Samstag, 8. April 2023

Ad: Ostermärsche/Appelle


"Die alte Friedensbewegung ist moralisch bankrott. Zur Stelle war sie nur, wenn es um Kriege der USA und des Westens ging. Wo Putin intervenierte und bombte, schwieg sie -- sei es in Syrien, Tschetschenien, Georgien oder Libyen. Vieles ließ sie kalt. Nie nahm sie demokratische und emanzipatorische Stimmen in Osteuropa ernst. Nie interessierte sie sich für deren Einschätzung und Forderungen. Welch beschämende Nähe zur offiziellen deutschen Politik. Bis zum 23. Februar 2022 hielt sie Putins Kriegspläne für US-Propaganda. Ihr plattes, manichäisches Weltbild ist blamiert bis auf die Knochen. [...]

Die platte Rede vom guten Westen und dem bösen Rest der Welt verbietet sich. Aber dass man keine Angst haben muss, von einer Geheimpolizei in Folterkeller verschleppt oder von der Regierung vergiftet zu werden, ist von riesengroßem Wert für demokratische und emanzipatorische Bewegungen. Ohne demokratische Rechte und Freiheiten keine sozial-ökologische Transformation, kein Ausstieg aus dem Kapitalismus. Autoritäre hassen diese Freiheiten. [...]

Das Ende von Sanktionen gegen Russland und den Stopp von Waffenlieferungen an die Ukraine fordern, heißt das Putinregime unterstützen. Aber sein Sieg wäre eine globale Katastrophe für den Antifaschismus und emanzipatorische Bewegungen. Nicht auszudenken, welch (weiteren) Auftrieb die autoritären und faschistischen Sympathisanten und Seelenverwandten dieses Regimes auf der ganzen Welt erhielten." (Lothar Galow-Bergemann)


Natürlich, so könnte man ergänzen, verbietet sich auch plattes, schwarzweißes Gut-Böse-Denken. Die Ukraine ist so wenig ein paradiesisches Musterländchen wie Putin ein Monster ist. Man kann aber sehr wohl sagen, dass dieser Krieg systemisch ist. Die Ukraine ist momentan die Nahtstelle zwischen einem im wesentlichen liberalen Kapitalismus, der "neben freien Märkten auch an Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit glaubt" (Justus Cider) und einem autoritären Staatskapitalismus mit teils faschistoiden Zügen wie in Russland und China, "der sich vor allem durch eine Ablehnung (oder zumindest doch eine Aufweichung) von Menschenrechten, demokratischer Teilhabe und Rechtsstaatlichkeit auszeichnet." (ebd.)

Sicher, Kapitalismus mit allem, was dazugehört, herrscht in beiden Sphären. Ein:e jede:r beantworte aber für sich die Frage, in welcher sich's trotz allem noch angenehmer lebt. Wenn ich die Wahl habe zwischen einer liberalen Demokratie mit Fehlern, die ihrem selbst formulierten Anspruch längst nicht immer gerecht wird, und einem autoritären Regime, in dem Regierungskritiker ins Loch zu werfen kein Betriebsunfall, sondern Staatsräson ist, muss ich nicht lange überlegen. Dass hierzulande ein paar selbsternannte Querdenker und andere Flitzpiepen sich in eine Diktatur hineinhalluzinieren, spielt keine Rolle.

Jetzt haben ja ein paar prominente Sozialdemokraten einen weiteren Friedensappell vom Stapel gelassen, in dem unter anderem festgestellt wird, dass aus dem Krieg ein "blutiger Stellungskrieg geworden" sei, "bei dem es nur Verlierer" gebe. Soso. Irgendwas sagt mir, dass nicht wenige Ukrainer das ein wenig anders sehen könnten. Und man solle "zusammen mit Frankreich insbesondere Brasilien, China, Indien und Indonesien für eine Vermittlung [...] gewinnen, um schnell einen Waffenstillstand zu erreichen."

Und dann? Wer sagt erstens, dass die Ukraine und/oder Russland überhaupt zu einem Waffenstillstand bereit sind? Das wäre ja zumindest eine Voraussetzung. Und was kommt danach? Dann werden wohl wieder irgendwelche, nicht näher definierte 'Verhandlungen' ihr magisches Werk tun. Am besten welche, bei denen irgendwie 'beide Seiten aufeinander zugehen'. Warum sollte die Ukraine das tun? Wer sagt überdies, dass Russland den Waffenstillstand nicht nutzen wird, um neue Truppen aufzustellen und auszubilden, die Munitionsreserven aufzufüllen? Weil die Welt nun mal kein Ponyhof ist.

Und wieso man nun ausgerechnet mit China und Indien zwei in Sachen Russland absolut nicht neutrale Länder als Vermittler gewinnen soll, erfahren wir nicht. Aber wieso auch argumentieren, wenn man sich moralisch im Recht fühlt? Pardon, aber für solch einen verblasenen Quark sind Willy Brandt und Egon Bahr, deren Namen da fröhlich gefleddert werden, gewiss nicht gestorben.

"Einige Stimmen aus der deutschen Linken haben der Ukraine die Kapitulation nahegelegt. Das habe ich nirgends sonst gehört." (Paul Mason)

Noch einmal: Auch ich finde diesen Krieg schrecklich und wünsche mir weniges sehnlicher, als dass er möglichst schnell vorbei ist. Das wird aber nur der Fall sein, wenn der letzte russische Soldat das Territorium der Ukraine verlassen hat. Würde Russland auch nur einen Teilerfolg erringen, dann würde das nämlich nicht nur Putins bewaffnete Außenpolitik legitimieren, sondern gäbe auch, eingangs war die Rede davon, rechten Bewegungen, den Höckes, Trumps, Orbáns, Bolsonaros, Salvinis/Melonis, Le Pens dieser Welt nebst ihren Anhängern, als deren Spiritus rector sich Putin versteht und die er zum Teil mitfinanziert, gewaltigen Auftrieb. Der Preis für einen faulen Frieden könnte erheblich sein.

Es steht also mehr auf dem Spiel als das bloße Weiterbestehen der Ukraine oder ein paar Quadratkilometer Donbass. Als Antifaschist sollte man sich daher gut überlegen, was man sich wünscht. Schöne Feiertage.






10 Kommentare :

  1. "... wenn der letzte russische Soldat das Territorium der Ukraine verlassen hat."
    (für immer verlassen hat?)
    Willkommen in der neuen Weltordnung mit mächtigen Autokraten.

    Gruß
    Jens

    AntwortenLöschen
  2. Was macht eigentlich Ben Becker?

    AntwortenLöschen
  3. @Hüssy:
    Ben sitzt gerade in der Küche am Tisch und überlegt, ob wir was beim Asiamann oder beim Libanesen bestellen werden ...

    Gruß aus Berlin

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Eventuell sinniert er über Jewgeni Jewtuschenkos “Meinst du, die Russen wollen Krieg?”
      "Nicht nur fürs eig’ne Vaterland
      fiel der Soldat im Weltenbrand.
      Nein, daß auf Erden jedermann
      in Ruhe schlafen gehen kann."
      Dies war 1961 schon ein Hohn - 22 Jahre nach dem Hitler-Stalin-Pakt und dem darauf folgenden Angriff der Deutschen und der Russen auf Polen.

      Löschen
  4. @Hüssy: ne, das Sinnieren ist dieses Wochenende nicht unser Ding. Wir tunken erstmal ne Menge Falaffel in Joghurtsoße. Danach Verdauungsspaziergang ...

    Gruß aus Berlin

    AntwortenLöschen
  5. Siewurdengelesen11. April 2023 um 11:34

    Der Beitrag von Galow-Bergemann ist m.E. nicht sehr differenziert. Die "alte" Friedensbewegung ist wie so vieles keine homogene Masse. Das hat etwas mit der Herkunft aus der Zeit des kalten Krieges und dem Kern innerhalb der protestantischen Kirche zu tun, die sich beim Verweigern des Wehrdienstes mit der Waffe am Gebot "Du sollst nicht töten" ausrichtet. Das ist ein anderes Spektrum als die Szene der Querfront, die Schattensurfen betreibt und dabei rechtes Denken bemäntelt. Das viele Teile der Friedensbewegung durchaus Russland völlig richtig als die Verantwortlichen des jetzigen Kriegs definiert und damit auch als den Schlüssel zu einem Frieden, sieht man u.a. auf IMI.

    Natürlich steht diese jetzt mit dem Grundsatz "Ohne Waffen Frieden schaffen" mit heruntergelassenen Hosen da und die Argumente sind dünn, weil die Ukraine ohne militärische Hilfe keine Chance hat, ihre Souveränität gegen Russland durchzusetzen. Ein tatenloses Zusehen ist auch falsch, wenn die Menschen dieses Landes unschuldig massakriert werden. Mit rein ziviler Hilfe und passivem Widerstand ist dieser Krieg nicht zu gewinnen. So gesehen ist die Friedensbewegung in einer moralischen Klemme.

    Eine explizit linke Antwort auf dieses Dilemma gibt es ebensowenig, weil auch da viele Ansichten kursieren, die vom kleinen Frieden mit Verzicht auf die Krim, dem Verlust der Ukraine als eigener Staat bis zum völligen Abzug russischer Truppen von ukrainischem Gebiet reichen. Da spielt die Herkunft Ost/West eine große Rolle, die jeweils noch das sowjetische oder US-amerikanisch-westliche Erbe für das Argumentieren einsetzt - sei es bei den Bedenken vor einer atomaren Bedrohung durch Russland oder dem Begrüßen des westlichen Aufrüstens. Genauso sinnlos ist es, jeden Krieg und die eventuellen Toten gegeneinander aufzurechnen. Da muss jeder einzeln bewertet werden und angesichts der Umstände gehörten z.B. die Bushs auch vor ein Gericht, so wie das jetzt für den Kriegsverbrecher Putin gefordert wird - und schon haben wir wieder diesen verdammten whataboutism.

    Ein weiterer Punkt bleibt auf jeden Fall, dass unabhängig von der direkten Militärhilfe für den Krieg das darüber einsetzende Aufrüsten der hiesigen Militärblöcke auf lange Sicht nur weiteres Potential für Kriege schafft. Das hat der Autor völlig richtig erkannt. Jede existierende Waffe wird sehr wahrscheinlich irgendwann eingesetzt. Wie sich auch hier angesichts sozialer Spannungen die aufblühenden Autokratien entwickeln, ist offen. Der nächste failed-state könnte z.B. Frankreich dank der Rentenreform werden und ob die jetzt Protestierenden dann links wählen oder aus Frust eine Le Pen? Auf jeden Fall sitzen solche auch vom Autor erwähnten rechten Autokraten dann auf einer Menge an Waffen. Die konservativen Blöcke rufen jetzt bereits wieder nach einer Wehrpflicht und wie schnell grundgesetzlich zugesicherte Rechte ausgesetzt werden können bei "Bedarf"...

    Das nächste Problem dabei ist oft eine Ausschliesseritis, die jeden pauschal in die rechte oder Querfront-Ecke drängt, der Krieg und Waffen ablehnt, auch wenn die Grenzen da fliessend sind. Dieses oft notwendige Lagerdenken hat überwiegend in der stalinistischen Zeit bereits viel kaputt gemacht und war m.E. über die langen Linien ein Grund, warum der Sozialismus nach dem zweiten Weltkrieg keine Chance hatte. Es wurden zuviele Schwankende abgeschreckt und statt Kritik anzunehmen und zu reflektieren, wurde mit dem Hammer draufgekloppt.

    Solange die vorherrschende Gesellschaftsordnung Kapitalismus heisst, ist Krieg "business as usual" und nach Russland wird es weitere Staaten geben, die ihre inneren Konflikte nach aussen tragen. Das darf nicht davon abhalten, weiter gegen diesen Krieg und gegen Russland zu protestieren. Es darf aber auch nicht sein, dass deswegen das (bisherige) Vorgehen westlicher Staaten auf einmal kritiklos im Raum steht und Absolution erhält. Jeder Krieg ist einer zuviel und mit dem Leid der Menschen in den betroffenen Gebieten verbunden.

    AntwortenLöschen
  6. Siewurdengelesen11. April 2023 um 12:07

    Nachtrag:

    Gerade habe ich einen Artikel in der TAZ gefunden, der das Dilemma der Friedensbewegung sehr gut beschreibt. Das lässt sich auf andere Bereiche ganz gut übertragen.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Danke für die ausführlichen Ergänzungen. Der taz-Artikel ist wirklich gut, weil er zentrale Widersprüche und Probleme aufzeigt.
      Wenn es heißt: "Immer mehr Waffenlieferungen schaffen keinen Frieden und werden die Spirale der Gewalt nicht durchbrechen" -- dann würde ich ergänzen: Das sollen sie ja auch gar nicht. Die Waffenlieferungen sollen den Krieg beenden oder zumindest die russische Seite dazu bringen, in Verhandlungen einzutreten, die diesen Namen auch verdienen.
      Das ist nämlich mein Hauptproblem mit diversen Friedensinitiativen und -appellen: Gut gemeint ist nun einmal das Gegenteil von Gut. Wolkig irgendwelche 'Verhandlungen' und 'Friedensinitiativen' auf Regierungsebene fordern, ohne die leiseste Idee, wie die aussehen könnten, bringt gar nichts. Hat man sehr schön in den Jugoslawienkriegen gesehen. Da hat man sich jahrelang nen Wolf verhandelt und wurde von Gestalten wie Milošević et al. in einer Tour am Nasenring durch die Arena geschleift.
      Ferner müsste viel stärker diskutiert werden, inwieweit man als Friedensbewegung nicht auch Putin in die Karten spielt. Jede Demo, jeder Friedensaufruf, liefert Propagandafutter Marke: "Da sieht man's! Der Westen ist schwach und dekadent und will nicht kämpfen. Das hilft uns."
      Eine Möglichkeit für Friedensarbeit gäbe es: Sich mit russischen Dissidenten und Friedensaktivisten zu vernetzen und sie zu unterstützen. Nicht ganz einfach und nicht ganz ungefährlich. Könnte aber einen Unterschied machen.

      Löschen
    2. Siewurdengelesen12. April 2023 um 19:50

      Ich gehe davon aus, dass es verschiedene Initiativen gibt, die das sowohl in der Ukraine vor Ort machen und in sehr bescheidenem Ausmaß auch in Russland bzw. von ukrainischer Site weiss ich das sicher.

      Was da auf russischer Seite läuft wird sicher auch aus Gründen des Selbstschutzes nicht so publik gemacht. Darüber hinaus wird angesichts der repressiven Politik in Russland ein größerer Protest durch die Bevölkerung weitestgehend unterdrückt. Und durch den Krieg haben sich bis auf die zum Militär Eingezogenen die wirtschaftlichen Verhältnisse für die Masse nicht so verändert und ein gewisser Fatalismus und das sich in die Situation schicken ist auch russische Mentalität. Da muss m.E. noch viel passieren, bis aus den eher vereinzelt bekannt gewordenen Protesten etwas mit breiter Masse wird. Einige wird es auch gar nicht interessieren und die Mehrheit steht nach wie vor hinter der aktuellen russischen Politik, ob nun jetzt mit Druck oder nicht.

      Löschen

Mit dem Absenden eines Kommentars stimmen Sie der Speicherung Ihrer Daten zu. Zu statistischen Zwecken und um Missbrauch zu verhindern, speichert diese Webseite Name, E-Mail, Kommentar sowie IP-Adresse und Timestamp des Kommentars. Der Kommentar lässt sich später jederzeit wieder löschen. Näheres dazu ist unter 'Datenschutzerklärung' nachzulesen. Darüber hinaus gelten die Datenschutzbestimmungen von Google LLC.