1946 erschien im 'Evening Standard' George Orwells berühmter Text über das Moon Under Water. Eine Phantasiereise durch einen idealen Pub, der aber nicht existiert. Das hat mich schon vor längerer Zeit auf die Idee gebracht, das auf die hiesige Institution der Kneipe zu übertragen. Weil Orwell ein grandioser Erzähler war, habe ich gar nicht erst versucht, seinen Stil zu kopieren. Mir ist sehr wohl bewusst, dass die Verhältnisse auf den Britischen Inseln nicht unbedingt vergleichbar sind. Britische Pubs sind, wiewohl im Einzelnen verschieden, im Prinzip ziemlich homogen. Dagegen herrschen hierzulande zum Teil erhebliche regionale Unterschiede. Eine hessische Weinschänke, ein bayerisches Wirtshaus, ein rheinländisches Brauhaus, auch eine Ruhrpott-Trinkhalle -- all das sind keine Kneipen im engeren Sinne. Das bedeutet nicht, dass es dort nicht auch schön sein kann und dass es keine Schnittmengen gäbe, im Gegenteil, nur ist es eben etwas anderes.
Fraglos mag es auch in Läden, die sich quasi exklusiv an ein bestimmtes Publikum richten, sehr nett sein und es gibt da sicher tolle Etablissements. Entspricht nur nicht meinen idealtypischen Vorstellungen einer Kneipe. Selbstverständlich weiß ich, dass die Zeiten für die Gastronomie vielerorts hart sind und meine Vorstellungen sich kaum immer umsetzen lassen, allein schon aus wirtschaftlichen Gründen. Ich bin mir im Klaren darüber, dass ich hohe Erwartungen an den Betreiber habe, mit dessen Pensum ich nicht tauschen möchte. Allerdings hat auch Orwell damals die Messlatte diesbezüglich recht hoch gelegt. Und wenn schon, es geht um die Frage, wie eine ideale Kneipe sein sollte, da ist das erlaubt. Man wird ja wohl träumen dürfen.
Auf zehn Punkte bin ich gekommen, was für eine Skala von 1 bis 10 schön praktisch ist. (Weitere Vorschläge werden gern entgegengenommen.)
1. Eine ideale Kneipe ist bequem zu Fuß zu erreichen und wird von einem Inhaber geführt, nicht von einem Filialleiter oder Franchisenehmer. Es gibt also einen Wirt bzw. Wirtsleute oder eine Wirtsfamilie.
2. Vornehmste Aufgabe eines Wirtes (generisches Maskulinum) ist, dafür zu sorgen, dass möglichst alle Gäste sich wohlfühlen. Seine Stammgäste kennt er mit Namen, er weiß, wie es um sie steht und ist bei Bedarf ein langmütiger Zuhörer. Wer ungestört etwas trinken will, wird in Ruhe gelassen, wer Ansprache braucht, ein tröstendes, nettes oder aufmunterndes Wort, bekommtdas. Der Wirt sei kein Gesundheitsbeauftragter, es möge stets mutig ins Glas geschaut werden, doch allzu Alkoholisierten verweigere er weitere Getränke und setze sie in ein Taxi. Stammgäste genießen Privilegien. Etwa anschreiben dürfen oder gelegentlich ein Getränk aufs Haus. Rauchenden Gästen werden die im Rahmen der geltenden Gesetze bestmöglichen Angebote gemacht.
3. Außerhalb von Weinbauregionen sollte das mit Abstand meistverkaufte Getränk Bier sein. Und zwar kein Craftbeer oder sonstiges Gewese, das nur der sozialen Distinktion dient, sondern ein Solides, das möglichst jeder sich leisten kann. Regionalität ist hier Trumpf. In Norddeutschland wird das meist ein Pils aus der Gegend sein, woanders Alt, Kölsch oder Helles. Dann ein Bier, das man vielleicht nicht überall bekommt und das einen anderen Geschmack bedient. Dazu noch, Zugeständnis an den Zeitgeist, Weizenbier mit und ohne Alkohol. Alkoholfreie Getränke werden der Frische wegen entweder gezapft oder in kleinen Portionsflaschen verkauft. Wird außerhalb von Weinanbaugebieten Wein angeboten und versteht der Wirt nichts von Wein, arbeitet er mit Fachleuten zusammen, etwa einer örtlichen Weinhandlung, damit Trinkbares ausgeschenkt wird.
4. Der Wirt weiß, dass Bier zapfen weit mehr ist als Gläser vollmachen und handelt entsprechend. Das heißt, er kennt und beherrscht seine Zapfanlage, er versteht sich darauf, bei optimalem CO2-Druck zu zapfen und glaubt nicht an das Märchen vom Siebenminuten-Pils. Gläser, Armaturen und Leitungen sind stets hygienisch sauber, der 'Nachtwächter' wird täglich entsorgt. Weil trinken etwas anderes ist als saufen, Bier zapfen etwas anderes als bloßes Volumenmachen und Bier, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht frisch genug sein kann, wird es außerhalb Bayerns standardmäßig in kleinen Gläsern ausgeschenkt (0,2-0,3 l).
5. Eine ideale Kneipe ist ein Hort liberalen Bürgersinns, kein Vereinsheim und keine Filterblase. Das heißt, so ziemlich jeder ist willkommen und es ist Platz für viele und vieles. Es darf und soll ramentert, bramabasiert und auch gestritten werden. Ferner ist sie kein kurzlebiger, irre angesagter Place to be, keine Partybutze für Jungspunde, die ihren Hormon- und Energieüberschuss in Form von Remmidemmi ausleben. Sie ist ein Ort für erwachsene Menschen, die entspannen wollen von den üblichen Zumutungen und mal abschalten. Es geht daher völlig in Ordnung, wenn sie unter der Woche um Mitternacht oder sogar vorher schließt. Wer sich nicht benehmen kann, vor allem gegenüber anwesenden Damen (da bin ich altmodisch), andere Gäste sonstwie belästigt, randaliert, sich extremistisch betätigt etc., wird konsequent verwarnt und, wenn das nicht hilft, zügig vor die Tür gesetzt. Natürlich ist das schwierig. Eine Gratwanderung, auch wirtschaftlich. Wirt zu sein ist halt eine anspruchsvolle Tätigkeit, die nicht jeder kann. Wenn es einfach wäre, dann wären gute Kneipen nicht so selten.
6. Eine Kneipe begehre möglichst nicht, etwas anderes zu sein. (Natürlich ist das nicht immer und überall machbar, etwa auf dem Dorf oder in Kleinstädten.) Ist ein Restaurationsbetrieb im gleichen Haus, dann am besten räumlich getrennt. Knobelbecher, Würfel, Skatkarten und -blöcke sollten im Haus sein. Dartscheiben, Billardtische, Kicker, Geldspielgeräte o.ä. sind, sofern vorhanden, so platziert und die Lautstärke ist so eingestellt, dass andere Gäste nicht behelligt werden. Es versteht sich von selbst, dass solche Geräte gepflegt und technisch in tadellosem Zustand sind. Ferner ist ein eigener abgetrennter Raum vorhanden zur Pflege des örtlichen Vereinslebens und für feierliche Anlässe. Doch darf es auf keinen Fall abschreckend wirken auf andere Gäste oder gar das Stammpublikum, wenn Vereine sich regelmäßig treffen und ihre Veranstaltungen dort abhalten. Plätze im Freien oder ein Biergarten sind nett, aber kein Muss. Es kann besser sein, im Sommer bei offenem Fenster drinnen zu sitzen als mitten auf dem Bürgersteig.
7. Obwohl eine Kneipe, wie gesagt, kein Restaurant ist, werden für den hungrigen Gast ein paar herzhafte Kleinigkeiten feilgehalten. Frikadellen etwa, hausgemacht oder vom Metzger, Soleier, Mettwürste, Rollmöpse, Käsehappen oder Schmalzbrote. Dazu Knabbersachen in Portionstütchen. Ein günstiges, hausgemachtes Mittagessen war früher Standard, dürfte sich heute aber nur noch in Ausnahmefällen rechnen.
8. Einrichtung wird überschätzt. Dekoration auch. Eine Kneipe kann beinahe eingerichtet sein wie sie will -- urig, altdeutsch-rustikal, auch mit Eichenmöbeln, die einem ums Verrecken nie ins Haus kämen, meinethalben auch Butzenscheiben haben. Ebenso unerheblich ist der Name. Eine Kneipe mag 'Zum roten Ochsen' heißen, 'Zum alten Germanen' oder 'Didi's Pils-Stübchen'. Das ist nicht wichtig, solange es nicht auch altdeutschtümelnd zugeht, der Laden gemütlich ist und das Publikum stimmt, will heißen: angenehm gemischt ist.
9. Der Wirt gehe mit der Zeit, aber vorsichtig und mit Maß. Musik ist als dezentes Hintergrundgeräusch erlaubt. So ist es auch beinahe egal, was läuft. Daher sind Musikboxen und ihre digitalen Nachfolger mit Vorsicht einzusetzen. Fernseher gehen in Ordnung, sollten aber nicht dauernd in Betrieb sein, sondern nur zu wichtigen Ereignissen wie internationalen Sportveranstaltungen oder Bundesliga-Spieltagen. Pay-TV ist eine ebenso sinnvolle Investition wie freies WLAN. Sofern das finanziell machbar ist, versteht sich. Im Zweifel gilt: lieber kein Pay-TV als Eintritt nehmen. Denn das geht gar nicht.
10. Das Wichtigste zum Schluss: Junggesellinnen- und Junggesellenabschiede haben grundsätzlich keinen Zutritt. Keine Ausnahmen. Bei Zuwiderhandlung wird sofort die Polizei verständigt.
Unmöglich? Ich bin in der glücklichen Lage, die eine oder andere Kneipe zu kennen, die immerhin sieben bis acht der zehn genannten Kriterien erfüllt.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 31. Mai 2018 und wurde leicht geändert, aber nicht gegendert.
... zu 7:
AntwortenLöschenLeckeres, selbstgemachtes Chili mit korrektem Hackfleischanteil gabs damals "in unserem Wohnzimmer".
Ab und zu Livemusik einer Band, deren Mitglieder sowieso Stammgäste waren "für schmales Geld"
Wenn wir langsam genug reingingen, standen Weizenbier und Pils für uns schon an der Theke bereit und wurden nur noch über den Tresen gereicht.
Allerdings hatten wir uns das auch mit wöchentlich 2-3-4-maliger Anwesenheit erarbeitet.
Dann wurden wir erwachsen und gingen nicht mehr abends aus ...
Gruß Jens
So isses, eine Kneipe kann nur so gut sein wie die Gäste.
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