Sonntag, 18. Juni 2017

Vielleicht noch etwas warten


Helmut Kohl (1930-2017)

Als er 1998 endlich abgewählt wurde, war einer meiner ersten Gedanken: Deutschlands Karikaturisten und Parodisten tragen Trauer. Wer weiß, vielleicht war der am Freitag in die Gechichte eingegangene Helmut Kohl zeitlebens über die zahllosen Witze, die über ihn kursierten, wenn schon nicht erfreut, dann aber doch nicht allzusehr verärgert. Denn alles, was irgendwie mit 'Birne' zu tun hatte (eine Erfindung des französischen Karikaturisten Jean Mulatier übrigens, der einen Spiegel-Titel zur Bundestagswahl 1976 und gleich auch das Stichwort von der Bergamotte-Birne geliefert hatte) oder mit seiner zunehmend ausladenden Physiognomie, arbeitete sich letztlich bloß an Äußerlichkeiten ab. Möglicherweise hatte er sogar eine diebische Freude daran, wie er ein ums andere Mal unterschätzt wurde.

Vielleicht hat kaum jemand das Unterschätztwerden so perfektioniert wie Helmut Kohl (worin seine Nachfolgerin Angela Merkel ihm eine gelehrige Schülerin war). Viele von Kohls Kritikern haben nie begriffen oder wollten nicht wahrhaben, dass man keineswegs ein Intellektueller sein muss, um ein erfolgreicher Politiker zu sein. Im Gegenteil, es geht darum, Chancen zu sehen und im richtigen Moment instinktiv das Richtige zu tun. Fast alle, die als hochgebildete Hoffnungsträger ihre Ämter angetreten hatten, sind, mit der einen Ausnahme Winston Churchills, kläglich bis krachend gescheitert. Am tragischsten sicher der hoch intelligente Michail Gorbatschow.

Wiewohl man als politisch Interessierter an Kohl kaum vorbeikommt, seine Kanzlerschaft meine Jugend und weitere Sozialisation geprägt hat und obwohl mit dem Tode jede Feindschaft enden sollte, muss das Resümee seines politischen Wirkens zwiespältig ausfallen. Geht nicht anders.

Seine Verwurzelung in der pfälzischen Provinz nutzte er oft dazu, ausländische Staatsgäste um den Finger zu wickeln, ihnen vorzuführen, wie harmlos dieses krähwinkelige Deutschland ist. Meist funktionierte das sogar, nur bei Margaret Thatcher wollte das nicht recht funktionieren.

Immer mutig, werte taz!
Andererseits bedeutet es sicher keine postume Schmähung des raumgreifenden Oggersheimers, wenn man sagt, dass er den größten Teil seiner 16 Kanzlerjahre die Verkörperung all dessen war, was das provinzielle westdeutsche Nachkriegsbiedermeier vielen so schwer erträglich macht. Die ostentativ gelebte Bräsigkeit, seine schwerfällig-gespreizte Sprache, der Filz, die Vereinsmeierei und Kungelei, der Hass auf alles Progressive, auf Einwanderung und Multikulturalität, der Mangel an Geschmack und Weltläufigkeit und die krampfhaft hochgehaltene Fassade des intakten Familienidylls im hochbunkerhaften Oggersheimer Eigenheim. Wie sehr das Kohlsche Familienleben bloß noch Fassade war, zeigte sich spätestens mit dem Freitod Hannelore Kohls und der Generalabrechnung seines Sohnes Walter. Ein gepanzerter Nachkriegsvater. Wenn er mittels seines Doktortitels patzig Respekt einforderte für sich, wirkte er fast schon wie ein Wiedergänger Diederich Heßlings.

"Helmut Kohl war der Kanzler des bundesrepublikanischen Biedermeiers und der kurzzeitigen Einheitstatkraft." (Ludwig Greven)

Obwohl keiner seiner zahlreichen Skandale ihm etwas anzuhaben schien, war Kohl 1989 politisch angeschlagen und verbraucht. Seine Beliebtheitswerte sanken, in der CDU rumorte es gewaltig und die (West-)Deutschen waren seiner müde geworden. Als ihm im November des Jahres der Fall der Mauer in den Schoß fiel, tat er ein knappes Jahr lang das, was ihm seinen Platz in den Geschichtsbüchern sichern dürfte. In den elf Monaten zwischen dem 9. November 1989 und dem 3. Oktober 1990 führte er lehrbuchhaft vor, wie ein erfolgreicher Politiker das Gesetz des Handels an sich und die Fäden zieht. Ob sein Handeln, sein Drängen auf eine rasche Wiedervereinigung richtig war oder gar alternativlos, wie Hagiographen zu kolportieren pflegen, ist fraglich. Gorbatschow wusste, dass der Ostblock und die DDR 1989 unwiderruflich am Ende waren, der Kollaps unvermeidlich war und versuchte auf den letzten Metern halt das Beste herauszuholen.

Acht weitere Jahre als Kanzler bescherte ihm der kurze deutsche Frühling von 1989/90. Dass er nach 1990 der Tagespolitik zunehmend entrückte, die Dinge schleifen ließ, sich immer weniger um Details scherte und zunehmend als lebendes Einheitsdenkmal durch die Gegend lief, führte zu massiven Problemen. Als Historiker war er der Überzeugung, angesichts eines Jahrhundertprojekts wie der deutschen Wiedervereinigung und des mächtigen Wehens des Mantels der Gechichte verblasse alles weitere zu unwichtigem Klein-klein. Es wirkt bis heute nach, dass die ostdeutsche Bürgerrechtsbewegung marginalisiert, neoliberalen Geschäftemachern und Ausbeutern das Abwickeln der DDR-Wirtschaft überlassen wurde, zu glauben, man könne den Westdeutschen erzählen, die Finanzierung des Ganzen sei mal eben aus der Portokasse möglich und dass Milliarden D-Mark alle Probleme lösen würden.

Die enorme Staatsverschuldung nach 1990 lieferte den Neoliberalen wichtige Argumente für ihren Kreuzzug gegen den rheinisch-kapitalistischen Sozialstaat, den Kohl, aller anders lautenden Rhetorik zum Trotze, verkörperte. Zwei Jahre nach seiner Abwahl dann offenbarte die Finanzkrise noch einmal schlaglichtartig seine negativen Wesenszüge.

Das Positive? Sein Bekenntnis zur europäischen Idee war nie aufgesetzt, sondern wohl wirklich aus seinen traumatischen Erfahrungen des zweiten Weltkrieges erwachsen. Eine Herzensangelegenheit, ohne Zweifel. Sein barock-katholischer Hang zu ausgiebigen Fressgelagen, Pfälzer Riesling und anderen diesseitigen Genüssen machte ihn nahbar und menschlich. Auch das setzte er politisch ein. So soll er 1996 mit dem seinerzeit ebenfalls dem reichlichen Essen zugeneigten Bill Clinton in 'Katie's Diner' in Milwaukee ein, wie es hieß, handfestes Mittagessen ("substantial lunch") eingenommen haben, pro Nase bestehend aus drei Vorspeisen, Suppe, drei Hauptgängen und Dessert. Im Alter von 66 Jahren. So was verbindet.

Ein großer Deutscher? Er wird in Erinnerung bleiben, keine Frage. Man wird Straßen und Plätze nach ihm benennen und ihm Denkmäler errichten. Ein großer Europäer? Sicher war er einer der Wegbereiter der EU, wie wir sie heute kennen, auch das ist unstreitig. Inwieweit er den heutigen Zustand der EU mitzuverantworten hat, lässt sich schwer ermessen. Man sollte mit einem Urteil vielleicht noch ein wenig warten.




2 Kommentare :

  1. Ein Aspekt Kohl'schen Regierungshandels kommt dann in den Nachbetrachtungen doch etwas kurz: die flächendeckende Einführung des Privatfernsehens unter der schwarzgelben Kamarilla. Niemand hat mehr geleistet für die galoppierende Verblödung in diesem Land.

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    1. Sehr richtig, danke. Ich hatte auch überlegt, das mit aufzunehmen. Nur schwamm Kohl damit auf einer Riesenwelle, weil zu der Zeit in sehr vielen Ländern das Privatfernsehen eingeführt wurde (mit ähnlichen Folgen). Handelte sich daher nicht unbedingt um Kohlsche Politik.

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