Sonntag, 5. Juli 2020

Weiße Zeitdiebe


Arztbesuche mag ich nicht. Natürlich habe ich nichts persönlich gegen Ärzte. Die waren und sind meist in Ordnung. Klar, manchmal gerät man an einen echten Arschzt, aber das lässt sich verschmerzen. Die prinzipielle Nützlichkeit der weißen Zunft ist eh unbestritten. Angst habe ich auch keine. Spritzen machen mir nichts aus, bei diversen Tests lagen meine Blutwerte immer im Normbereich. Wirksame Medikamente finde ich cool und Impfen sinnvoll, scheiß auf Chemie und Pharmamafia. Und die Mahnung, vielleicht mal ein paar Kilo abzunehmen? Den kann ich immer noch kontern mit dem Hinweis, mich selbstverständlich regelmäßig zu bewegen. Und zu sagen: "Ja, hm, da haben Sie schon recht, ich sollte wirklich mal was tun." Mehr passiert ja nicht bei so einem normalen Hausarztbesuch, weil wenig Zeit.

Zeit aber ist ein gutes Stichwort. Die Arztbesuche meiner Kindheit und Jugend waren vor allem mal zeitraubend. Die Aussicht auf endlose Warterei machte mich immer mürbe. Die Dauer der Behandlung stand meist in solch krassem Missverhältnis zur Wartezeit, dass ich mich irgendwann fragte: Was soll das alles? Was nützt die zusätzliche Lebenserwartung, die einem so ein Heilkundler zweifellos verschaffen kann, wenn man einen Teil davon gleich wieder im Wartezimmer liegenlässt? (Vielleicht sind das auch nur Luxusgedanken, die man sich leisten kann, wenn man zum Glück noch nie ernstlich krank war.)

Da war Dr. T., der Hausarzt meiner Kindheit. Ein liebenswürdiger älterer Herr, der zudem mit dem Talent gesegnet war, fast schmerzlos Spritzen geben zu können. Er saß, nein, thronte meist an seinem riesigen Schreibtisch, hinter dem er aber kaum zu sehen war, weil sich darauf riesige Mengen Gratisproben diverser Pharmahersteller türmten. Seine Schrift war dermaßen unleserlich, dass ich mich noch heute frage, wie die Apotheker der Gegend es schafften, nicht infolge Lesefehlern ganze Straßenzüge zu vergiften. Wer weiß, vielleicht waren im Pharmaziestudium damals Vorlesungen in Ägyptologie und Keilschrift B obligatorisch. Sollte je eine Krankenkasse auf die Idee gekommen sein, eine seiner Patientenakten anzufordern, man hätte zwecks Entziffern ein internationales Team aus Kryptographiespezialisten zusammentrommeln müssen.

In einem Nebenraum war ein gewaltiges Röntgengerät untergebracht. Das hätte auch sehr gut in das unterirdische Geheimlabor eines irren James Bond-Bösewichts mit Weltherrschaftsambitionen gepasst, wenn es nicht in diesem Fußnagelbeige lackiert gewesen wäre. Wurde man geröngt und die Höllenmaschine feuerte ihre knapp noch nicht tödliche Strahlendosis auf einen ab, dann flackerte draußen, wenn es schon dämmerte, immer die Straßenbeleuchtung. Heute steht die Apparatur vermutlich im Deutschen Museum in München. Nach Dekontamination und Abnahme durch das Bundesamt für Strahlenschutz. Gegen eine einzige Thoraxaufnahme dieser Antiquität dürften zwei Schachteln filterlose Gauloises oder Roth Händle pro Tag ein Schiss gewesen sein.

Nicht nur im Umgang mit Zigaretten, sondern auch mit diverser Radioaktivität war man damals noch recht sorglos. Meine Tante hatte Ende der Sechziger eine Lehre zur Verkäuferin in einem Schuhgeschäft gemacht. Dort gab es nicht nur ein Karussell und Lurchi-Hefte für die Kinder, sondern auch ein so genanntes Pedoskop, ein permanent laufendes Röntgengerät, unter dem man seine Füße durchleuchten und die Kinder gleich mit verstrahlen konnte. Fand niemand was dabei.

Dann war da Dr. F., mein früherer Zahnarzt. Auch er ein netter Mensch. Doch, menschlich echt in Ordnung. Leider hatte er die Angewohnheit, einem nur dann eine Betäubungsspritze zu geben, wenn er einen Zahn zog, und selbst dann erst nach reiflicher Überlegung. Wenn er mir eine meiner zahllosen Füllungen verpasste, dann sagte er immer: "Ach, für das bisschen Bohren brauchen wir doch keine Spritze, was?" Um mich dann eine gefühlte halbe Stunde lang mit seinem Folterwerkzeug zu malträtieren. Noch heute frage ich mich, wieso angesichts der Menge an Amalgam, die der Mann über die Jahre in meiner Mundhöhle verbaut hat, nicht sämtliche Metalldetektoren angeschlagen haben. Mein jetziger Zahnarzt, der das alles - mit Betäubung -  nach und nach durch Kunststoff ersetzt hat, bezeichnete meinen Mund zu Beginn mal als Altmetalllager. Zinnsoldat hätte auch gepasst.

Die Krönung des ganzen war Dr. B., seines Zeichens HNO-Arzt und vor allem Allergologe. Bei ihm sollte ich mittels Hyposensibilisierung meinen Heuschnupfen loswerden. Dazu bekam ich nach einem äußerst schmerzhaften Allergietest über mehrere Jahre jede Woche einen eigens auf mich abgestimmten Allergencocktail unter die Haut gespritzt, auf dass mein Immunsystem sich an die Störenfriede gewöhne und sich mal entspanne.

Zwar hatte Dr. B. fachlich einen sehr guten Ruf, ging aber sowohl im zwischenmenschlichen Umgang als auch handwerklich mit dem Feingefühl eines Braunkohlebaggers zu Werke. Mussten kleine Kinder zu ihm in Behandlung, kamen sie danach immer tränenüberströmt wieder heraus. Einmal klagte ich über häufige Halsschmerzen, woraufhin er binnen 5 Sekunden meinen Kopf wortlos an eine Stütze knallte, mir ein langes Stahlrohr bis zum Kehlkopf in den Rachen rammte, den er dann mit irgendeiner aggressiven Flüssigkeit, vermutlich verdünnte Schwefelsäure, einsprühte und, während er grußlos enteilte, im Befehlston etwas bellte, das ich nicht verstand. Nachzufragen hätte ich mich eh nicht getraut.

Als ich benommen wieder herauswankte, quoll mir noch Qualm aus Hals und Ohren. Ich fragte mich, wie wohl die Lehrzeit dieses Grobmotorikers ausgesehen haben mochte. Vermutlich kriegsbedingt Notabitur und Schnellstudium, danach als erste Karrierestation ein Feldlazarett an der Ostfront. Wäre vom Alter her hingekommen.

Eines aber hatten alle gemeinsam: Man musste warten. Warten, warten, warten und nochmals warten. Wartenwartenwarten. Termin? Ja, der war bindend. Für den Patienten. Erschien man nur wenige Minuten zu spät, kassierte man einen Anschiss von wegen, so gönge das aber nicht, na ja, ausnahmsweise, aber das sei jetzt wirklich das letzte Mal. Erschien man pünktlich, sagten die Medizinischen Fachangestellten, die früher Sprechstundenhilfen hießen, immer: "Nehmen Sie bitte noch einem Moment im Wartezimmer Platz!"

Ich lernte bald, so ein Moment konnte lang sein. Seeehr lang. Unfassbar lang. Einen halben Nachmittag mitunter. Irgendwann, als ich älter wurde, fragte ich mich: Meinen die das eigentlich ernst mit dem Moment oder ist das Zynismus? Lebten die am Ende ihren Frust, in einem klassischen Frauenberuf ohne Perspektiven gelandet zu sein, genüsslich an hilflosen Patienten aus? Smartphones und Tablets zum Überbrücken der Warterei gab es noch nicht, ein Walkman im Wartezimmer? Undenkbar. Wer kein Freund der Literatur war und kein Buch dabei hatte, musste mit den ausliegenden Zeitschriften vorlieb nehmen. Lesezirkel. In diesen braun gemusterten Schutzumschlägen, die aussahen wie der Teppichboden bei Omma und Oppa.

Man glaube bloß nicht, dass man als Privatpatient besser dran war. Einer meiner letzten Besuche bei Zahnklempner Dr. F. fand zu einer Zeit statt, in der ich berufsbedingt privat versichert war. Ich dachte so: Ha, willkommen auf der Überholspur! Einmal im Leben sagen können: Bye bye, AOK-Plebs, eure Armut kotzt mich an! Eigenes VIP-Wartezimmer! Eine Lounge mit verstellbaren Liegesesseln, Klimaanlage, gedämpfter Musik, Kaffeebar und Häppchen! Kurze Wartezeiten, kurze Wege! So stellte ich mir das ungefähr vor in meiner mit galaktisch nur höchst unzureichend umschriebenen Naivität.

Doch weit gefehlt! Pustekuchen mit Sahne. Gerade mal zwei Dinge änderten sich. Die Sprechstundenhilfe sagte jetzt nicht mehr: "Nehmen Sie bitte noch einem Moment im Wartezimmer Platz!", sondern: "Ich muss Sie leider bitten, noch einen ganz, ganz kurzen Moment im Wartezimmer Platz zu nehmen." Daraus wurden dann auch wieder fast zwei Stunden. Und zwar in exakt dem Wartezimmer, von dem ich schon jede Macke in jeder Fußleiste und jede Falte in der Gardine kannte. Der andere Unterschied war, dass der Doc mir immer wieder sagte, ich solle unbedingt mit meiner Versicherung reden, ob die auch Goldfüllungen übernähmen. Um sich ansonsten so schmerzhaft an mir zu schaffen zu machen wie eh und je. Ach ja, den ganzen Papierkram mit den Rechnungen hatte man natürlich auch am Hals.

Am schlimmsten waren diese Allergiespritzen bei Dr. B. Die reine Pest. Ich wartete meist weit über eine Stunde, manchmal eineinhalb, bis der Herr Medicus mal die Zeit fand, mir im Vorbeigehen die verdammte Spritze in den Deltoideus zu dömmeln. Danach musste ich eine weitere Stunde im Wartezimmer zubringen, für den Fall, dass ein allergischer Schock meinem noch jungen Leben ein jähes Ende zu setzen trachtete. Muss man als junger Mensch seine Zeit mit Warten vergeuden, dann findet man das ja normalerweise bloß ärgerlich. Nicht wie in der zweiten Lebenshälfte, wenn man dazu neigt, jegliche Wartezeit als Diebstahl der zunehmend kostbar werdenden Restlaufzeit begreift.

Ich brach die Behandlung dann irgendwann ab. Wenn sich seither meine zum Glück recht undramatische Pollenallergie meldet, dann werfe ich eine Zeitlang ein rezeptfreies Antihistaminikum ein und gut ist.

Ach so, dann waren da noch die indirekten Arztbesuche. Botengänge, die ich als Kind oft für meine selige Oma unternehmen musste. Die Dame war vom unerschütterlichen Glauben beseelt, dass es für alles irgendeine Tablette gab. So hatte sie am Ende ihres Lebens einen Medikamentenvorrat angehäuft, der eine Dorfapotheke hätte verblassen lassen. Küche/Haushalt, Arzt, Apotheke, Kirche, Friedhof – das waren jene Fixsterne, um die Omas Leben lange planetengleich kreiste. Als sie irgendwann nicht mehr gut zu Fuß war, wurde delegiert. So musste ich alle paar Tage zu Dr. H., ihrem Hausarzt, ein telefonisch bestelltes Rezept abholen. Und, was bekam ich da zu hören? Genau: "Wartest du noch einen Moment im Wartezimmer?"

Es ist die Kindheit. Ich kann nichts dafür.





2 Kommentare :

  1. In dem Buch von Nancy Henley "Körperstrategien" (https://www.amazon.de/Körperstrategien-Geschlecht-Macht-nonverbale-Kommunikation/dp/3596247160) wird erklärt, dass das Wartenlassen ein Herrschaftsinstrument ist. Die statushöhere Person läßt grundsätzlich warte n, während sich die Unterlinge dies nicht erlauben dürfen. Es dokumentiert, dass die Zeit des Wartenden weniger wert ist, als die des Zeiträubers.

    Bei stationären Aufenthalten treibt der weiße Zeitdiebstahl regelrechte Blüten. Morgens um 7.00 Uhr mußt Du das Op-Hemdchen anziehen und um 13.00 Uhr holen sie Dich ab, sofern die Op nicht wegen irgendwelcher "Notfälle" komplett verschoben wird.

    Stefan: Zahnmedizin, Orthopädie und Kardiologie kannste vergessen, das größte Schmerzpotenzial hält die Urologie bereit (z. B. Blasenspiegelung ohne Betäubung). Kommste auch noch hin.

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  2. Allergie: versuchs mal mit einer täglichen Nasendusche. Etwas Natron und Kochsalz rein in den Spender, lauwarmes Wasser drauf und ab gehts.
    Wirkt erstaunlich gut. Einen Versuch ist es wert, es schadet nicht und kosten tuts auch nichts. Hab schon seit zwei Jahren keine Beschwerden mehr. Die Anti-Histamine haben mich immer müde gemacht und den Affenzirkus beim Allergologen wollte ich auch nicht mehr mitmachen.

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