Freitag, 3. Juli 2020

Programmatik, nostalgisch


Wem ein wenig nach Nostalgie ist, dem sei die Lektüre des Erfurter Programms der SPD von 1891 hiermit anempfohlen. Keine Sorge, es dauert nicht lange. Wer es liest, begreift auf einmal, wieso diese Spezialdemokratie einst eine geachtete, von einigen geradezu gefürchtete Partei war.

Diese kraftvollen Worte! Diese glasklaren Forderungen! Überhaupt, diese Klarheit in der Sprache! Sätze wie geschmiedet. Vor allem aber diese genau richtige Ansprache der Arbeiter (die oft gerade mal lesen und schreiben konnten): Kein paternalistisches Betütern, keine verschwurbelte Herrschafts- aber auch keine ('einfache') Quasi-Kindersprache. Und wie kurz das war! Konnte sich noch der müdeste Malocher nach Feierabend draufschaffen. Kein Zweifel, hier waren echte Könner am Werk.

Und das Beste: Die Genossen haben dieses kleine Meisterwerk politischer Programmatik damals völlig ohne PR-Berater, Strategieteams, Corporate Design Manual und Wahlkampfmanager hinbekommen. Heute nimmt man zur Kenntnis, dass ein ehemaliger Topsozi sich vom ostwestfälischen Swinetönns hat einkaufen lassen und denkt sich: Was soll‘s? Wen wundert‘s noch?

Fun fact: Das aktuelle (Hamburger) Programm der Alten Tante bringt es auf nicht weniger als 79 Seiten. Allein die Präambel ist länger als zwei Erfurter Programme.

Aber es kommt noch doller. Das war noch längst nicht alles. Die CDU war mal antikapitalistisch. Echt. Im Ahlener Programm, 1947 verfasst unter der wohlwollenden Ägide des Genossen Konradin Johannowitsch Adenauerski, liest man gleich zu Beginn das folgende:

"Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn-  und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein."

Und heute? Hat der Verein den Superkapitalisten und Superdemokraten Fritze Merz am Start. Der empfiehlt nicht nur Leuten, die Angst vor Altersarmut haben, doch einfach in Aktien zu investieren. Der fährt als Nicht-Mandatsträger einer Luisa Neubauer über den Mund, sie solle doch erst einmal für den Bundestag um ein Mandat kandidieren, dann könne sie auch mitreden. Und niemand lacht schallend.

Das (noch) aktuelle Grundsatzprogramm der Union von 2007 bringt es übrigens auf 123 Seiten. Ein Neues ist in Arbeit. Werden sie die 200-Seiten-Marke knacken? Ich bin schon so gespannt!




8 Kommentare :

  1. Was nutzen Programme, wenn sie nicht Programm sind?

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  2. Es ist müßig, sich noch mit der Spezialdemokratie zu befassen. Als ich vor vierzig Jahren anfing, mich für Politik zu interessieren, hat ein SPD-Ministerpräsident bei uns die Startbahn West durchgeknüppelt und ein SPD-Kanzler hat den NATO-Doppelbeschluss durchgesetzt. Wozu sich noch mit den Werbeprospekten aus dem 19. Jahrhundert befassen?

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    1. Nun, es wird dem einen oder anderen der geneigten Leser aufgefallen sein, dass die Überschrift das Wort 'nostalgisch' enthält...

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  3. @ Stefan

    Auch mein Rückblick ist nostalgisch. Egal, welche Epoche man seit Gründung der SPD nimmt - immer ist es deprimierend und traurig. Nur die fünf Jahre mir Willy als Kanzler bekommen lieb gemeinte zwei von fünf Sternen.

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    1. Ich würde noch die zwölf Jahre von 1933 bis 1945 dazurechnen. Da machte die SPD eine hervorragende Figur. Entweder im Untergrund oder im Exil.

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  4. @ Stefan

    Das ist richtig. Aber als es nach dem Kaiserreich, in dem die SPD die Arbeiterschaft organisiert hat, 1918 endlich eine Republik gab, hat die Partei nun einmal historisch versagt. Ausgerechnet beim Urknall der Demokratie stellte sich die Partei auf die Seite der Kapitalfraktion und fiel den Arbeitern in den Rücken. #Noske

    Davon hat sich die Partei nicht mehr erholt. In Weimar vertrat die KPD das Proletariat. Und wenn ich mir heute einen Ex-SPD-Chef im Bundestag anschaue, der die Interessen eines Gaskonzerns vertritt, und einen anderen Ex-SPD-Chef, der den Leuten erklärt, 10.000 Euro wären vielleicht für sie viel Geld, aber nicht für ihn als Bank-Aufsichtsrat, wird mir nur noch übel. Da tröstet mich auch keine Nostalgie.

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    1. Gab andere, die nur Reden hielten, wie z. B. Steinbrück, Clement, Steinmeier, Tiefensee, um nur einige zu nennen, die dafür 25 k die Stunde kassierten, während die Aufstockerin ihren prekären Job wegen Sternipfandbons gleichzeitig verlor...Genau die Welt, die der normale Deutsche favorisiert.

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  5. "sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein."

    Jau, kommt drauf an, was man unter Wohlergehen versteht. Wenn man darunter Fernseher + 500 Programme, Autos, billige Nahrung, Urlaubsreisen, 20 Paar Schuhe und 500 Kleidungsstücke versteht, dann wurde die Mission ja wohl erfüllt.

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