Es gibt die nicht uncharmante Hypothese, dass es im Mainstream-Kino mittlerweile deswegen so züchtig, ja prüde zugeht, weil die filmische Darstellung sexueller Akte weitgehend an die Pornoindustrie ausgelagert worden sei, deren Hervorbringungen dank Netz inzwischen quasi frei für alle verfügbar seien. Analog könnte man sagen, in dieser Gesellschaft sei noch nie so wenig gestritten worden, seitdem handfeste Konflikte überwiegend in 'sozialen' Netzwerken stattfinden. Und so wie Pornografie nur am Rande mit Erotik zu tun hat, wird auch bei X (ex Twitter) et al. nicht wirklich gestritten im Sinne von: möge das bessere Argument gewinnen, sondern vor allem gehetzt, gepöbelt und beleidigt.
Eine bleierne Streitunlust liegt inzwischen über allem. Zwar wird auf allen Kanälen getalkt und gesabbelt und sich in coram publico in die Wolle gekriegt, dass es nur so eine Art ist, doch wirklich streiten zu wollen scheint sich, von Ausnahmen abgesehen, kaum jemand mehr. Weil das anstrengend ist und vor allem sinnlos. Man kann zum Beispiel nicht mit Aktivisten streiten, geschweige denn diskutieren, weil die nicht im Traum daran denken, dass sie vielleicht falsch liegen könnten. Es ist auch keine Debatte möglich mit welchen, die sofort persönlich beleidigt sind, auf verletzte Gefühle plädieren und über Unterdrückung und Machtmissbrauch klagen, wenn sie auf Gegenrede stoßen. Denn darum vor allem geht es: Nicht mit Argumenten überzeugen, sondern jeden echten Streit zu umgehen bzw. im Keim zu ersticken.
Interessanterweise hausen die schlimmsten Heulsusen inzwischen im konservativen bis rechten Lager. Womit sie sich durchaus treffen mit den von ihnen gern bekämpften woken Streiter:innen, die Safe spaces einfordern. Schien einst in panzerartigen grauen Anzügen steckenden Konservativen und Rechten das Wort 'HÄRTE!' auf der Stirn zu prangen und mochten sie Maximen verkörpern wie die, dass ein echter Mann nicht weine (außer bei der Nationalhymne), Gefühle zeigen Weiberkram sei und ein Indianer keinen Schmerz kenne, wähnt man sich heute in einer Selbsthilfegruppe für Hochsensible. Andauernd werden sie, schluchz, böswillig missverstanden, verleumdet, mundtot gemacht und beleidigt, buhu! Opferrolle rückwärts. Jüngster Höhepunkt: Jens Spahn wirft den Grünen AfD-Methoden vor, weil die ihm seine Ausflüchte in der Masken-Affäre nicht abkaufen mögen. (Fürs Protokoll: Er meint jene AfD, von der er selbst noch vor kurzem sagte, sie sei eine ganz normale Partei.)
Noch schlimmer ist diese windelweiche Streitvermeidung, das Wegducken, der an Feigheit grenzende Unwille, klar Position zu beziehen, wie ich es immer öfter bei politisch bzw. administrativ Verantwortlichen zu beobachten meine. Leuten, die Verantwortung tragen und zu deren Job es gehört, nötigenfalls Regeln durchzusetzen.
Man kann sich einreden, ängstliches Vermeiden jeglicher klaren Kante, wie es auch Angela Merkel und Olaf Scholz zusammen fast zwanzig Jahre lang vorgeturnt haben, trüge dazu bei, die Gesellschaft zu befrieden. Tut es aber nicht. (Den parallelen Aufstieg der AfD kann man auch als Reaktion auf den Regierungsstil von Merkel und Scholz begreifen.) Wer nur laut genug und ausdauernd genug Zeter und Mordio schreit, findet immer irgendwo jemanden, der brühwarm "Butschi butschi!" sagt. Und das ist fatal. Jedes verbindlich-diplomatische Ausweichen bestärkt sie nur. Immer werden sie einem einreden, tolerant zu sein bedeute, gefälligst jeden Quatsch mitzumachen. Nein, tut es nicht. Glaubt irgendjemand, einen jener Schüler, die an der Berliner Carl-Bolle-Grundschule einen schwulen Lehrer bedroht und letztlich weggemobbt haben, hätte die rückgratlose, schmusige Nicht-Performance der Schulleitung und der Schulaufsicht irgendwie beeindruckt? Hand hoch bitte!
Es hätte hier genau eine angemessene Reaktion gegeben. Dem betreffenden Lehrer öffentlich die volle Unterstützung des Kollegiums und der Schulleitung aussprechen und den Familien der betreffenden Schüler:innen mitteilen, dass diese Schule dann wohl leider der falsche Ort für ihre Kinder sei, wenn sie ein echtes Problem mit einem homophilen Lehrer hätten. Den folgenden Aufschrei hätte man aushalten müssen.
(Natürlich dürfte es dabei nicht bleiben. Nachdem das geklärt wäre, müsste selbstverständlich Ursachenforschung betrieben und über geeignete Maßnahmen beraten werden. Man darf durchaus vermuten, dass Gründe auch strukturell bedingt, unter anderem bei Unterfinanzierung und Ignoranz der Schulverwaltung zu suchen sind. Das Beispiel Rütli-Schule hat ja gezeigt, dass man derlei Probleme in den Griff bekommen kann, die Konzepte sind da. Kostet halt nur.)
Und das ist nur ein Beispiel von vielen.
"Die andre Wange jesusmäßig hinhalten / ist Quatsch mit Soße
In seine Feinde soll man Löcher machen / und zwar große." (Wiglaf Droste)
Der Klügere gäbe nach, bekommen viele als Kind beigebogen. Die Einsicht, dass wenn die Klügeren immer nachgäben, am Ende die Dummen die Herrschaft übernehmen, braucht dann leider länger. Nein, wer es immer nur vermeidet, sich mit Dummen, Rohen und Gemeinen auch mal anzulegen und Fanatikern entschieden entgegenzutreten, macht sich bloß zu deren Büttel und es trifft am Ende immer die Falschen.
Zum Beispiel Maxim Biller. Der ist, wie Ulf Poschardt, dem hier ausnahmsweise zuzustimmen ist, richtigerweise meint, "wohl der einzige jüdische Schriftsteller im deutschen Sprachraum, der sich weigert, Dinge schönzureden". Und das passt vielen nicht. Darunter durchaus welchen, die sonst bei Canapés und Weißwein nicht müde werden, 'unbequeme Stimmen' zu feiern. Angesichts seiner Kolumne 'Morbus Israel' bekam man wohl kalte Füße in der ZEIT-Redaktion und man entschied den Beitrag, der bereits in der Druckausgabe erschienen war und im Netz selbstverständlich noch zu lesen ist, wie es heißt, zu "depublizieren" (was für ein Wort!). Der Erfolg so weit? Aufmerksamkeit vervielfacht. Kompliment! Sollte es in der Gegend um Ohlsdorf und Friesenhagen in letzter Zeit vermehrt zu Bodenerschütterungen gekommen sein, dann weil Helmut Schmidt und Marion Dönhoff gewaltig in ihren Gräbern rotierten.
Es hätte auch hier exakt eine angemessene Reaktion gegeben: Den Text wieder republizieren, sich für die unbedachte Löschaktion beim Autor und den Leser:innen entschuldigen und offenlegen, wie es zu dieser fatalen Entscheidung kommen konnte. Aber dafür braucht's, leider, leider: Rückgrat.
Weil Dinge, die man nicht lesen soll, immer doppelt interessant sind, habe ich die Kolumne, logo, gelesen. Sie ist, bei Biller nicht wirklich eine Überraschung, scharf formuliert, auf Kontroverse gebürstet und man muss gewiss nicht zustimmen. Vor allem den Satz von der "strategisch richtigen, aber unmenschlichen Hungerblockade" kann man mit Gründen brutal finden. Andererseits bringt dieser Satz ziemlich genau und in wenigen Worten die fiese Tatsache auf den Punkt, dass man in der Politik zuweilen eben nicht die Wahl hat zwischen einer falschen und einer richtigen Entscheidung, sondern nur zwischen mehreren schlechten und man absolut nicht weiß, welche am Ende die am wenigsten schlechte ist. Menschen, die ein Faible haben für moralisches Schwarzweiß hassen solche Gedanken.
Auch sonst ist da nichts, was einen solch absurden Akt der Selbstzensur rechtfertigen würde, im Gegenteil. Allenfalls, dass es -- O Schreck und Graus! -- tatsächlich Streit geben könnte. Zumal, und hier wird es richtig fies, der Beitrag von der Redaktion eines Blattes "depubliziert" wurde, die sich ansonsten sehr wohl traut, heiße Eisen anzupacken. Etwa wenn es um Geflüchtete geht. 2018 erschien zum Beispiel ein Pro und Contra zu der Frage, ob man Seenotrettung nicht lieber bleiben lassen solle, was darauf hinausliefe, dass übers Meer Flüchtende vermehrt ertrinken würden. Den Shitstorm entschied man durchzustehen. Kann man sich seine Gedanken zu machen.
... der Kommentar von Herrn Biller wurde von mir und 3 weiteren linken Ü-60 Zauseln als scharfe (so im herzhaften Pepperoniebereich, die Sorte, die man auch roh ohne weiteres verzehren kann) Satire bewertet.
AntwortenLöschenAber wie der Forist ganz richtig schrub: Hach, die eigenen Gefühle und Befindlichkeiten. Schlimm schlimm das alles.
Ich empfehle also den "Tief Betroffenen" die Wolfgang Pohrt Biografie von Klaus Bittermann. Da steht alles schon drin.
(696 Seiten, 36 Euro, ISBN 978-3-89320-284-3)
Gute Besserung, Jens
Jaja, immer "Verantwortung übernehmen" und "verantwortlich Handeln" skandieren, aber gleichzeitig permamrnt jegliche Schuld zurückweisen und immer nur auf andere verweisen.
AntwortenLöschenEs gibt da einige Unionler, die unter "Verantwortung" nur Machtausübung, nie aber die Konsequenzen ihres Handelns verstehen.
Ob die larmoyanten Arschlöcher von der AfD die größeren Heulsusen sind als z.B. die Anzeigenhauptmeister*innen von den Grünen, das fragt sich noch. Die Leute, die die ZEIT verantworten und machen, sind - Ausnahmen bestätigen die Regel - ebenfalls Arschlöcher, wenn auch in Teilen wenigstens nebensatzfähig und meist anders sozialisiert als das rechte Gesindel. Das war übrigens auch schon so, als der räuchermännliche Ex-Leningradbelagerer, preußische Sekundärtugendbold und "vorbildliche Nationalsozialist" (Vorgesetzten-Beurteilung zur EK-Verleihung) und die hochfeine Frau Gräfin noch husteten bzw. atmeten. Und die pseudojüdische Witzischkeit von Maxim Biller ist fast noch schwerer zu ertragen als der arische Kleinbürgerhumor von D. Nuhr.
AntwortenLöschenUnd nein, ich mag nicht mit Arschlöchern streiten, das ist so anstrengend wie sinnlos. Ich weiß, wovon ich rede, ich bin nämlich gelegentlich selbst gern eins. Und wenn Arschlöcher Arschlöcher Arschlöcher nennen, dann ist das zweierlei: die Regel und langweilig. Ich tu's, wie man sieht, gelegentlich trotzdem.
Genau. Alles Arschlöcher. Meine Güte...
LöschenMeine auch. Aber wie weit kommt man heutzutage noch mit Güte ...
LöschenPS.
Wenn ich wütend bin, dann neige ich zu Pauschalisierungen, bitte um Nachsicht.
PS.
AntwortenLöschenNur eins noch, einfach weil ich jede Form der Heldenverehrung für den unverdient langlebigen Hamburger Kettenraucher nach wie vor abstoßend finde: Was unterscheidet eigentlich einen Wehrmachtsoffizier, der als Mitbelagerer von Leningrad für den qualvollen Tod von einer Million Menschen mitverantwortlich war, von einem SS-Mann, der ein Vernichtungslager bewachte? Die Reue danach? Die gab es allerdings nicht, jedenfalls hat der Herr Schmidt sie nie öffentlich kundgetan, soweit ich weiß. Aber vielleicht hat er sein EK II ja weggeschmissen, als sein damaliger Arbeitgeber am 8. Mai offiziell Pleite ging.
... nette Idee: analog zu den Nürnberger Urteilen für Höss und Konsorten alle Wehrmachtsangehörige unisono aufhängen.
LöschenGruß Jens
Analog passt hier nicht, unisono ist leider auch leicht daneben. Rudolf Höß wurde in Nürnberg lediglich als Zeuge vernommen, dann der polnischen Justiz überstellt, in Warschau zum Tode verurteilt und in Auschwitz gehängt.
Löschen... tot ist tot. Da sind die Details nebensächlich für den Betroffenen.
AntwortenLöschenGruß Jens
Details sind fast nie nebensächlich, denn in ihnen steckt fast immer der Teufel. So gestaltete sich das Aufhängen aller Wehrmachtsangehörigen schon allein deshalb recht schwierig, weil ein nicht unbedeutender Prozentsatz von ihnen inzwischen das Zeitliche gesegnet hat.
AntwortenLöschenJedemfalls find ich es nicht nebensächlich, dass wenigstens ein paar der Mördern in Uniform an den Galgen kamen, und dass die meisten von ihnen eher weniger als mehr bzw. gar nicht von irgendeiner Justiz oder Exekutive behelligt und oft in Frieden alt wurden, find ich zum Kotzen. Aber das finden Sie vermutlich auch.
"find ich zum Kotzen. Aber das finden Sie vermutlich auch"
LöschenJa — Stichwort "Adenauer / Globke" = widerwärtig …
Mit freundlichen Grüßen
Ach, wenns nur der vielfach ausgezeichnete Verwaltungsjurist Dr. Globke ( z.B. Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse 1942, Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland 1963) gewesen wäre ... aber der war ja bloß eine der Spitzen des braunen Scheißbergs. Es waren Abertausende Nazitäter und Mitläufer, die u.a. in Verwaltung, Universitäten, Justiz, Exekutive und Politik etc. sorglos weitermachen konnten. Es sollte auch nicht vergessen werden, dass diese Leute die nachfolgenden Generationen "erzogen" oder doch immerhin beeinflusst haben. Im "SED-Unrechtsstaat" bzw. der "Zoffjetzone" (Adenauer) durften übrigens auch ein paar Nazis weitermachen, aber deren Zahl war sehr viel überschaubarer als in der wirtschaftswunderbaren BRD.
LöschenLiegt vielleicht daran, dass es keine Streitkultur in diesem Sinne mehr gibt, bei der das bessere Argument den Ausgang entscheidet. In den SM und bei Talkshows ist das sowieso nicht der Fall, sondern da geht es wahlweise nur darum, notfalls auch sachlich Falsches als "Meinung" darzustellen und lediglich am Ende der Lautere oder Letzte zu sein. Im TV geht´s halt um Quote, Fassade und den Spiele-Teil von Brot und Spielen.
AntwortenLöschenIn Medien wie besagter Zeitschrift ist Quote auch wichtig und da ist man vermutlich mit dem Anecken durch kritische Kommentare eher zurückhaltend frei nach dem Vogel-Strauß-Prinzip, nicht das sich eine wichtige Klientel angepisst fühlt und das Abo kündigt oder so - wer weiss da schon, was die Gedankengänge der Redaktion war beim Zurückholen des Beitrags. Sicher haben die da recht schnell Liebesbriefe bekommen Wenn es so genannt werden kann, ist der Bereich Israel/Juden gerade aus deutscher Sicht eben auch ein dünner Grat, wo die Grenzen zwischen Kritik und Antisemitismus schnell überschritten werden und solche Beiträge wie die Billers werden da nur zu gern als Feigenblatt genutzt.
Andererseits ist das Marktschreien und gezielte Provozieren eben auch ein Geschäft der vorwiegend reaktionären Seite der Gesellschaft, bei dem sich gezielt zwar meist belanglose Details herausgepickt werden, diese aber dann wieder ib besagten SM zum Elefanten werden und nur zu oft springt die gesuchte Kundschaft darauf an, weil es auch wieder falsch ist, solchen Blödsinn unwidersprochen stehen zu lassen - da schliesst sich dann schön der Kreis.