Freitag, 28. April 2023

Spurensuche

 
Es gibt durchaus so etwas wie die Ungnade der späten Geburt. Denn für den 'Baum' war ich zu jung. Der 'Baum' war eine Szenekneipe in meiner Heimatstadt. In einem Gründerzeitbau mit hohen Decken und neuromanischen Gewölben. Der Name kam daher, dass drinnen ein echter Baum stand. Keine Ahnung, was für einer. Als der Laden 1983 schloss, war ich noch nicht im kneipenfähigen Alter. Wäre ich ein paar Jahre älter, ich hätte wohl dauernd dort abgehangen. Unter anderem, weil es keinen Verzehrzwang gab. Der Laden verstand sich nicht als reine Kneipe, sondern als soziokultureller Treffpunkt. In den späten Siebzigern funktionierte so was. Zumindest eine Zeitlang.

Streit hätte es zu Hause allerdings gegeben. Vielen, darunter meinen Eltern, war das Etablissement nämlich höchst suspekt. In diesem Sündenbabel, dieser Opiumhöhle liefen ihrer Meinung nach bloß Linksextreme und andere Tunichtgute herum. Und Männer mit Ohrrinhgen. Vor allem kursierte Geschichten über langhaarige Haschbrüder, die arglose, behütete Kinder zu Drogen verführten, auf dass sie, wie in der ungefähr zur selben Zeit erschienenen Christiane F.-Verfilmung ' Wir Kinder vom Bahnhof Zoo' zu sehen, alsbald an der Nadel hingen und zwecks Finanzierung alte Damen ausrauben oder diverse Körperteile in übel beleumundeten Gegenden feilbieten mussten. Es gab auch viele Beschwerden von Anwohnern wegen nächtlichen Lärms.

Ein, zwei Jahre nach der Schließung residierte in denselben Räumen für ein paar Jahre eine Schicki-Kneipe mit Namen L'Arbre. War ich nie drin, aus Prinzip. Danach: Imbissbude, China-Restaurant, Leerstand. Jetzt zur Hälfte SKF-Treffpunkt/-Beratungsstelle und Tattoo-Studio. Immerhin erinnert der Name 'Begegnung im Bäumchen' an die Vergangenheit.


Ein paar von denen, die einst im 'Baum' als Aushilfen arbeiteten, haben später selbst Kneipen betrieben. Der letzte hat sich gerade in den Ruhestand verabschiedet. Erkennbar sind diese Läden daran, dass sie 'Kaffee spezial' führen. Das war die Spezialität im 'Baum' (heute hieße das wohl Signature Drink oder so ähnlich). 'Kaffee spezial' geht folgendermaßen: Man befülle ein 2 cl-Schnapsglas zur Hälfte mit Bananenlikör und fülle mit Filterkaffee auf. Nicht nippen, kippen! Klingt arg pervers, die Mixtur, ist aber überraschend trinkbar. Für das authentische Seventies-Feeling empfiehlt es sich übrigens, den Kaffee einige Stunden auf der Warmhalteplatte der Kaffeemaschine nachsäuern zu lassen.

Es war die hohe Zeit der Bürgerinitiativen. 1975 wurde hier als eines der ersten 'soziokulturellen Zentren' in einer alten Nagelschmiede in der Innenstadt die 'Altstadtschmiede' gegründet, die es noch heute gibt. Das war eines von mehreren Projekten in den 1970er, in denen Jugendliche und junge Leute sich in Initiativen zusammentaten und bei der Kommunalpolitik Freiräume und Förderungen für sich herausholten. 


Und es war die hohe Zeit der 'Stattzeitungen' Man tat sich zusammen, klöppelte ehrenamtlich eine Zeitung zusammen und sah zu, die Druckkosten per Anzeigen und/oder Fördergeld wieder hereinzubekommen. Einige professionalisierten sich im Laufe der Jahre, aber die meisten, darunter auch so berühmte wie 'Zitty' (Berlin), 'Pflasterstrand' (Frankfurt) und 'Marabo'/'Prinz' (Ruhrgebiet), gaben irgendwann auf. Übrig sind heute nicht mehr viele.

Hier hieß die örtliche Stadtzeitung 'Holzwurm' und erschien von 1976 bis 1988. Zwischendurch führte man einen eigenen, von der Kommune geförderten Laden, aus dem später die noch heute bestehende Buchhandlung 'Attatroll' bei mir um die Ecke hervorgegangen ist. Ralf Kropla, Redakteur von der ersten bis zur letzten Ausgabe und immer noch Mitinhaber eben jenes Attatroll-Buchladens hat eine wunderbare Webseite aufgesetzt, auf der alle Ausgaben als PDF abrufbar sind. 


Sich da durchzulesen, ist eine Zeitreise. Wer selbst zu dieser Zeit bei so einem Projekt mitgemacht hat, etwa bei einer Schüler- oder Gemeindezeitung, erkennt vieles wieder. Die getippten Seiten, das weitgehend kenntnisfrei zusammengetackerte Layout, die handschriftlichen Überschriften, die meist eher minder lustigen, schwer zu entziffernden Comics, die Kochrezepte (damals ging es durchaus als Salat durch, den Inhalt einer unabgetropften Dose Thunfisch in Öl mit dem einer abgetropften Dose Mais zu vermischen). Und vor allem, was für einen Scheiß man damals auf so was wie Copyrights gab. Was passend schien, kam in die Zeitung. Schien niemanden zu stören.

Natürlich ist es leicht, sich mit dem Abstand von Jahrzehnten darüber lustig zu machen, sehr leicht. Aber das noch heute spürbare Herzblut dahinter, der Abplomb, der unbedingte Wille, was auf die Beine stellen, was bewegen zu wollen, vermag noch heute zu berühren. Und man bewegte durchaus was, piesackte das Establishment. So kritisierte der 'Holzwurm' 1982, dass die hiesige 'Recklinghäuser Zeitung' sich hartnäckig weigerte, im Veranstaltungskalender die Termine für die Treffs einer neu gegründeten Lesbengruppe zu veröffentlichen. Die Antwort von Verlegerin Annemie Bauer auf eine entsprechende Anfrage, lohnt es, zitiert zu werden:

"Die Lesbengruppe, die anscheinend sehr stolz auf ihre besondere Veranlagung ist, übersieht, daß eine Ankündigung im Terminkalender unserer Zeitung nicht nur eine Erinnerung für Mitglieder, sondern gleichzeitig auch eine Werbung für neue Mitglieder ist. Die Verantwortung, daß normale Frauen aus Langeweile oder Neugier an Lesben-Treffs teilnehmen, mochten wir dennoch nicht übernehmen."

Jaja, die Achtziger! In diesen Zeiten 'sozialer' Medien ist das bestenfalls eine Schrulle, damals war es ein Scoop. Es braucht wenig Phantasie, sich auszumalen, dass die daran Beteiligten sich mindestens wie der nächste Egon Erwin Kisch gefühlt haben werden.

Spannend auch, die Entwicklung des Projekts während der beginnenden Digitalisierung zu verfolgen. Alles wurde professioneller, größer, weltpolitischer und kommerzieller. Die Texte wurden geschliffener, aus anfangs 12 getippten Seiten wurden 32 mit dem Computer gesetzte, man hatte irgendwann eine ISSN und was zunächst gratis war, kostete am Ende 2 D-Mark. Irgendwann ging es nicht mehr. 1988 erschien die letzte Ausgabe. 1989 dann der Versuch, das Ganze noch einmal unter dem Namen 'Zett' weiterzuführen. Damit war aber nach vier Ausgaben Schluss. 13 Jahre, immerhin.

Die Zeit der Do it yourself-Presse war wohl vorbei, erst in der Provinz, später dann auch in Groß- und Universitätsstädten. Warum, darüber lässt sich spekulieren. Der Trend zur Individualisierung hat sicher eine Rolle gespielt. Oder dass den kostenpflichtig und immer größer gewordenen Stattzeitungen ab den Achtzigern Konkurrenz erwuchs durch neue Publikationen wie 'Tempo', mit denen man weder inhaltlich noch in Bezug auf Gestaltung mithalten konnte und die nur unwesentlich mehr kosteten.

Es muss jedenfalls eine spannende Zeit gewesen sein. Leider war ich auch dafür ein wenig zu jung.






1 Kommentar :

  1. DasKleineTeilchen28. April 2023 um 18:06

    die blaupause aller stattzeitungen/magazine soll an dieser stelle nicht unerwähnt bleiben...(sorry, alte nachbarschaft & so)

    de.wikipedia dot org/wiki/Blatt_(Magazin)

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