Samstag, 9. November 2019

11-9


Der 9. November 1989 war ein Donnerstag und ich hatte Spätschicht, weil ich da Zivildienst im Krankenhaus machte. In den beiden Viererzimmern der Station herrschte meist gute Stimmung, denn dort waren in der Regel Patienten mit leichteren Gebresten untergebracht. Als ich den Raum betrat, um die Tabletts vom Abendessen wieder einzusammeln und dabei meine abendliche Blutdruck-, Temperatur- und Pulsrunde zu erledigen, sagte einer: "Hey, Stefan, schon gehört? Die Berliner Mauer ist offen." Und ich so: "Ja, Willi, ich komm gleich Fieber messen. Tabletten schon genommen?" Und er so, indem er auf den Fernseher zeigte: "Nee, ehrlich. Guck doch mal." (Patienten, mit denen man sich einfach duzte, waren oft die netteren.)

Ups. Das kam überraschend. Für mich damals. Zwar war zu hören und zu lesen gewesen, dass es spätestens seit den Kommunalwahlen merklich grummelte im anderen Deutschland, aber mit so einem radikalen Schnitt hatte ich nicht gerechnet. Zur DDR hatte ich keine Beziehung. Weder Verwandte noch Bekannte drüben. Daher war sie mir auch ziemlich egal. Mit der deutschen Zweistaatlichkeit war ich geboren und aufgewachsen. War halt so. Wiedervereinigung war nie ein Thema. Hier im Westen machten sich in den späten Achtzigern auch Konservative in ihren eigenen Reihen nur mehr lächerlich, wenn sie das erwähnten. So ging ich weiter zur Arbeit und machte, sobald ich zu Hause war, den Fernseher an. Auch am Wochenende hatte ich Dienst. Ich habe also keine wilde Helden- und Aufbruchsgeschichte zu erzählen. Aber für die Menschen, die weit eher von der Mauer betroffen waren als ich, freute ich mich.

Das kurz darauf anhebende Fahnenschwenken und Hymnensingen veursachte mir dagegen Übelkeit. Und nach einer kurzen Phase, in der ich Ossi- und Trabbi-Witze zugegebenermaßen ganz lustig fand - ich war jung und dumm -, fand ich das westdeutsche Siegergehabe, das mediale Vorführen der neuen Mitbürger ("Jetzt platz‘ gefälligst vor Glück und Dankbarkeit, Ossi!", "Hast du heute schon öffentlich bedauert, in einem - Tusch, dramatische Musik, Horrorfilmstimme - UN!-RECHTS!-STAAT! gelebt zu haben, Ossi?") schon bald ausgesprochen beschämend.

Kurz zuvor, 1987, war eine Delegation unserer Schule für eine Woche in die DDR gereist. Die, mit denen ich mich unterhielt, erzählten, man habe sie sehr gastfreundlich aufgenommen und alle seien auch freundlich gewesen. Aber dass man sie keinen Moment aus den Augen ließ und sie nirgends auf eigene Faust was erkunden konnten, hätten sie höchst nervig gefunden. Hätte ich wohl möglicherweise auch gefunden. Vielleicht hätte ich das ähnlich erlebt wie Charles S. Maier:

"An den Grenzen wurde man grob behandelt und schikaniert, da war dieser anmaßende und überhebliche Sicherheitsapparat, diese erschreckende Liebe zu leeren, asphaltierten Plätzen, die Angst als bewußt eingesetztes Mittel der Herrschaft, dieses unentwegte Hochjubeln mittelmäßiger Errungenschaften sowohl des eigenen Landes wie auch gleichgesinnter autoritärer Regime anderswo, die ebenso unentwegte Verteufelung des Westens als militaristisch und revanchistisch. Gleichzeitig jedoch versuchten einige Menschen in bester Absicht ihr ostdeutsches Vaterland aufzubauen."

Eine andere Frage ist die, ob ich, so ich in der DDR aufgewachsen wäre, im Widerstand gewesen wäre. Wenn ich sehr ehrlich bin: Ich bin nicht sicher und möchte den Mund da nicht zu voll nehmen. Mag ich inzwischen auch tiefsitzende Abneigungen gegen autoritäres Gehabe und verordneten Konformismus aller Art pflegen, in jungen Jahren war ich politisch indifferent, irgendwie vage links halt, und durchaus empfänglich für ein wenig gemütliche Solidarität und Nestwärme. Wie weit ich da gegangen wäre, was meine persönliche Freiheit angegangen wäre und die von anderen? Wenn sie‘s geschickt genug angestellt hätten mit mir, wer weiß?

Viel diskutiert wurde und wird die Frage, ob es nicht hätte anders laufen können damals. Im Detail sicherlich, es gibt immer Alternativen. Aber der Bankrott nicht nur der DDR, sondern des gesamten 'Ostblocks' ist eben nur schwer wegzudiskutieren. Auch der Sozialismus stand letztlich unter Finanzierungsvorbehalt. Dass man nicht mehr lange würde durchhalten können, war auch dem Politbüro klar:

"Der ökonomische Kollaps deutete sich 1981 an und wurde 1983 offensichtlich. […] Ohne die Wiedervereinigung wäre die DDR einer ökonomischen Katastrophe mit unabsehbaren sozialen Folgen entgegengegangen, weil sie auf Dauer allein nicht überlebensfähig war. […] Die DDR-Industrie wäre niemals aus eigener Kraft wieder auf die Beine gekommen." (Günter Mittag, 1991)

Und dass der in jeder Hinsicht überforderte Egon Krenz, der noch im Sommer 1989 die chinesische Führung für ihr rustikales Vorgehen auf dem Platz des Himmlischen Friedens (2.600 Tote) beglückwünschte, von einigen Crackpots als humanistischer Friedensfürst gefeiert wird, weil er nicht hat schießen lassen, ist lachhaft. Der wahre Grund für den Gewaltverzicht der DDR-Führung dürfte gewesen sein, dass Moskau zuvor undiplomatisch klar signalisiert hatte, sich nicht mehr in die internen Belange befreundeter Staaten einzumischen. Anders gesagt: Knallt's bei euch, kommen dieses Mal keine Panzer. Damit war die Gewaltoption vom Tisch.

Natürlich hätte es anders laufen können. Mir ist, nota bene, bewusst, dass die Bürgerrechtsbewegung die DDR keineswegs abschaffen, sondern reformieren wollte. Dazu hätte es aber zweier Dinge gebraucht, die man nicht hatte: Zeit und Geld. Von beidem nicht wenig. Ferner hätte es dazu in beiden deutschen Ländern einer politischen Linken bedurft, die willens und in der Lage gewesen wäre, als ernstzunehmender politischer Akteur aufzutreten. Statt dessen entschied man sich dafür, sich aufzuführen, als hätte es gegolten, Monty Python‘s Life Of Brian neu zu verfilmen.

1989/90 war nämlich, das muss leider gesagt werden, auch ein Totalversagen der westdeutschen Linken (zu der man damals noch Teile der SPD zählen konnte). Die tat ab jenem 9. November vor 30 Jahren das, was sie am allerbesten kann: Diskutieren und sich an die Kehle gehen. Dabei nahm man leider nicht wahr, dass draußen die Musik schon weitergezogen war und das Brot längst woanders gebacken wurde. Weil man geflissentlich ignorierte, dass der Lauf der Dinge sich für linke Grundsatzdebatten absolut nicht interessiert. Kohl hatte alles schon eingetütet, da diskutierte man unter Linken noch, ob man überhaupt eine Wiedervereinigung wollte. Wobei man geflissentlich ignorierte, dass die Frage längst nicht mehr zur Debatte stand. Und nahm danach übel, dass gemeinerweise niemand gewartet hatte mit dem Beitritt der DDR, bis die Linke mit Diskutieren und An-die-Kehle-gehen fertig war.

Die Folgen waren in mehrfacher Hinsicht verheerend. Indem die Linke sich 1989f. beleidigt selbst aus dem Spiel nahm, überließ sie das Feld kampflos den Neoliberalen und Bürgerlichen. Mit den bekannten Folgen. Und eben diese Neoliberalen und Bürgerlichen konnten sich beruhigt zurücklehnen, weil sie gewiss sein konnten es mit einem in puncto Harmlosigkeit nur schwer schlagbaren Gegner zu tun zu haben. Wenn die Bezeichnung 'Gegner' überhaupt angemessen ist. Nicht ausgeschlossen, dass das unter Neoliberalen und Bürgerlichen verbreitete und in jedem Wahlkampf bemühte Narrativ, Linke seien realitätsfremde Träumer, hier seinen Ursprung hat.

Immerhin, so tröstet man sich seitdem, war der Kapitalismus an allem schuld und man selbst hatte damals wenigstens den moralisch korrekten Standpunkt. Der aber absolut niemanden interessiert hat.

Ceterum censeo: Am 9. November fühle ich mich bei der alljährlichen Gedenkveranstaltung an der hiesigen Synagoge am weit richtigeren und wichtigeren Ort. Nur findet die wegen des Sabbat erst morgen statt.


(Lookin' at you, Sokolowsky!)





6 Kommentare :

  1. Es ist ein merkwürdiger Tag - einerseits Jubel, andererseits Demut.

    (Diese Captcha macht mich wahnsinnig - muß ich den Kram tatsächlich immer dreimal machen, bis das System es rafft?)

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    1. Das mit dem Captcha ist ärgerlich und tut mir leid, aber ich kann das für anonyme Kommentatorinn/en leider nicht deaktivieren. Nicht weil ich nicht will, sondern weil es technisch nicht geht. Gibt nur zwei Möglichkeiten: Im Google-Konto einloggen (hat man eh, wenn man ein Android-Fon hat). Oder schlimmstenfalls mir den gewünschten Kommentar per Mail schicken und mich bitten, das hier einzustellen.

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  2. Ich habe gerade auf rbb die Sendung über das Jahr 1989 in Berlin gesehen. Momper erzählt im Interview, er habe mit Schabowski schon im Vorfeld der berühmten Pressekonferenz am 9.11. persönlich konferiert. Schabowski habe dem damaligen Bürgermeister von West-Berlin die Grenzöffnung angekündigt, damit sich die Polizei darauf einrichten könne. Die ganze Story vom Mauerfall aus Versehen, von dem eigentlich die Regierungen in Ost und West nichts gewusst haben, ist völliger Blödsinn. Die entscheidenden Stellen - auch im Westen - wussten Tage oder Wochen vorher, was passieren würde.

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  3. Daran, daß der 9. november 1989 ein donnerstag war, erinnere mich ganz genau. Nämlich, weil der tag danach leider ein freitag war und ich zur berufsschule mußte. Das war traurig, denn es stand politik auf dem stundenplan und außerdem war mein klassenlehrer krank, weshalb wir die politiklehrerin als vertretung sechs stunden lang ertragen mußten, eine nationalbegeisterte CDUtante eben. Nicht auszuhalten.

    Das große rätsel des mauerfalls dreht sich für mich um den 10. november. Wie konnte ich es überleben, der so lange zuzuhören und weshalb habe ich es nicht geschafft, mich dem unterricht zu entziehen, umgangssprachlich »schwänzen« genannt. Das, was mein natürlicher drang zur novembersonne, zur freiheit gewesen wäre, wurde kläglich unterdrückt. Anstatt auf die leute zuzugehen, mußten wir uns eine propagandaveranstaltung anhören.

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    1. Interessant, die strammen CDU-ler, die mich damals so umgaben, waren auch völlig verdattert und konnten die Situation nicht recht einschätzen. Richtig übel war so ein Marienkult-Verein hier am Ort. Die sahen nämlich die Prophezeiungen von Fatíma sich erfüllen und rutschten darob tagelang, Rosenkränze murmelnd auf den Knien rum.

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  4. In Art. 16a GG heißt es: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht." Ich hab mich schon immer gefragt, warum Menschen, die aus der ehem. DDR geflüchtet sind, nicht als Asylanten bezeichnet wurde, so wie es als rechter Kampfbegriff in Bezug auf Migranten aus Armutsregionen dieser Welt nach 1989 üblich war?

    Die Maueröffnung bedeutete im kollektiven Empfinden der meisten Westdeutschen die Aufnahme von 20 Mio. Deutschen mit Migrationshintergrund ohne Ortswechsel, wobei sehr viele (Mio.) auch nach 1989 rübermachten. 30 Jahre Soli für "blühende Landschaften" wurden zur Lebenslüge beider Seiten.

    Treffen sich ein Ossi und ein Wessi. Sagt der Ossi: "Wir sind ein Volk." Antwortet der Wessi: "Wir auch!"

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