Donnerstag, 19. Juni 2025

Überreguliert?


Die zehn Gebote sind deshalb so kurz und logisch, weil sie ohne Mitwirkung von Juristen zustande gekommen sind." (Charles de Gaulle)


In das allfällige Gejammer über die so überbordende wie krakenhafte Bürokratie, die dieses Land angeblich im Würgegriff hält, habe ich nie recht einstimmen wollen. Zum einen weil ich mich gewissen Leuten aus Gründen meiner eigenen politischen Hygiene einfach nicht gemein machen will. Zum Beispiel mit jenen, die hysterisch über einen 'Deep State' ramentern und die unreiferweise nicht anders können, als jegliche Regelung, die ihnen erstmal irgendwie doof kommt, grundsätzlich als persönlich gemeinte Beschneidung ihrer persönlichen Freiheit zu missverstehen. 

Zweitens lernt man die behäbige deutsche Bürokratie durchaus zu schätzen, wenn man längere Zeit im Ausland gelebt hat bzw, Leute kennt, die im Ausland leben bzw. gelebt haben. Ein Freund von mir, der in den Neunzigern ein paar Jahre in Rom studierte, sagte mal, es sei vielleicht als Tourist mal ganz witzig, im Alltag hingegen nicht eben ein Spaß, sich mit einer dysfunktionalen, korrupten Verwaltung herumschlagen zu müssen, in der sich nur gegen Bakschisch irgendwas bewege. Seine Sehnsucht nach deutschen Amtsstuben, die zwar tranig sein mochten, dafür aber auch ohne Trinkgeld funktionierten, sei in dieser Zeit spürbar gewachsen, meinte er.

Ausufernde Bürokratie: kein neues und wohl auch kein ausschließlich deutsches Problem...


(Video im erweiterten Datenschutzmodus. Anklicken generiert keine Cookies.)


Meist wird beim Meckern über Bürokratie auch nicht unterscheiden zwischen Verwaltung und Regulierung und beides wird über einen Kamm geschoren. Richtig ist, dass Verwaltung in Deutschland oft noch behäbig und analog ist und es da viel zu verbessern gibt. Und wiewohl auch in Puncto Management noch etliches zu tun bleibt, ist es nicht die Schuld der Mitarbeiter:innen, wenn sie schlecht gemachte, teils abstruse Gesetze umsetzen müssen. (Dass Privatisierung allein, die mileisch-musksche Kettensäge, auch keine Lösung ist, zeigt das Beispiel Deutsche Bahn.) Aber auch beim Vorwurf der Regulierungswut ist Differenzierung geboten. Der Beispiele für Regelungen, die zunächst auf Widerstand stießen, dann aber spürbare Verbesserungen brachten und nach einigen Jahren so weit akzeptiert waren, dass sich viele fragten, wie man das jemals anders hatte handhaben können, sind nicht eben wenige. 

Viele Regelungen, die zwar massiv in das Leben vieler Menschen eingriffen, sich aber letztlich als sinn- und segensreich erwiesen, betrafen den Straßenverkehr. 1970 war in Deutschland ein trauriger Rekord erreicht: Fast 20.000 Menschen kamen im Straßenverkehr bei Unfällen ums Leben. Es folgte eine Reihe von Vorschriften und Regulierungen: Tempolimits, Gurtpflicht, Promillegrenzen und weitere Schutzmaßnahmen. Dazu flankierende Maßnahmen wie Ausbau des Schülerlotsenwesens, kostenlose Warnkleidung für Kinder, Verkehrserziehung etc. Der Erfolg ist messbar: Ende der 1980er hatte sich die Zahl der Todesopfer mehr als halbiert. Seither wurden 30er-Zonen und verkehrsberuhigte Zonen ausgebaut, Tempolimits ausgeweitet, es gibt mehr Blitzer und Radarkontrollen. Ergebnis: Für 2024 wurden gerade noch etwas mehr als 2.700 Verkehrstote registriert.

Dieser Rückblick ist auch insofern interessant, wenn man sich die Debatten zu diesen Maßnahmen ansieht. Da hat man zuweilen Déjà-vu-Erlebnisse. Alles schon vor 50 Jahren mal dagewesen. Und schon damals waren bezahlte Aktivisten sich für keinen Quatsch zu schade: Eingriff in die persönliche Freiheit! Ein jeder kann doch schließlich selbst am besten entscheiden! Ein echter deutscher Herrenfahrer hat sein Gefährt jederzeit im Griff, der braucht keine Geschwindigkeitsbegrenzung! Frei Fahrt für freie Bürger! Sehr schön auch der Einwand, Sicherheitsgurte würden weibliche Brüste in Unfallfall über die Maßen quetschen (ein beim Aufprall aufs Armaturenbrett zertrümmerter Schädel galt wohl als zu vernachlässigen). Aber auch der ärgste Bleifuß wird vielleicht ins Grübeln gekommen sein bei dem Gedanken, dass auch sein Kind irgendwann tot unter einem Auto liegen könnte. 

Ja, auch ich muss gestehen, zuweilen genervt davon zu sein, dass in immer mehr Straßen Tempo 30 herrscht und ich finde es lästig, wenn ich geblitzt werde. Andererseits bin ich aber sicher, dass in, sagen wir, zehn Jahren, kaum noch jemand ein Problem damit haben und man sich fragen wird, wieso alle damals so rasen mussten.

Man kann noch die schrittweise Durchsetzung immer weiter gehender Rauchverbote im öffentlichen Raum erwähnen. Auch da waren viele zunächst empört über diesen Eingriff in ihre persönliche Freiheit. Andererseits hatten die Rauchgegner:innen gute, wissenschaftlich fundierte Argumente bei der Hand, Nichtraucher:innen davor zu schützen, überall vollgequalmt zu werden. Wer einst damit aufgewachsen ist, es für völlig normal zu halten, wenn rauchende Eltern ihre Kinder im Auto vollquarzen, konnte sich kaum vorstellen, dass es jemals Kneipen geben geben würde, in denen die Luft nicht zum Schneiden ist, ja, dass das überhaupt funktioniert. Stellt sich raus: tut es. 

Oder wie man Hersteller von Getränkedosen in den Achtzigern verdonnert hat, die Dinger so zu konstruieren, dass die Lasche zum Öffnen sich nicht mehr abreißen lässt. Das hat nicht nur die Umweltbelastung reduziert (wir haben uns als Schüler noch ein paar Mark damit verdient, die überall rumliegenden Blechfitzel zu sammeln und abzugeben, war aber nicht eben lukrativ), sondern auch die Recyclingquote deutlich erhöht. Ob das im Fall der Tethered Caps auch so sein wird, harrt wohl noch der Evaluation. Aber wenn, dann soll auch das mir recht sein. 

Es sollte klar geworden sein, dass ich durchaus bereit bin, Bürokratie in Schutz zu nehmen gegen doofe Pauschalvorwürfe und kleinliches Gemopper. Und Regulierungen bin ich ganz kantianisch bereit hinzunehmen, wenn sie einen nachweisbaren Nutzen für alle bringen und die Einschränkungen andererseits sich im Rahmen bewegen. Was ist das Freiheitsbedürfnis einiger Petrolheads im Verhältnis zu knapp 90 Prozent weniger Toten im Straßenverkehr? 

Nur kommt es mir in letzter Zeit vor, als ginge es längst nicht mehr nur darum, sinnvolle Regeln zu finden für reale Probleme, um diese einzudämmen, wenn nicht zu beheben, sondern immer öfter darum, für jeden erdenklichen Eventualfall des Lebens gewappnet zu sein, jedes gedachte Problem irgendwie verhüten zu wollen, das sich theoretisch mal auftun könnte. Und das bringt dann auch mich irgendwann an Grenzen.

Letztens etwa hatte ich ungebetenen Besuch im Hause. Ameisen. Kommt schon mal vor, so was, kein großes Ding. Eine Köderdose aus dem Drogeriemarkt strategisch im Raum platziert und die Sache ist normalerweise nach einiger Zeit erledigt. Gab aber keine Köderdosen im Drogeriemarkt. Na ja, sind wohl gerade ausverkauft, die Dinger, dachte ich, nichts Böses ahnend. Bei nächster Gelegenheit kurz in einen Baumarkt, der gerade am Wege lag. Auskunft der freundlichen Verkaufsfachkraft: "Ja, haben wir da, aber leider ist die Kollegin mit dem Giftschein, die das verkaufen darf, erst morgen um zwölf wieder im Haus." Na bumm! 

Hintergrund: "Mit dem Inkrafttreten der Paragraphen 10-13 der Biozidrechts-Durchführungsverordnung (ChemBiozidDV) zum 1. Januar 2025 sind Köderdosen mit Fraßgiften wie Spinosad oder Imidacloprid nicht mehr in Selbstbedienung erhältlich, sondern erst nach einem Aufklärungsgespräch durch eine sachkundige Person." (Wikipedia) Man braucht also einen eigenen Sachkundenachweis, um Ameisenköder zu verkaufen, die übrigens auch nicht mehr im SB-Bereich feilgeboten werden dürfen. 

Gut, die Dinger enthalten ein Insektizid, das man nicht essen sollte. Und ich würde die Regelung sogar begrüßen, wenn es bereits zahlreiche Zwischenfälle gegeben hätte. Also wenn zum Beispiel schon massig neugierige Kinder die Döschen geknackt, vom Inhalt genascht hätten und in der Notaufnahme gelandet wären zwecks Magen auspumpen oder schlimmerem. Oder jede Menge Hunde die Dinger zerkaut hätten und dabei zu Schaden gekommen wären. Ich will das nicht ausschließen, glaube aber nicht, dass es sich dabei um einen Missstand handelt, zu dessen Abhülfe Ministerien bis hin zur EU in Marsch gesetzt werden müssen. 

Oder anders gesagt: Ich könnte das ganze Bohei verstehen, wenn diese neue Verordnung tatsächlich dazu angetan wäre, solche Unfälle fürderhin wirkungsvoll zu verhüten. Was aber bewirkt sie? Sie bewirkt, dass eine entsprechend geschulte Verkaufskraft darauf hinweisen muss, dass das erworben zu werden im Begriff befindliche Produkt ein Gift enthält, es nicht für den menschlichen Verzehr bestimmt ist und man bitte die verdammte Gebrauchsanweisung lesen soll. Und weil die Dinger weiterhin frei verkäuflich sind und damit auch in Zukunft irgendwie zu Hause herumliegen werden, wird dass dann genau was verhindern? Dass man den Händler nicht mehr verklagen kann bzw. dass man mit einer Klage scheitert, wenn er nachweisen kann, sich an die ChemBiozidDV gehalten zu haben, würde ich sagen.

Außer Juristen freuen sich sicher auch jene, die ihr Geld damit verdienen, entsprechende Schulungen anzubieten und Zertifikate auszustellen. Auch diese Industrie will schließlich leben. Weitere Nutzen sind mir direkt nicht ersichtlich. 







3 Kommentare :

  1. Online-Schulungen, die ich zuletzt absolvieren musste, weil irgendwelche Bürokraten sich das ausgedacht haben (bzw. weil irgendwelche Bürokraten Unternehmen verpflichten, ihre Mitarbeiter über alle möglichen Risiken aufzuklären, sonst droht Haftung): eine Art Führerscheinprüfung light, weil ich nen Dienstwagen fahre, und einmal im Jahr nachweisen muss, das mir klar ist, was man da alles falsch machen kann; und gemäß EU AI Act eine Aufklärung über die vielen bösen Risiken von Künstlicher Intelligenz. Es ist wie du schreibst: Irgendwelche Bürokraten denken sich das aus und irgendwelche Schulungsfirmen verdienen sich eine goldene Nase, weil die Unternehmen den ganzen Aufklärungskram an sie auslagern.

    AntwortenLöschen
  2. "Weitere Nutzen sind mir direkt nicht ersichtlich"
    rtDer Forist unterschlägt hier leider (unabsichtlich?) die zunehmende Verblödung der "breiten Masse".
    ... 1965 wurde in der Auto-Betriebsanleitung erklärt, wie man die Batterie auflädt. 2025 erklärt man dem Autobesitzer, dass er die Batteriesäure nicht trinken soll ... und auf dem weitwinkeligen Teil des Rückspiegels steht eingeätzt der Hinweis "Objects in the mirror are closer than they appear"
    Gruß, Jens

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Ich glaube, das hat eher damit zu tun, dass Autos inzwischen für den Weltmarkt hergestellt werden und man sich z.B. auf die teils absurde Produkthaftung in den USA ("Achtung, keine Kleintiere in der Mikrowelle trocknen!") einstellen muss.

      Löschen

Mit dem Absenden eines Kommentars stimmen Sie der Speicherung Ihrer Daten zu. Zu statistischen Zwecken und um Missbrauch zu verhindern, speichert diese Webseite Name, E-Mail, Kommentar sowie IP-Adresse und Timestamp des Kommentars. Der Kommentar lässt sich später jederzeit wieder löschen. Näheres dazu ist unter 'Datenschutzerklärung' nachzulesen. Darüber hinaus gelten die Datenschutzbestimmungen von Google LLC.