Samstag, 22. Januar 2022

Jenseits der Blogroll - 01/2022


Zu den Fundstücken des Monats. Das mit Abstand traurigste war das, welches vom überraschenden Tod der Kollegin Mühlstein kündete. Zwar gab es keinen persönlichen Kontakt, doch bedeutete Mechthild als Mitbloggerin mir sehr viel. Wegen ihres scharfen Verstandes, ihres reflektierten, aber nie theorielastigen Linksseins (ich habe da viel von ihr gelernt und bin sehr dankbar) und wegen ihrer nie versiegenden Diskussionsbereitschaft. Ihr kultureller Horizont war riesig, vor allem aber war sie in diesen verückten Zeiten, in denen etliche Blogger sich leider ins Spralloland verabschiedet haben, eine unverdrossene Streiterin gegen jedwede Verschwörungsspinnereien und für Wissenschaftlichkeit. Diese Lücke wird bleiben. Möge sie in Frieden ruhen. (Einer dieser Momente übrigens, in denen ich als Agnostiker gern gläubig wäre).

Aber the show must go on. Hilft ja nix. Jetzt vor Trauer hinzuwerfen, wäre vermutlich nicht in ihrem Sinne gewesen.
 
Ein Interview mit Noam Chomsky u.a. über Donald Trump.

"Die Republikaner haben seit Nixon verstanden, dass sie mit ihrer Politik im Grunde überhaupt keine Wählerbasis mobilisieren können. Man kann nicht einfach zu den Wählern gehen und sagen: Ich arbeite nur für die großen Konzerne und die Reichen, wählt mich! Also muss man das Thema wechseln. Die Menschen sollen sich um alles andere, nur nicht um die eigentliche Politik Gedanken machen. Zum Beispiel über den vermeintlichen Niedergang der weißen Rasse." (Chomsky, a.a.O.)
 
 
Die Psychiaterin Heidi Kastner über Dummheit.

"Dummheit ist vor allem mal [...] diese unhinterfragbare Überzeugung, im Besitz der Wahrheit zu sein, und zwar ohne Zweifel. Damit geht auch die anmaßende Position einher, zu allem eine bedenkenswerte Meinung beziehen zu können, ohne sich über das Thema gründlich zu informieren. Der Glaube, eh genug zu wissen, nur wenn man einmal irgendwo etwas gehört hat, und daraus eine Position beziehen zu können, das ist Faulheit oder Indolenz. Man bemüht sich nicht um ordentliche Entscheidungsgrundlagen und folgt seinem Bedürfnis, mit einem Schild herumzurennen, ohne seine Position zu überdenken oder sich für seine eigene Position verantwortlich zu fühlen [...].
 
Dummheit ist aber auch eine völlig fehlverstandene Toleranz, die meint, man müsse alles gelten lassen. Das muss man nicht. Man muss auch nicht jede Meinung wertschätzen. Alles verstehen bedeutet bekanntlich, alles zu verzeihen - was W. S. Maugham als Mentalität des Teufels bezeichnet hat." (Kastner, a.a.O.)

Houssam Hamade über die ersten 'Gastarbeiter' vor 60 Jahren.

Man kann es nicht oft genug wiederholen: Einzugsermächtigungen sind cool. Es ist supereasy, eine Lastschrift wieder zu stornieren (Anruf bei der Bank genügt), um eine Überweisung zurückbuchen zu lassen, ist man hingegen auf das Wohlwollen des Begünstigten angewiesen.

Kultur/Gesellschaft/Gedöns. Ein Glaubenskrieg, den nur kennt, wer in Westdeutschland bis ca. 1990 zur Schule ging: Geha oder Pelikan? Die Coolen waren aber ab den Achtzigern eh zu Lamy gewechselt.

Haben Sie’s gewusst? Heuer werden sowohl die 'Bravo' als auch die 'Rentner-Bravo' genannte 'Apotheken-Umschau' beide 66 Jahre alt. Glückwunsch.

Musik. Wie klönge diejenige des professionellen Unterhaltungsarbeiters Ingo ohne Flamingo wohl, wenn er sein Leben 300 Jahre früher zugebracht hätte? (Magnus Dietrich, Tenor, accompagniert von Anna Gebhardt am Pianoforte.)

(Video im erweiterten Datenschutzmodus. Anklicken generiert keine Cookies.)

 
Christoph Dallert über Krautrock. Affine lernen dort gewiss nichts Neues, doch ich ward entzückt, dass dieses in Deutschland nach wie vor sträflich vernachlässigte Genre überhaupt mal irgendwo auftaucht.

Essen/trinken/gut leben. Jakob Strobl y Serra über das nach Grundsanierung und Umbau wiedereröffnete 'Tantris' in München. Ein Gesamtkunstwerk.

Vincent Klink über Tischsitten und Aufgeblasenheit.

Eine bildersatte Reportage der Kochgenossen über die 'Sodas' von Costa Rica. Kleine, familiengeführte Betriebe, in denen man für kleines Geld ein handfestes, hausgemachtes Essen bekommt.

Das Rezept. Rainer Balcerowiak bereitet als Festtagsbraten eine Rehkeule zu. Mit Wild wurde und wird ja viel Unfug angestellt. Meist aus falsch verstandener Tradition.

"Alle Wildarten haben ihre geschmacklichen Eigenarten, deswegen: Bitte keine fertigen »Wildgewürz«- Mischungen verwenden, denn dann hat man die Kontrolle über sein (kulinarisches) Leben verloren. In Kürze wird die Geschmackspolizei eine entsprechende Fatwa erlassen. Bereits jetzt bei Strafe verboten ist das »Beizen« oder »Marinieren« [...]. Das machen nur Menschen, die eigentlich kein Wild mögen und den Geschmack so gut wie möglich verdrängen wollen [...]. Eine weitere Unsitte ist es, die Keule vor dem Braten mit Speckscheiben einzuwickeln, weil sie sonst angeblich »zu trocken« wird. Das ist - mit Verlaub - Unfug.

Das findet auch der Ernährungssoziologe Daniel Kofahl. Bei der Speck-Variante müsse er an Menschen denken, »die auch Wachskerzen verzehren oder Döner-Pizza essen«. Man müsse halt »gegebene Beklopptheiten hinnehmen, in Zeiten, in denen ein wohl insgesamt orientierungsloses Publikum auch Mario Barth oder Lady Bitch Ray als irgendwie 'lustig' oder 'unterhaltsam' ansieht«." (Balcerowiak, a.a.O.)

Natürlich gibt es Gründe für solche Unsitten. Einst ließ man erlegtes Wildbret im Fell oder in den Federn hängen, bis es halb verwest war. Das strenge Aroma wurde als 'Hautgout' (i.e. 'hoher Geschmack') zum Ideal geadelt. Jagden waren als alleiniges Privileg des Adels fast immer Treib-, Drück- oder Parforcejagden. Das Fleisch von stundenlang gehetzten Tieren aber ist durch den Stress einer solchen Hatz ungenießbar und nur noch als Tierfutter geeignet. Durch die Zersetzungsprozesse beim Abhängen machte man es wieder mürbe. Dem besagten Hautgout begegnete man durch reichlichen Einsatz kräftiger Gewürze wie Wacholder, Nelken, Piment, Lorbeer etc. sowie durch Süßen, etwa mit Johannisbeergelee (womit sich nebenbei Reichtum demonstrieren ließ).

Wird ein Tier sauber und waidgerecht erlegt, also durch Pirsch- oder Ansitzjagd, ist das alles überflüssig. Das Tier leidet nicht, der Tod trifft es unerwartet, sodass Stresshormone gar nicht erst anfluten. Wildbret, das man beim Jäger kauft, stammt fast immer aus solcher Jagd und man kann es wie jedes andere Fleisch zubereiten. Rehe beispielsweise sind die Feinschmecker unter den einheimischen Wildtieren und das zarte, duftige Aroma der von ihnen besonders geschätzten jungen Nadelbaumtriebe überträgt sich ins Fleisch. Eine Sünde, da mit Speck, Marmeladen und Glühweingewürzen geschmacklich draufzuprügeln.






5 Kommentare :

  1. Alleine ihre "lesenswerte Artikel" unendlich stark.
    Mit welch einer detalierten Akribie sie Wirtschaftsliberalismus und dessen libertären Arm analysiert und auseinandergenommen hat (Liberalala und den Mehrteiler über den US Propagandastreifen gegen den Mindestlohn).
    Ihr Intresse für Bioloogie und der Zoologie war mir immer ein besonderes Vergnügen, auch da habe ich von ihr gelernt und von mir liebgewonnene Positionen gründlich überdacht (böse, böse Gentechnik).
    Es ist schade das ich ihr das nicht mehr persönlich schreiben kann.

    Und na klar, ich finde es schön wenn Du weiterhin noch lange schreiben wirst. Was soll ich sonst ohne den Blogroll machen?

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  2. Ach Gottchen, das „Gesamtkunstwerk“ Tantris. Ich muss gestehen, die Lektüre des Artikels wegen aufkommenden Ekels abgebrochen zu haben, bin aber dennoch angesichts dieses Fotos zu der Vermutung gekommen, dass hier ein großer Irrtum vorliegt: Es handelt sich hier nicht um ein Lokal namens Tantris, sondern eine TARDIS, und gereicht wird außerirdisches Essen für Wesen mit deutlich robusteren Verdauungsorganen, denen unzureichend gegartes Geflügel und rohe abwasserfiltrierende Molluske nichts anhaben kann.

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    1. Man kann sich auch einfach mal entspannen. Wenn die Lektüre nicht wegen Ekels abgebrochen worden wäre, dann wäre eventuell die Erkenntnis angekommen, dass man im 'Tantris' in Zukunft auch die klassische Grande cuisine pflegen will. Gegen eine a point gegarte Entenbrust ist so wenig etwas zu sagen wie gegen ein Steak medium, und zum Verzehr bestimmte Austern filtern normalerweise kein Abwasser. Ist halt die Formel 1 des Kochens und der Gastronomie, aber mit nem 15 Jahre alten VW Polo kann man natürlich auch fahren.
      Und diejenigen, die dort nicht aus Lust und Freude essen, sondern nur wegen dicker Hose, um damit sozialen Status zu demonstrieren, sollte man eh nicht ernst nehmen.

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    2. Man muss beim Tantris an die Zeit denken, in der der Laden gegründet wurde. Damals war Essen auf hohem bis höchsten Niveau hierzulande eine stocksteife Angelegenheit in Lokalen, die auf "foin" machten, mit Kellnern in dunkler Decke, Ölgemälden an der Wand, plüschigen Vorhängen an den Fenstern, eine total vorgestrige Angelegenheit. Und plötzlich gab es da einen Ort, an dem man sehr gut essen konnte und der aussah wie die Disco aus "Raumpatrouille". Das hat die Gastro-Spießer abgeschreckt und gleichzeitig einen Haufen junger Menschen angelockt, die so begannen, sich für gutes Essen zu interessieren. ICh hab 1975 bis 78 in München studiert und gearbeitet, ich fand das toll und bin einmal rein, nachdem ich das Geld dafür zusammengespart hatte. War ein toller Abend, an den ich heute noch gern denke. Nicht nur der sehr guten Küche wegen, von der ich damals noch keine AHnung hatte. Das Tantris hat einfach Spaß gemacht, damals.

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