Mittwoch, 28. November 2018

Um der Menschlichkeit willen


Warum es lohnt, David Chazelles großartigen Film 'Aufbruch zum Mond' anzusehen

"Dass ich so was noch erleben darf!", war mein erster Gedanke, als der Film ausblendete und der Abspann einsetzte. Ich hatte mich zwei Stunden und zwanzig Minuten keine Minute gelangweilt, obwohl es die Nachmittagsvorstellung und ich müde von der Arbeit war. Ich war ehrlich berührt. Musste das erst mal verdauen. Was erwartet man, wenn man einen amerikanischen Film anschaut über Neil Armstrong und die erste Mondlandung 1969? Es gruselt einen bei dem Gedanken, was etwa ein Michael Bay aus diesem Sujet gemacht hätte. Ein nur mit viel Bier erträgliches, auf bloße Überwältigung angelegtes, nationalistisches Special Effects-, Propaganda- und Schnulzenspektakel wahrscheinlich. David Chazelle dagegen hat in 'Aufbruch zum Mond' fast alles anders gemacht und damit ein Meisterwerk abgeliefert.

Ich schließe mich dem Kollegen Sokolowsky an: Schauen Sie diesen Film, so sie noch die Chance dazu haben. Unbedingt. Nix BluRay. Im Kino. So etwas bekommt man nicht mehr oft zu sehen im Mainstream-Multiplex unserer Tage.

Es gibt durchaus Sinn, dass Steven Spielbergs Firma DreamWorks 'Aufbruch zum Mond' mitproduziert hat. Eine der eindrücklichsten Szenen aus Spielbergs unangenehm stilbildenden Film 'Der Soldat James Ryan' von 1997 ist nicht, wiewohl technisch und handwerklich brillant, das blutige Gemetzel am Omaha Beach zu Beginn. Nein, es ist die Szene in der die Mutter der drei Ryan-Brüder die Nachricht vom Tod ihres zweiten Sohnes erhält. Wir sehen ihre Silhouette gegen die offene Tür nach draußen. Wir sehen einen Pkw der US Army vor dem Haus halten. Wir sehen einen Offizier aussteigen. Als auch ein Priester aussteigt, kollabiert die Frau. In wenigen Sekunden alles gesagt ohne ein Wort. Film noir-Ästhetik neu erfunden. In die Magengrube. Groß.

(Ab hier Spoiler.)

Ungefähr so funktioniert 'Aufbruch zum Mond', und zwar über die gesamte Länge. Wie bekommen vieles zu sehen, aber nur selten das, was wir erwarten. So sehen wir zu Beginn Karen, die zweijährige Tochter der Armstrongs, unter einer Bestrahlungskanone liegen. Als nächstes sehen wir, wie der Vater (grandios: Ryan Gosling) das vor Schmerzen schreiende Kind zu trösten versucht. Wir sehen, wie der gelernte Luftfahrtingenieur Neil Armstrong sich neben seinen üblichen Berechnungen akribisch Notizen macht über ihren Krankheitsverlauf. Dann, wie er mit einem befreundeten Arzt weitere Optionen bespricht. Es fällt das Wort 'Tumor'. Schließlich sehen wir die Beerdigung des Mädchens. Das alles dauert keine zehn Minuten. Kein überflüssiges Wort, keine Rührseligkeiten, keine schluchzenden Geigen. Und deswegen so heftig. Auf die Fresse. Groß.

Der Film glänzt mit all dem, was nicht passiert in ihm. Special Effects-Orgien etwa. Flaggenschwenken. Uplifting sein. Und reden. Erst recht wird nicht über Gefühle geredet, so wie auch keine Beziehungen reflektiert werden, nicht einmal innerfamiliär. Wir sehen die Ehefrauen der Astronauten. Keine zurecht gemachten Heldinnen, sondern normale Hausfrauen und Mütter, die unsere hätten sein können. Nur eben immer in Angst, dass ihre Männer, die sie am College kennengelernt hatten, nicht zurückkehren. Doch auch darüber wird nicht geredet. Die Augenringe dieser harten Vorstadtladys, die bloß ein normales Leben wollten, werden größer, die Verhärmungen in den Gesichtern tiefer. Dem Haussegen tut es nicht eben gut, als Armstrong bei einem Testflug mit dem Landefähren-Simulator beinahe ums Leben kommt.

Wir sehen, wie Gus Grissom (Shea Wigham), im damaligen Leben Neil Armstrongs das, was einem guten Freund am nächsten kommt, in der Apollo 1-Kapsel bei lebendigem Leib verbrennt. Wir sehen, wie seine Witwe, Nachbarin der Armstrongs, minutenlang in den offenen Kofferraum ihres Autos starrt und von Janet Armstrong (ebenbürtig: Claire Foy) weggeführt wird. Mehr Trauer ist nicht. Beim gemeinsamen Frühstück der drei Apollo 11-Astronauten vor der Mission ist auch der patriotische Genremaler Norman Rockwell anwesend. Wir hören das kratzende Geräusch seines Bleistiftes. Und nur das, denn geredet wird auch hier - nicht. Die einzigen präsenten Sternenbanner sind die auf den Anzügen der Raumfahrer. Anstatt einer zündenden Motivationsansprache sehen und hören wir, wie der Präsident jene Ansprache aufzeichnet, die die NASA für den Fall des Scheiterns und des Todes der Astronauten ausgearbeitet hatte.

Es wird nicht ausgespart, dass dies das Amerika des Vietnamkrieges war und das der Bürgerrechtsbewegung. Martin Luther King war gerade ermordet worden. Wir hören das Volk murren wegen der Milliarden Steuergelder, die ins Apollo-Programm fließen. Wir sehen und hören Gil Scott-Heron 'Whitey On The Moon' rezitieren. Und geraucht wird, ganz zeittypisch, erfreulicherweise auch überall. Ein Film, der sich augenscheinlich an Erwachsene richtet. Jugendlichen ist so ein verstörender Anblick ja eigentlich nicht mehr zuzumuten, wie man so hört.

Ein mal nur, ein einziges mal, erlaubt Chazelle sich einen Ausflug in konventionelleres Terrain. Als Janet ihren Mann vor seiner Abfahrt zum Apollo 11-Flug zur Rede stellt, weil der sich nicht von den beiden Söhnen verabschieden und sich stattdessen heimlich aus dem Haus schleichen will. Dabei bleibt es.

Visuelle Höhepunkte sind die drei Flugsequenzen. Armstrongs beinahe fehlgeschlagener Testflug in der X-15 zu Beginn, die beinahe gescheiterte Gemini 8-Mission ungefähr zur Hälfte des Films und die Apollo 11-Mission gegen Ende. Außen- und Effektaufnahmen werden sparsamst eingesetzt. Chazelle und seinem Kameramann Linus Sandgren geht es vielmehr um die Enge in den Raumkapseln, die nach heutigen Standards zusammengenietete Klapperkisten waren, das Rütteln, den ohrenbetäubenden Lärm, die fast übermenschlichen Belastungen, denen die Astronauten ausgesetzt waren. Am Ende denkt man jeweils nicht: Juhu, unsere Helden haben es geschafft! Man denkt: Puh, mich hätte das vermutlich umgebracht!

Wieso ausgerechnet Neil Armstrong, der unbekannte Farmerssohn aus Ohio, der mit einem Air Force-Stipendium studiert und alle schneidigen Militärpiloten ausgestochen hatte, Kommandant der ersten Mondmission wurde? Nachdem er die wegen einer Fehlfunktion völlig außer Kontrolle geratene Gemini-Kapsel im letzten Moment irgendwie stabilisieren konnte, galt er bei der NASA wohl als Mann ohne Nerven. Zu recht. Jeder andere hätte den riskanten Landeanflug auf den Mond vermutlich verbockt und das Landemodul dabei geschrottet.

Was trieb diesen stoischen, lakonischen Mann, all die Strapazen auf sich zu nehmen? So lautet die Kernfrage von 'Aufbruch zum Mond'. Patriotismus? Nein, spielt keine Rolle. Es 'Den Russen' zeigen? Njet. Die unbestreitbaren Erfolge des sowjetischen Raumfahrtprogramms werden einmal kurz erwähnt, und das war’s. Nichts mit Race into space. Wir bekommen aber einen Tipp: Sofort nach dem Tod der kleinen Tochter verabschiedet er sich von Frau und Kind mit den Worten: "Ich geh‘ dann mal zur Arbeit". Klarer Fall, ist der Küchenpsychologe da getriggert zu sagen, er flüchtet sich in die Arbeit, läuft vor der Trauer davon. Nichts könnte falscher sein.

Als sich endlich die Luke der Landefähre nach dem riskanten Landemanöver öffnet, setzt plötzlich völlige Stille ein, fast schmerzhaft. Wir sehen Armstrong und Aldrin auf dem Mond umherspazieren. Minimale, dezente Musik setzt ein. Wir sehen nicht ihre Gesichter, sondern meist nur ihre goldbeschichteten Visiere. Irgendwann steht Armstrong allein am Rand eines großen Kraters. Großaufnahme. Seine behandschuhte Faust öffnet sich. Er hat das Namensarmband seiner Tochter dabei.

Da sehen wir die einzige Rückblende des ganzen Films. Wie er das Mädchen auf dem Arm hat. War das vielleicht der Moment, in dem er seiner todgeweihten Tochter im Stillen geschworen hat, er fliege für sie zum Mond? Wir erfahren es nicht, und das ist gut so. Was wir dank seines berühmtesten Zitates aber wissen, ist, dass Armstrong sich im Dienste der ganzen Menschheit unterwegs sah. Wir sehen ihn das Armband in den Krater werfen. Mission abgeschlossen. Die symbolische Beerdigung des Armbandes als eigentliches Ziel der Mondmission, die so zur Mission im Namen der Menschlichkeit wird. Das ist der anrührende, wunderbare, tröstende Gedanke dieses wundervollen Films. Erst recht in diesen Zeiten des wiedererstarkenden Nationalismus.

Ein Hollywood-Film über die erste Mondlandung wäre normalerweise ein Film, der der nationalen Selbstvergewisserung dienen würde. 'Aufbruch zum Mond' ist etwas völlig anderes. Wer die übliche Heldengeschichte erwartet, wird enttäuscht werden, wer offen ist für anderes, das Kino beglückt verlassen. Dass Donald Trump und seine kleingeistigen, ignoranten Brüder im Geiste nichts als abfällige Kommentare übrig hatten für Chazelles Werk, weil sie patriotisches Geklingel vermissten, sich sogar allen Ernstes darüber mokierten, dass ein Kanadier die Hauptrolle spielt, ist nur folgerichtig und kann als weitere Empfehlung genommen werden, diesen Film anzusehen.


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Aufbruch zum Mond (First Man). USA 2018, 142 min. R: David Chazelle. B: Nicole Pearlman, Josh Singer. K: Linus Sandgren. D: Ryan Gosling, Clare Foy, Lukas Haas, Corey Stoll u.a.





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