Sonntag, 3. September 2017

Depression, Mehltau, Gerede


Wäre dieses Land kein Land, sondern ein Individuum, müsste man wohl eine Depression diagnostizieren. Auf die Zumutungen des Lebens reagieren wesentliche Teile dieses Landes entweder hasenfüßig-resigniert (Weiter so. Keine Experimente. Lass Mutti das mal machen.) bis trotzig-aggressiv (Grenzen dicht! Merkel muss weg! Diktatur! Rabäääh!), gelegentlich auch mit einer Mischung aus beidem (Wir schaffen das – nicht!). Im Gegensatz zur Medizin gibt es dagegen kein Antidepressivum. Und weil auch der einzigen Partei, die wirklich die Systemfrage stellt, sich aus dem Rennen nimmt, weil auch ihr kaum was anderes einfällt als Steuern wie damals unter Kohl und ein büschen Umverteilung, haben wir bei der anstehenden Bundestagswahl nur mehr die Wahl zwischen zwei Geschmacksrichtungen von Weiter so. 

Wie fatal das ist, lässt sich sehr gut studieren am Beispiel der parteiübergreifenden Forderung nach Chancengleichheit. Davon reden ja alle irgendwie. Gut, einige reden auch von 'Chancengerechtigkeit', weil 'Chancengleichheit' ihnen zu sehr nach Sozialismus müffelt. Was aber bedeutet Chancengleichheit? Zum Beispiel, dass jedes Kind in diesem Land die gleiche Chance auf Bildung hat, und zwar unabhängig von der sozialen Herkunft. Die SPD möchte 12 Milliarden in das Schulsystem stecken. Zwölf Milliarden sind nicht wenig. Meines Wissens nach eine Zwölf mit neun Nullen:

12.000.000.000

Der amtlichen Statistik zufolge, gab es in Deutschland im Schuljahr 2015/16 insgesamt 33.547 allgemein bildende Schulen (Berufsschulen, Universitäten und Fachhochschulen zählen nicht dazu). Nehmen wir einen Taschenrechner zur Hand, dann ergibt eine simple Milchmädchenrechnung einen Betrag von 357.707,09 Euro pro Schule. Das klingt erst einmal nach viel. Bedenkt man aber, dass 2016 der Betrag, der nötig wäre, um alle deutschen Schulen in einen technisch und baulich halbwegs akzeptablen Zustand zu bringen, auf 34 Milliarden beziffert wurde, dann sind diese 12 Milliarden lachhaft. Sind sie ausgegeben, dann wäre gerade einmal ein Drittel des Investitionsstaus bei den nötigen Baumaßnahmen abgedeckt. Keine zusätzliche Lehrer- oder Sozialarbeiterstelle wäre finanziert, kein begabtes Kind aus einem Hartz-IV-Haushalt in einem so genannten Problembezirk ginge deswegen auf eine höhere Schule, selbst wenn die Forderung der SPD 1:1 umgesetzt würde.

Die Linke fordert ja unter anderem, Erbschafts- und Vermögenssteuern zu erhöhen bzw. überhaupt erst wieder einzuführen, den Hartz IV-Regelsatz auf 600 Euro pro Monat und den Mindestlohn auf 12 Ocken pro Stunde zu erhöhen. Obwohl das  das Leben zahlreicher Menschen höchstwahrscheinlich durchaus verbessern würde, was ja wünschenswert wäre, würde auch das aber, selbst wenn diese Forderungen 1:1 umgesetzt würden (wie wahrscheinlich das ist, mag jeder für sich selbst ausrechnen), nicht für mehr Chancengleichheit sorgen, wie Stefan Sasse ausführt. Denn wie viele zusätzliche Kinder aus Haushalten mit geringem Verdienst würden deswegen auch eine höhere bzw. für sie geeignetere Schule besuchen, selbst wenn sie das Talent dazu hätten, bloß weil etwas mehr Geld da ist?

"Und hier kommen wir zum entscheidenden Problem. Alle Maßnahme[n], die tatsächlich ernsthaft die Chancengleichheit erhöhen, kosten nur relativ wenig Geld. Sie sind aber gleichzeitig in einem gigantischen Ausmaß disruptiv, und am allerschlimmsten, sie sind in einer Schicht disruptiv, die Störungen des Status Quo überhaupt nicht leiden kann: der wohlsituierten Mittelschicht." (Stefan Sasse)

Regelmäßig bekommen wir vorgerechnet, dass in keinem anderen entwickelten Land der Welt Bildungschancen so sehr an die soziale Herkunft geknüpft sind wie in Deutschland. Im Gegensatz zu den obskuren PISA-Studien scheint das aber nur wenige wirklich zu stören, geschweige denn, einen Schock auszulösen. Man redet sich halt ein, ein jeder könne doch, wenn er nur wolle und man selbst habe es doch auch geschafft. Weil sich Chancengleichheit bzw. -gerechtigkeit aber genau nun nicht herstellen lässt, indem man einfach nur Kohle ins Schulsystem pumpt (so nett das im einzelnen sein mag), sondern einzig und allein, in dem man Privilegierten ihre Privilegien teilweise wegnimmt (Sasse, ebd.), wird es schwierig. Weil das in der Praxis etwa bedeuten würde, es jener etablierten Mittelschicht zuzumuten, dass Lea-Sophie und Thorben-Malte in der Schule nicht mehr nur neben Nora-Dorothea und Jonas-Elias, sondern auch neben Mustafa und Fatme, oder - der Horror! - neben Chantal und Justin sitzen. Und das geht gar nicht. Denn die Begeisterung dieser Milieus für universelle Gerechtigkeit und die Segnungen der multikulturellen Gesellschaft pflegt spätestens am Schultor schlagartig zu enden.

Aussicht auf Besserung besteht kaum, weswegen das Gefühl des Stillstandes auch dann nicht verschwinden wird, wenn tatsächlich ein wenig Geld von oben nach unten umverteilt wird. Das Dumme ist nämlich, dass keine politische Partei mit Chancen auf den Einzug in den Bundestag es sich erlauben kann, es sich mit den erwähnten Justemilieus zu verscherzen. Wer das nicht glaubt, sehe sich bitte am Beispiel der Hamburger Initiative 'Wir wollen lernen', die 2010/11 vorgeführt hat, welchen politischen Einfluss eine engagierte, gut vernetzte Minderheit zu entfalten vermag. Weil ihre Ansinnen deutlich höhere Chancen haben, gehört zu werden, weil sich's halt lohnt, sind solche Milieus auch nachgewiesenermaßen deutlich stärker politisch engagiert als schlechter gestellte. Weil das so ist, muss alles Gerede von 'Chancengleichheit' oder auch nur 'Chancengerechtigkeit' als das gelten, was es ist: Gerede eben.




4 Kommentare :

  1. "scheint das aber nur wenige wirklich zu stören, geschweige denn, einen Schock auszulösen. "
    Kann man wörtlich nehmen, ich bezweifle, daß das System alleine daran schuld ist. In Deutschland gibt es ein weit verbreitetes Klassendenken auch von unten und in der Mitte, verkürzt gesagt, jeder soll doch bitte in seiner eigenen Schicht bleiben. Viele Eltern wollen, daß ihr Kind denselben Level wie sie selbst erreicht, aber auf keinen Fall, daß es einen höheren erklimmt.
    Auch die lokalen Umfelder schießen oft quer, wenn einer "zu hoch hinaus will", meint der wohl, "er ist was Besseres?".
    Das System an sich ist einigermaßen durchlässig in finanzieller Hinsicht, dennoch ist auch Umverteilung ein Thema, weil sie Macht umverteilt und damit Spielräume schafft.
    Neben Mentalitäten spielen auch dysfunktionale Familien eine viel größere Rolle als gemeinhin angenommen.

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  2. @art – full ack! Habe es nicht anders am eigenen Leib erleben müssen. Hatte die Hoffnung, dass es sich mit der Zeit verbessern würde (sah es als Spätsymptom des preußischen Untertanendenkens und der Endzeit desselben (?) – von wegen!) Ist eher schlimmer geworden.
    Statt von >bildungsfernen-< sollte man besser von <bildungsfeindlichen Schichten< reden.

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    1. Teilweise Zustimmung. Die Menschen werden ja nicht dümmer, die Verhältnisse ändern sich. Es gab Zeiten, in denen gerade die Arbeiterklasse durchaus bildungsaffin war und auch eine entsprechende eigene Infrastruktur unterhielt ("Wissen ist Macht"). Ich denke, den Menschen wurde und wird im Lichte des Neoliberalismus seit ein paar Jahrzehnten auch vermittelt, dass Bildung jenseits direkter ökonomischer Verwertbarkeit sinnloses Pillepalle ist.

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  3. @ert-ertrus
    "bildungsfeindliche Schichten"

    So ist es. Der Ausdruck "Bildungsferne Schichten" hat ohnehin nicht das Ziel, das Klassendenken von unten und in der Mitte zu beschreiben, sondern ist dann wieder die Sprache des Klassendenkens von oben.

    @Stefan

    Bildungsaffine Arbeiterklasse gibts auch heute noch, mir ging es nicht um ein Pauschalurteil, sondern um den Widerspruch zum oft anzutreffenden linken Denken, daß Arbeiter quasi kein Klassendenken kennen würden und von Natur aus die Guten seien.
    Ohne Zweifel aber hat sich das Gewicht verschoben, es gibt heute mehr Klassendenken und starres Denken als in politisch kritischeren Zeiten.

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