kino zu sitzen, auf dem Laufenden halten.

Auch den stillen November, den Monat des Totengedenkens, halten sie nicht aus. Das ist ihnen nicht zuzumuten. Allerheiligen ist bei vielen abgeschafft und durch Helloween ersetzt, einen weiteren Vorwand, geräuschvoll die Sau rauszulassen. Vielerorts haben die Kirchen ihren Widerstand, gegen die Eröffnung der Weihnachtsmärkte vor dem letzten Sonntag des Novembers, älteren Generationen als Totensonntag bekannt, resigniert aufgegeben. Weil auch Gastronomie und Einzelhandel hervorragend an den konsumfreudigen Partymachern verdienen, ließ sich eine so wenig gewinnbringende Tradition kaum noch halten.

Zurück zum Sport: Tennis zum Beispiel war mir immer unsympathisch. Nicht der Sport selbst - eigentlich habe ich eine Schwäche für Sportarten, bei denen es gilt, einen Ball möglichst kunstvoll über ein Netz zu befördern - sondern wegen der Leute, die es spielten. Tennis war zu meiner Jugend etwas für bornierte Oberschichtbälger und die Mitgliedschaft im Tennisclub hatte für deren Familien oft weniger was mit Sport zu tun, sondern es war in erster Linie ein Mittel, dem normal verdienenden Pöbel unmissverständlich klarzumachen, dass man es geschafft hatte.

Ab den Neunzigern begann das Profitennis den Tatbestand der Kindesmisshandlung zu streifen: Raffgierige Elternmonster drillten nach dem Vorbild osteuropäischer Kunstturn- und Eiskunstlauftrainer ihren Nachwuchs im Akkord zu hochgezüchteten Balldreschmaschinen, von denen die viele inzwischen verständlicherweise schwer einen an der Waffel haben. Eines aber ist mir beim Tennis immer sympathisch gewesen: Dass der Schiedsrichter ein zu ungebührlich sich benehmendes Publikum von Zeit zu Zeit zum Fressehalten auffordert.


Dieser Beitrag ist hier zuerst am 12.12.2011 erschienen, also ziemlich im Frühstadium der hiesigen Veranstaltung. Teile daraus fanden übrigens Eingang in Stefan Gärtners und Jürgen Roths Buch 'Benehmt Euch!'. Was mich damals sehr gefreut hat (und es immer noch tut).



11 Kommentare :

  1. Oh diese Brüllaffen am Nebentisch - Geißel der Menschheit!

    Mein schlimmstes Erlebnis, vor bestimmt 15 Jahren: mit Ursula Engelen-Kefer im Großraumabteil der Deutschen Bahn. Sie machte ihren Assistenten am Telefon zur Minna und sprach immer von Franz hier, Franz da (Münte) und das, obwohl wir in der Ruhezone waren - obwohl, gab es vor 15 Jahren schon eine Ruhezone? Wahrscheinlich nicht, aber danach bestimmt.

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    1. Erinnert mich daran, wie ich vor ein paar Jahren mal die zweifelhafte Ehre hatte, mit Wolfgang Bosbach die Räumlichkeit zu teilen. Der lieh sich aus unerfindlichen Gründen (vermutlich fürchtete er, sein Handy würde abgehört) das schnurlose Telefon des Hauses und brüllte damit 10 Minuten lang den kompletten Laden in Grund und Boden über den IS und den richtigen Umgang damit.

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    2. Meine Standartantwort in solchen Situationen: Man beugt sich lächelnd zu der Heulboje am Nebentische "Gnädige Frau - nehmen Sie doch das Telephon, dann müssen sie nicht so schreien!"

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  2. Ist euch schon mal aufgefallen, dass inzwischen fast jeder noch so kurze Bildbeitrag im TV mit Musik unterlegt wird? Deren Bandbreite ist groß, gerne werden auch Dialoge in Filmen mit Musik untermalt. Das trägt nicht zur besseren Verständlichkeit bei. Früher gab es Filmmusik, die Akzente setzte, heute nervt sie oft.

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  3. Für 17,24 Mio. Euro wurde in Garmisch die neue Olympiaskisprungschanze gebaut. Anteil der Gemeinde: 8,1 Mio. Nutzungsfrequenz: 1 x pro Jahr beim Neujahrsspringen im Rahmen der Vierschanzentournee.

    Gleichzeitig herrschen in Garmisch teilweise Tönnies-Verhältnisse:

    https://youtu.be/4EoZZHh8_N0?t=259

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    1. Es gibt schon etwas mehr Nutzung. Open Air-Events, Sommer- und Damenweltcup u.a. - lässt sich nur nicht so viel mit verdienen wie mit dem Neujahrsspringen. In AUT z.B. ist das Skisprungstadion an der Bergisel-Schanze das zweitgrößte Stadion des Landes nach dem Ernst-Happel-Stadion in Wien und dementsprechend ausgelastet. In Panisch-Gartenkirchen gibt es noch eine 'Erlebniswelt' auf dem Olympia-Gelände, die happig Eintritt kostet (12,00 EUR Erw./10,00 EUR erm.). Ob das alles kostendeckend ist, dürfte die Frage sein...

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    2. Siewurdengelesen18. August 2020 um 11:23

      Trifft das nicht auf zahlreiche Sportstätten sowie Gewerbegebiete und aus dem Boden gestampfte Malls zu?

      Erst werden Investoren und Baufirmen aka die "Betonmafia" bedient, dann die Ketten mit Zugeständnissen bei den Pachten geködert und nach geraumer Zeit veröden die Dinger wegen Baumängeln oder weil sie nicht ausgelastet sind. Sobald so ein Ding anfängt Geld zu kosten, sind die Grossen der Eingemieteten verschwunden und die Betreiberkonsortien pleite. Manchmal geschieht das bereits während des Baus und dann "überbrückt" die öffentliche Hand bereits da. Die Betriebskosten bleiben an den Kommunen, Ländern etcpp. hängen. Das darüber die Grundstückspreise und Mieten in den ohnehin überteuerten Gegenden getrieben werden, ist ein Effekt, welcher der Immobilienbranche sicher entgegen kommt.

      Ein prägnantes Beispiel der jüngeren Zeit ist der Pavillon des Landes Baden-Württemberg auf der Expo 2020. Dort möchte sich "die Wirtschaft" des Landes in bestem Licht zeigen und lässt sich das gut bezahlen. Denn anscheinend hat kein Wirtschaftsprüfer oder Anwalt vorher feststellen können, dass der Vertrag über die Finanzierung so konstruiert war, dass bei Änderungen oder Ausstieg das finanzielle Risiko beim Land liegt! Immerhin ist das Ding dann klimaneutral, was auch immer das heissen mag und noch "klimaneutraler" wäre der Verzicht gewesen.

      Speziell hohe Ausstiegskosten sind jetzt das Argument, um unabhängig von der Höhe der Folgekosten weiter zu machen. Ähnlichkeiten in der Argumentation und bei einem anderen sinnlosen und überteuerten Grossprojekt in der Landeshauptstadt sind dabei rein zufällig.

      Leider liegen die meisten Artikel hinter einer Bezahlschranke, aber die Titel sprechen m.E. bereits für sich.

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  4. @ quercus
    Dieses Phänomen macht es mir mittlerweile beinahe unmöglich Dokumentationen selbst unserer „Qualitätssender" anzuschauen, das pseudoemotionale Triggern via Soundtrack nervt nur noch. „Alles wird Muzak" wie Blixa es einst so schön formulierte.

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  5. Zum Stichwort »Tenniseltern & ungebührlich sich benehmendes Publikum«, da fällt einem freilich unweigerlich der unvergleichliche Gerhard Polt ► ein ;)

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  6. Zum Skispringen stelle ich mir immer mal wieder die Frage, wie dieser Sport überhaupt entstanden ist. Mir ist klar, dass es dazu Wikipedia-Artikel und wahrscheinlich auch mehrere Bücher geben wird, aber die Vorstellung, dass da irgendwann jemand mit seinen Skiern über eine Klippe gesprungen ist, meterweit flog und dann wie durch ein Wunder unten heil ankam um danach zu seinen Kumpels zu sagen: "Das war geil! Das probieren wir jetzt alle mal!" ist mir doch etwas sympathischer.

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