Dienstag, 22. August 2023

Das Böse ist immer und überall

 
Regina Schillings Dokumentation 'Diese Sendung ist kein Spiel' versteigt sich zuweilen ins arg Verquaste. Das ist schade um die guten Ansätze.

Denjenigen, die sich für die Verfasstheit der Bundesrepublik West während der Nachkriegsjahre interessieren, kann Regina Schillings Dokumentarfilm 'Kulenkampffs Schuhe' von 2018 nicht genug empfohlen werden. Schilling verknüpft ihre eigene Familienbiographie, den sozialen Aufstieg ihres Vaters, der es als Drogist während der Wirtschaftswunderjahre 'zu etwas bringt', wie das hieß, mit den Biographien damaliger Fernsehgrößen wie Hans-Joachim Kulenkampff, Peter Frankenfeld, Horst Tappert und Hans Rosenthal.

Wir sehen, wie der Krieg sie alle geprägt hat. Kulenkampff, der sich bei Stalingrad selbst Zehen amputiert hatte, ließ sich am Ende jeder seiner Sendungen von 'Butler' Martin Jente, einem früheren SS-Mitglied, in den Mantel helfen. Über Tappert, der ab 1972 als Derrick zum Publikumsmagneten werden sollte, wurde erst nach seinem Tod bekannt, dass er Waffen-SS-Mitglied war. Der Film zeigt auch den beschämenden Umgang des ZDF mit Hans Rosenthal. Der hatte als Jude in Berlin mithilfe einer deutschen Familie Krieg und Shoah überlebt. Als am 9. November 1978 zum ersten mal offiziell der Gedenktag an die Pogromnacht 1938 begangen wurde, der 1978 auf einen Donnerstag fiel, hatte Rosenthal gebeten, die 'Dalli Dalli'-Sendung ausnahmsweise zu verschieben. Der Sender lehnte ab, Rosenthal moderierte im schwarzen Anzug, lächelte kaum und es wurde nur E-Musik gegeben.

Mit Schillings aktuellem Film 'Diese Sendung ist kein Spiel' habe ich hingegen meine Probleme. Nicht, dass der Film durchweg schlecht ist, im Gegenteil. Es geht um die von Eduard Zimmermann erfundene, von 1967 bis 2002 von ihm moderierte Sendung 'Aktenzeichen XY‘ ungelöst. Die ist vielen, die zu dieser Zeit aufwuchsen, darunter mir, vor allem dadurch in Erinnerung geblieben, dass sie sie nicht gucken durften. Schilling liest die Sendung, die von Beginn an umstritten, aber auch ein großer Publikumserfolg war, durchaus schlüssig als Produkt der zu Ende gehenden Ära Adenauer.

Daher hat Schillings Ansatz durchaus Charme: Sie zeichnet zunächst die kurvige Karriere Zimmermanns nach, inklusive Gefängnisaufenthalt in Bautzen, und erwähnt auch, dass es wohl kein Zufall war, dass seine Idee zur Sendung 1967 auf fruchtbaren Boden fiel. Auch dass das im tendenziell konservativen ZDF ausgestrahlt wurde, mochte damit zu tun haben, dass der Mainzer Sender einst auf Anregung Adenauers gegründet wurde, um als Gegengewicht zum 'Rotfunk' ARD zu fungieren.  

Denn ab dem Ende der Sechziger gerieten viele Nachkriegs-Gewissheiten ins Rutschen. Es gab nach scheinbar endlosem Boom erstmals Arbeitslosigkeit, der Staat verschuldete sich, es waren unter der Bezeichnung 'Gastarbeiter' Migranten im Land, im Ruhrgebiet starben plötzlich Zechen, die Kriminalität stieg und immer mehr junge Leute muckten auf. Viele fürchteten um ihre kleine, heile Welt, die sie sich aufgebaut hatten und die auch als Therapie gegen die Verwundungen des Krieges verstanden werden kann.

Auch in 'XY' erscheint die (Klein-)Familie als Bollwerk gegen alles Böse der Welt. Propagiertes Gegenmittel: Niemals die Pfade des bürgerlichen Anstands verlassen, sonst droht Übles. In den nachgespielten, vom Film noir-Fan Kurt Grimm inszenierten Fällen wird nicht selten gezeigt, wie meist Frauen, die es wagen, das bürgerliche Anständigkeitskorsett der Kleinfamilie zu verlassen oder junge Mädchen, die leichtsinnigerweise trampen und arglos zu fremden Männern ins Auto steigen, für ihre Verfehlung bitter bezahlen müssen. Das rührte ebenso an Urängste wie die Filme, in denen gezeigt wird, wie ruchlose Gangster hart arbeitenden Unternehmern an die sauer verdienten Penunzen wollen.

In der Welt von 'Aktenzeichen XY' kommen Ideen wie die, dass sexueller Missbrauch nicht selten im sozialen Nahfeld geschieht oder die, dass Frauen keineswegs nur 'da draußen' bedroht seien, sondern auch durch häusliche Gewalt, so konsequent nicht vor, dass man in der Tat schon Absicht dahinter wittern kann. Und das tut Schilling: Sie macht aus Eduard Zimmermann einen Kreuzzügler für die bürgerliche Kleinfamilie, der sich für keinen manipulativen Quark zu schade war. Und tut ihm damit, wie ich finde, unrecht. Denn das war damals, so weit ich mich erinnere, schlicht Konsens. Auch in unserem Sexualkundeunterricht Ende der Siebziger existierte kein Missbrauch innerhalb von Familien und -- Gott bewahre! -- erst recht nicht durch Priester. Da gab es nur den fremden 'bösen Onkel', der Kindern auf dem Schulweg auflauerte und wie Kai aus der Kiste aus dem Gebüsch kam.

Wenn Schilling Zimmermann unterstellt, er habe Frauen mit drastischen, abschreckenden Bildern zurück auf den Pfad der (bürgerlichen) Moral führen wollen, dann ist das zwar nicht ganz verkehrt, nur war Zimmermann definitiv nicht der einzige, der das propagierte. Und wenn Zimmermann einem homosexuellen Holland-Touristen, der von einem Lover brutal erstochen wird, attestiert, er habe sich seine Leidenschaften nicht freiwillig ausgesucht, dann kann man das entweder als lustfeindlich interpretieren, wie Schilling das tut, oder das für die damalige Zeit für geradezu progressiv halten. Spielte der Fall doch in einer Zeit, in der es Standard war, gleichgeschlechtlich Orientierten Lagerhaft oder 'ordentlichen', will heißen: heterosexuellen Sex als Therapie für ihre 'Krankheit' zu empfehlen.  

Vollends versteigt sich der Film, wenn er unterstellt, Zimmermann sei geradezu besessen gewesen davon, Mädchen und Frauen vom Trampen abzuhalten und das beinahe in die Nähe eines Fetischs rückt. Denn Trampen das sei doch, so Schilling, die große Freiheit gewesen, Ausbruch aus der bürgerlichen Enge, und das habe Zimmermann, der graue Herr im grauen Anzug, den Frauen vermiesen wollen, notfalls auch mithilfe frisierter Kriminalstatistiken. Dass, unabhängig von Statistiken, vielleicht nicht nur kleinbürgerliche Verklemmungen dagegen sprechen, sich allein zu wildfremden Menschen ins Auto zu setzen? Scheint nicht so wichtig. Und wenn sie ganz persönlich 'Aktenzeichen XY' die Schuld dafür gibt, dass sie nach dem heimlichen Schauen bis heute Angst hat, allein durch den Wald zu gehen? Nun ja. Dasselbe müsste dann aber für jeden Horrorfilmregisseur gelten, dessen Filme von Kindern heimlich geguckt wurden.

Überhaupt kommt an keiner Stelle zur Sprache, was für eine unglaublich piefige, enge Welt die BRD bis weit in die Achtziger war, als noch viele Kriegsteilnehmer im Herbst ihrer Karrieren an den Schalthebeln saßen. Dass in der 'Lindenstraße' nicht nur Geschiedene fröhlich weiter lebten und sich lustig weiter paarten, sondern sich -- shocking! -- Männer küssten, erhitzte damals monatelang die Gemüter. Wer eine Ahnung davon bekommen will, dem sei die 'Schwarzwaldklinik'-Folge 'Gewalt im Spiel' von 1986 empfohlen, die damals wegen unzumutbarer Brutalität zunächst nicht ausgestrahlt wurde. Heute denkt man eher so: "Hä?" Wenn man nicht vorher eingeschlafen ist. (Wer mag, kann sich auch Werbespots aus den 70ern und 80ern auf YouTube ansehen und staunen, welches Familienbild da vorgeführt wurde.)

Bei all dem stellt sich die Frage, ob Zimmermann tatsächlich den Zeitgeist beeinflusste oder lediglich auf dessen Wellenkamm ritt, beim Publikum einen Nerv traf. Bei Regina Schilling erscheint 'Aktenzeichen XY ungelöst' als "groß angelegtes Propagandaprojekt, mit dem Eduard Zimmermann die Frauen dazu bringen wollte, »brav zuhause zu bleiben« -- die jüngeren bei ihren Eltern, die älteren bei ihren Ehemännern und Kindern." (Niggemeier) Und das greift zu kurz. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass Schilling sich hier, anders als in 'Kulenkampffs Schuhe', wo sie eine ganze Reihe Nachkriegsmänner in den Blick nahm, darunter ihren Vater, den Blick nun verengt auf eine einzige Person. Und das tut der Sache, trotz interessanter Ansätze, nicht gut. Leider.


Der Film 'Diese Sendung ist kein Spiel. Die unheimliche Welt des Eduard Zimmermann' ist noch bis übermorgen in der Mediathek zu sehen. Wem das zu kurz ist, sollte rechtzeitig Abhilfe schaffen.






7 Kommentare :

  1. Ich hab den Film ebenfalls mit einer gewissen Verständnislosigkeit angeschaut. Ede Zimmermanns Beeinflussungspotenzial war eher gering, was vor allen Dingen an den grotesken Einspielfilmen lag, wo sich die Grotte von Deutschlands Amateurschauspielern ein Stelldichein gab. Ich hatte Ende der 70er als Regieassistent mal mit einem Schauspieler zu tun, der sich damit rühmte, der "meistbeschäftigte Schauspieler bei XY" zu sein. Nach drei Tagen wurde er gefeuert, das war jenseits aller professionellen Standards, was der anbot. Diese Filmchen haben m. E. nur sehr wenige Menschen Ernst nehmen können.
    Kleine Pingelei am Rande: Tappert war schon vor Derrick ein TV- und Kino-Schwergewicht, Durbridge, Wallace, Jerry Cotton. Seinen "Durchbruch" hatte er spätestens als Posträuber: https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Gentlemen_bitten_zur_Kasse

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  2. Es ist in den Medien inzwischen üblich, vergangene Zeiten durch die Brille der Gegenwart zu sehen. Man könnte auch kritisch anmerken, dass keine Transpersonen vorkommen und der Klimawandel verschwiegen wird.

    Anfang der 80er war ein Freund von mir bei XY. Nach ihm wurde wegen eines Polizistenmordes gefahndet. Am nächsten Tag war ich in der Schule natürlich stolz wie Oskar. Peter Hohl, der Assistent von Zimmermann, lebte bei uns in Ingelheim. Mit seinem Sohn war ich ebenfalls befreundet.

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    1. @Chris: Pingelei akzeptiert und korrigiert, danke. In der Tat konnte unsereins die gespielten Fälle ab einem gewissen Alter nicht mehr ernst nehmen. Ich glaube aber, mich zu erinnern, dass meine Großeltern da jedes Mal wirklich panische Angst hatten, wenn sie das sahen. Das mag aber vor allem an der damals weniger ausgeprägten Medienkompetenz in dieser Generation gelegen haben.
      @Bonetti: Was ist schon Chicago zu Zeiten Al Capones? Ingelheim, Seventies, the real shit...

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    2. An Beschwerden über grottenschlechte Schauspieler bei XY kann ich mich nicht erinnern. Als Kinder hätten wir das wahrscheinlich auch gar nicht mitgekriegt. Aber ich weiss noch, dass die Linke Anfang der 70er Jahre XY wegen Förderung von Denunziantentum anprangerte.

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  3. "Es ist in den Medien inzwischen üblich, vergangene Zeiten durch die Brille der Gegenwart zu sehen."
    Blöd nur, dass das keinen "von damals" interessiert.
    Oder " ex vulgo" von einem 1957-Geborenem: Steckt euch eure vom heutigen Hier-und-jetzt definierte Außensicht(!) itgendwo hin. Ahnungsloses Pack, besserwisseres Gesocks. Unter Adolf hätte es so etwas nicht gegeben.
    Scherz beiseite — allen Boomern, Bonetties und Roses kann ich nur raten — Ruhe bewahren und sich nicht vom Weg abbringen lassen. Dort wo heute noch die woken Handschellen klicken wie Kastangnetten, sollten morgen auf jeden Fall die eventuell kommenden "Swing-Back-AfD-Neonazi-Parolen" ihren dringend benötigten Gegenwind erfahren. Ist mühsam — ich weiß, aber es ist nun mal so (wie eine verstopfte Toilette) — da müssen wir durch.

    Gruß
    Jens

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  4. Der Kühlschrank ist leer, das Sparschwein auch,
    ich habe seit Wochen kein Schnitzel mehr im Bauch.

    Der letzte Scheck ist weg, ich bin nicht liquid,
    auf der Bank krieg' ich sowieso keinen Kredit!

    Gestern enterbt mich auch noch meine Mutter
    und vor der Tür steht der Exekutor.

    Mit einem Wort - die Lage ist fatal.
    Da hilft nur eins: ein Banküberfall!

    Ba-Ba-Banküberfall ...
    Das Böse ist immer und überall!
    Ba-Ba-Banküberfall ...


    Guter Gott, trotz der zweifellos ernsten Thematik kam ich nicht umhin, diesen Ohrwurm zu entwickeln...

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