Sonntag, 2. April 2023

Aufputz-Codes

 
Das Leben wäre zweifellos weitaus angenehmer, wenn mehr aus meinen Alterskohorten es fertigbrächten, sich mal ein wenig zu entspannen. Zu kapieren, dass vieles, über das sie sich empören, bloß alter Wein in neuen Schläuchen ist. Nehmen wir das mit der Kleidung. Die deutsche Knigge-Gesellschaft fordert nun ein Verbot von Jogginghosen auf Schulhöfen. Disclaimer: Aus Mode mache ich mir nichts, halte es aber für einen Fehler, das als Vorwand zu nehmen, sich nachlässig zu kleiden. Das Gegenteil ist korrekt: Gerade wer sich nichts aus Mode macht, tut gut daran, durch Kleidung weder positiv noch negativ irgendwie aufzufallen. So wird ein Schuh draus. Aber ich schweife ab.

Da ich ein großer Verfechter der Idee bin, dass es eine private und eine öffentliche Sphäre gibt, bin ich beim Thema Joggingpeitsche zu 100 Prozent Team Lagerfeld. Mag an Kindheitstraumata liegen. Da liefen nämlich nicht nur die Fred Fussbroichs dieser Welt in quietschbunter Ballonseide herum und im Umkreis von 500 Metern wurde die Milch sauer. Glauben Sie mir. Ich komme aus dem Ruhrgebiet. Ich habe Dinge gesehen, die Menschen nicht sehen sollten. Andererseits sollte man bedenken, so viel Selbstreflexion muss sein, dass auch die von mir routinemäßig getragenen Jeans noch vor wenigen Jahrzehnten nicht als in der Öffentlichkeit akzeptable Kleidung durchgingen.

Vor allem aber ist es einigermaßen sinnlos, sich über diesbezügliche Eskapaden von Jugendlichen aufzuregen. Das führt nur zum Paradox des Appells. Weil sie's dann erst recht versuchen werden. Grenzen austesten. Um Millimeter, um Gewebearten, Logogrößen etc. wird dann gefeilscht werden. Die Wahrscheinlichkeit, sich da als Lehrkörper, der solche Regelungen durchzusetzen hat, zum Gemüse zu machen, ist einigermaßen hoch. Nicht zufällig sind bislang alle Initiativen, Schüler:innen Bekleidungsvorschriften zu machen, sang- und klanglos im Sande verlaufen.

Ich erinnere mich noch an das Weltuntergangsgebrabbel zu meiner Schulzeit. Turnschuhe, wie Sneaker damals genannt wurden, führten angeblich zu Platt- und Schweißfüßen, die knallengen, damals schwer angesagten Atze-Schröder-Jeans zu Impotenz. Die Modeindustrie sei also im Begriff, eine Generation Zeugungsunfähiger mit Käsemauken und Haltungsschaden zu produzieren, so wurde geunkt. Gejuckt hat das keinen. Wer damals Schuluniformen nach britischem Vorbild gefordert hätte, wäre zunächst schallend ausgelacht worden und hätte dann eine Bürgerinitiative (Vorläufer des Shitstorms im Altertum) am Hals gehabt. Heute finde ich Schuluniformen, solange sie nicht militärisch daherkommen, gar nicht mal so unclever.

Wo wir gerade beim Thema Aufputz sind: Letztens war ja dieser Herr Windsor nebst Gattin zur Staatsvisite anwesend und da wurde auch, wie sich's geziemt, ein Staatsbankett gegeben, bei dem Frackzwang herrschte. Und da war auch dieser Herr Kampino zugegen. Das ist der milde Geselle von dieser Krawallkapelle aus der Stadt am Rhein, wo man altes Bier trinkt. Und alle so: Kuck mal der da! Will ein Punk sein und läuft im Frack rum, hihihi.


Nun ist der protokollarische Dresscode einer der letzten wirklich verbindlichen. Härter als die härteste Tür des angesagtesten Clubs. In den kann man sich vielleicht noch per Gästeliste oder anderen Tricks auch mit falschen Tretern noch reinmogeln. Wenn es aber irgendwo heißt Frackzwang bzw. White tie, dann bedeutet das: Frack mit weißer Weste und Fliege für die Herren, langes Abendkleid für die Damen. Gnadenlos. Voll Cis-gender. Keine Ausnahmen, keine Diskussion. Wer keinen Frack hat, muss sich einen leihen oder bleibt draußen. Für Damen gilt bei solchen Anlässen jenseits von Tanzveranstaltungen: Schulterfrei ist too much.

Für den Herrn Kampino gab es also nur die Alternativen: Frack oder nix Staatsbankett. Aber er wäre kein Punk, wenn ihm nicht auch da was Pfiffiges eingefallen wäre. Er hat zum Frack ganz frech einfach keine Lackschuhe getragen, der kleine Rebell.








7 Kommentare :

  1. "... quietschbunter Ballonseide ... Ich komme aus dem Ruhrgebiet. Ich habe Dinge gesehen, die Menschen nicht sehen sollten ..."
    Yepp — war ´ne schlimme, harte Zeit.

    Gruß
    Jens

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  2. I've seen things you people wouldn't believe... Attack ships on fire off the shoulder of Orion, Jogginghosen in Recklinghausen ... I watched C-beams glitter in the dark near the Tannhäuser Gate. All those moments will be lost in time, like tears in rain... Time to die.

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    1. DasKleineTeilchen3. April 2023 um 13:46

      ui, oppa erzählt vom grossen krich anno 2019...replikanten-clowns mit ballonhose und langer nase kichern in einer ecke des zerfallenen bradbury...no more jf sebastian, no more bonetti.

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  3. Zum Frack Lackschuhe, aber keine Socken getragen: das wäre Punk Alive gewesen.

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    1. Wäre gewesen. Campino habe ich zuletzt so um 1986 als Punk wahrgenommen, als er nachm Konzert im Müll- und Lärm-Institut meine Freundin anbaggerte. Immerhin wusste er damals noch, woher der Bandname kommt.

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  4. OT: Als rechts in der Spalte "Guck & Hör" noch die Drummerin Sina aufgeführt war, kannte ich bereits alle Coverstücke von ihr. Sehr talentiert die Frau und vor allen Dingen präzise und konzentriert. Beispiel: "In a Gaddadavida". Übertroffen wird sie jedoch von einer jungen japanischen Frau, auf die ich durch Zufall aufmerksam wurde und die als weltweit beste Teendrummerin bezeichnet wird.
    JUNNA: https://www.youtube.com/watch?v=UKr1H4Jv6is

    Ich glaube, so etwas kann man nicht lernen.

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    1. Wenn man auf 'alle anzeigen' klickt, ist Sina nach wie vor zu finden.

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