Freitag, 8. März 2024

Meinen und anderes


Ein zunehmendes Problem an der uns durch diverse Online-Medien umgebenden Nachrichtenflut ist für mich, dass ich mich permanent gedrängelt bis genötigt fühle, mir sofort eine Meinung zu allem möglichen zu bilden. Dabei bin ich noch nicht mal groß in ‚sozialen‘ Medien unterwegs, sondern meist nur als Zaungast, TikTok ist mir bislang nur durch Zufall passiert. Auf dem Handy als Werbung. Ich weiß nicht viel, aber das immerhin: Wenn mir einer erzählt, ich solle meine Nachrichten unbedingt aus 'alternativen Medien' holen, denn dort sei, anders als in den notorisch lügenden 'Systemmedien', der wahre Jakob unterwegs, dann werde ich das garantiert nicht tun.

"Erzähle was du willst, nenne es Meinung und fühle dich wichtig und relevant. Aber bitte erwarte nicht, dass deine Ansicht die unumstößliche Wahrheit ist. Das ist zumindest für mich die Basis einer Meinung. Die heutige Realität ist aber für viele eine andere: Ziehe keinesfalls in Erwägung, dass es noch andere »Wahrheiten« geben könnte. Ersetze Faktenwissen durch Lautstärke. Betrachte Widerspruch als persönlichen Angriff. Unterstelle allen anderen Meinungen wahlweise Ignoranz, Dummheit oder regierungsgesteuertes Kampagnendenken." (Jürgen König)

Nein, ich kann mir immer weniger über alles und jedes eine Meinung bilden, erst recht nicht sofort. Meist habe ich gar keine.

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Ich lebe zum Beispiel seit langem ziemlich gut damit, keine konsistente, klare Meinung zu Themen wie Feminismus und Gendern zu haben. Sprache ist für mich nichts Statisches und sich gegen Änderungen zu stemmen, ist Quatsch. Während meiner Lebenszeit ist bislang das 'Fräulein' sang- und klanglos aus dem Sprachgebrauch verschwunden und es ist längst verpönt, Frauen einfach 'mitzumeinen'. Warum? Weil die gesellschaftlichen Realitäten sich verändert haben. Reine Männerbünde wurden immer seltener und die Idee, eine Frau sei erst durch Heirat vollwertig, spiegelte immer weniger die Verhältnisse wieder. Die Welt ist deswegen nicht untergegangen.

Auch dass Sprache sich immer nur ‚urwüchsig‘ von unten ändern dürfte, ist Blödsinn. Es gibt durchaus Beispiele für 'von oben' verordnete Sprachregelungen, die sich durchgesetzt haben (oder auch nicht, aber erhebliche Kreativität beim Umgehen freigesetzt haben). Notfalls erst eine Generation später. Was uns als Untergang der Zivilisation erscheinen mag, mit dem wachsen die Jüngeren ganz selbstverständlich auf. War bei uns auch schon so. Glauben Sie nicht? Träumen Sie weiter! Die Wahrscheinlichkeit, dass die, die damals so alt waren wie wir heute, genau so die Köpfe geschüttelt haben über uns und das Ende der Welt gekommen sahen, ist einigermaßen hoch. Junge Menschen sind nicht selten leicht zu begeistern für klare, unbedingte Botschaften. Das war schon früher so und das für sich zu leugnen, ist vermutlich eine Fehlwahrnehmung.

Ohne Frage artet Feminismus inzwischen allzu oft in dumpf-aggressives Männerabwerten aus und die Genderei wirkt nicht selten wie eine Einladung an klemmige autoritäre Zwangscharaktere, anderen apodiktisch in ihren Alltag hineinzuregieren. Es ist halt ähnlich wie mit dem Linkssein: Die dem zugrundeliegende Idee, eine freundlichere und schönere Welt, ein besseres Leben für alle herzustellen nämlich, wird ja nicht dadurch entwertet, dass sie in die falschen Hände geraten ist.

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"Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!" (Brecht)

"Wir leben in einer Welt, in der sich Menschen nicht schuldig fühlen, wenn sie Menschen töten oder Babys in Käfige an der Grenze stecken. Aber ich soll mich schuldig fühlen, weil ich zwei Schüsseln Spaghetti esse? Einen Krimi lese?" (Fran Lebovitz)


Mein Weltbild ist nirgends zu 100 Prozent kohärent. Es ist weder lückenlos noch frei von Widersprüchen und offenen Flanken. Man wird durchaus oft bei mir beobachten, dass ich auf die meisten Probleme keine befriedigende Antwort habe, im Gegenteil. Erst recht habe ich nicht den einen intellektuellen Zauberschlüssel anzubieten, der alle Probleme der Menschheit lösen kann. Bin nämlich nur ein Mensch. Daher sind mir Menschen, die immer sofort eine glasklare, unzweideutige Meinung zu allem haben, suspekt oder gehen mir auf den Sack. Oder beides.

Es ist meines Erachtens auch ein Missverständnis, dass Standpunkte ein Leben lang unbedingt konstant bleiben müssen. Wenn die Fakten oder die Verhältnisse sich ändern, dann ändere ich gegebenenfalls meine Meinung. Es ist komplett banane zu sagen: "Ha-haaa, vor fünf Jahren hast du aber noch was gaaanz anderes gesagt!" Ja und? Wo ist das Problem? Jeder Mensch hat das Recht auf Lern- und Entwicklungsprozesse. Und dieses Recht sollte man nutzen.

Es gibt einen Unterschied zwischen Meinungen, Überzeugungen, Werten und Idealen. An den beiden letzteren hat sich über die Jahrzehnte nur wenig geändert bei mir, und wenn, dann auch nur sehr langsam. Bei ersterem kann ich recht flexibel sein. Ich finde, man sollte sogar. Warum? Weil ein Festhalten um jeden Preis an einmal eingenommenen Positionen, so ehrenwert sie sein mögen, leicht zum Gefängnis werden kann.

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Meine Haltung zum bzw. gegen Faschismus allerdings ist bis heute einigermaßen konstant geblieben. Kein Fascho und gegen Faschismus zu sein, hat für mich weniger etwas mit politischer Meinung zu tun, sondern mit Anstand und grundlegenden humanistischen Werten. Ich befreunde mich daher auch nicht wissentlich mit Faschisten. Natürlich mögen Nazis und Faschisten manchmal in Einzelfragen irgendwie recht haben. Will ich gar nicht bestreiten. Eine stehengebliebene Uhr zeigt schließlich auch zwei Mal pro Tag die richtige Zeit an.

Wollen mir Social Media-verstrahlte Honks jedoch einreden, wir lebten doch eigentlich in einer faschistischen Diktatur bzw. seien nur einen Schritt davon entfernt, und ich müsse mich jetzt um der Rettung des Vaterlandes willen dringend dem nazionalen Widerstand anschließen, dann sorgt das zuverlässig dafür, dass mein Bullshit-O-Meter auf Maximum ausschlägt. (Weshalb es nebenbei auch ein gutes Zeichen ist, dass die amtierende Regierung so herumeiert und sich permanent fetzt wie die Besenbinder. Ein diktatorisches Regime, wie auch immer geartet, würde definitiv anders auftreten.)

"Sie können gegen die Unwahrheit nicht antreten, Sie haben keine Chance. Wenn Ihr Gegner glaubt, dass Schwarz Rot ist, dann haben Sie verloren. Das können Sie ihm nicht ausreden." (Hape Kerkeling)

Oder Israel. Ich halte das Existenzrecht Israels für nicht verhandelbar. Eine Welt ohne Israel ('From the river to the sea'), wie sie inzwischen von nicht wenigen Arschgeigen mehr oder minder offen propagiert wird, wäre mitnichten eine friedlichere und bessere. Israel ist allen Unkenrufen zum Trotze immer noch die einzige liberale Demokratie im Nahen Osten. Verschwände das Land, wären Juden überall auf der Welt als Minderheit wieder auf Wohl und Wehe darauf angewiesen, dass die sie umgebende Gesellschaft sie irgendwie toleriert. 

Ich gerate im Fall Israels allerdings auch an Grenzen: Eigentlich halte ich das Prinzip schlimmstenfalls ethnisch homogener Nationalstaaten für einen historisch erledigten Irrweg, der viel Leid angerichtet hat und immer noch anrichtet. Im speziellen Fall Israels erscheint es mir unter den herrschenden Umständen (vorerst) alternativlos, ein wehrhafter, teils mit Religionszugehörigkeit assoziierter Nationalstaat zu sein. Wieder erwischt. Huiii!

Auch Antikolonialismus ist zweifellos eine ehrenwerte und gute Sache. Was aber ist damit gewonnen, wenn das Ergebnis ein hyperpatriarchaler islamistischer Gottesstaat ist, in dem auf Menschen- und Minderheitenrechte sauber geschissen ist? Was ist Antikolonialismus wert, wenn "Hamas-Marodeure [...] sich nicht in Gefolgschaft Mandelas und Gandhis, sondern in der Tradition der SS in Osteuropa." (Feddersen) zeigen? Notwendiges Übel? Ich habe keine Antwort.

Man kann es ja bejubeln, dass in Afghanistan die bösen (westlichen) Besatzungsmächte schnöde das Feld räumen mussten. Dass die seither wieder herrschenden Taliban die Frauen größtenteils aus dem öffentlichen Leben verbannt haben, scheint bei denen, die sonst sofort auf den Barrikaden sind bei der kleinsten "Mikro-Misogynie" (so heißt das jetzt wirklich, ohne Witz) und jeder weiteren GNTM-Staffel nur ein Schulterzucken hervorzurufen. Kann man machen.

Ich verbitte mir dann halt nur, inkonsequent genannt zu werden.







14 Kommentare :

  1. Danke, Du hast meine Gefühlslage der letzten Jahre auf den Punkt gebracht.

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  2. … ich schließe mich Flusskiesel a.

    Gruß
    Jens

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  3. Zum Thema Weltbild, Standpunkte und Meinungen: Es ist das Drama unserer Zeit, dass sich viele nach Einfachheit sehnen, weil die Welt um sie herum so kompliziert geworden ist, und dass Populisten ihnen erfolgreich diese Einfachheit versprechen, während sich halbwegs seriöse Menschen an der Kompliziertheit abarbeiten (Habeck ist da ein gute Beispiel, finde ich), Argumente annehmen, sich überzeugen lassen und Positionen auch mal ändern. Und schwarz-weiß ist halt einfach, Grautöne sind kompliziert. Und dann gibt es noch so etwas Feines wie Ambiguitätstoleranz: Ich verstehe die Idee und den positiven Ansatz hinterm Gendern, ich sehe aber auch die Nachteile und sprachlichen Verschwurbelungen. Wie soll ich mich da festlegen, ob ich das gut oder schlecht finde, das schwarz oder weiß sehe? Noch ein Gedanke zu einfach vs. kompliziert: Lustigerweise habe ich gar keine Sehnsucht nach Einfachheit, im Gegenteil. Einfach ist langweilig, kompliziert ist interessant. Ich liebe kompliziert, ich möchte mich in Probleme reinbohren, viel dazu lesen, sie möglichst verstehen und bin fasziniert, wenn dann ganz viel Grau dabei rauskommt.

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  4. Danke für diesen Bericht, der mir in Sachen konsistenz der eigenen Meinungen aus der Seele spricht - und zwar in jedem einzelnen angesprochen Thema! Für mich folgt daraus auch Verständnis und Nachsicht gegenüber jenen, die inmitten dieser Widersprüche reale Politik machen müssen (ausgenommen die Rechten und Rechtsradikalen, die mit ihren realitätsfernen Versprechen versuchen, verunsicherte Leute zu ködern).

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  5. Siewurdengelesen11. März 2024 um 10:16

    Es bleibt kompliziert und Dinge ändern sich eben.

    Wo es keine zwei Meinungen geben kann, sind z.B. das Existenzrecht Israels, bei rechter oder religiös-fanatischer Gülle oder auch dem Werten der daraus resultierenden Zustände in Afghanistan. Das aber auszuwerten, warum, wie, weshalb und bis zu irgendwelchen Fehlern im Lauf der Zeit es dabei gekommen sein könnte, wäre Sache eines eigenen Beitrags bzw. gibt es genügend Blogs wie die von Lila oder Th. Ruttig dazu, die an der Quelle sitzen, den Einblick dazu haben und nicht nur vom Lehrstuhl darauf blicken.

    Aonsonsten ist´s halt immer so eine Sache mit Meinungen. Jeder hat eine, wie der Autor das festgestellt hat, muss trotzdem keiner zu allem seinen Senf verpflichtend abdrücken und was auf einer Seite der Welt vernünftig und logisch ist, kann woanders der größte Blödsinn sein. Da ist Tolerieren, Akzeptieren und gelegentliches Ignorieren gar nicht verkehrt, es sei denn bei den Intoleranten, die "Meinung" machen wollen. Ebenso gilt Dagegenhalten, wenn offensichtlich Fakten wie beim Klima, Verschwörungsmythen u.ä. selektiv oder falsch wiedergegeben werden, um darüber Stimmung zu machen. In der Regel haben diejenigen selber eine Agenda und wissen bis auf Ausnahmen, dass sie Falsches behaupten, das nur Mittel zum Zweck ist.

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  6. Fundamentalismus jedweder Art, besonders religiöser, ist eine Waffe der Schwachen, der Unterlegenen. Sinnvoll oder produktiv für eine politisch ausgleichende Lösung von Konflikten ist er nie. Im Gegenteil.
    Ist Israel imperial, kolonial ? Mir scheint - genau weiß ich es nicht - ja. Israel, scheint mir des weiteren, ist hauptsächlich militärisch stark. Das religiös-fundamentalistische Israel ist eher ein Zeichen von (innerer) Schwäche.
    Und das demokratische Israel ? ("Einzige Demokratie im Nahen Osten"). Scheint mir nicht, sondern ist mit Sicherheit der Looser. Aussichten (zukünftige) eher mies.

    (Stammt nicht vor mir, ist aber völlig meine Auffassung. Quelle leider nicht registriert).

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  7. „… es ist längst verpönt, Frauen einfach 'mitzumeinen'. Warum? Weil die gesellschaftlichen Realitäten sich verändert haben …“ – stimmt. Mehr Hodenverletzungen im Frauensport.

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  8. „Es gibt durchaus Beispiele für ‚von oben‘ verordnete Sprachregelungen, die sich durchgesetzt haben (…)“

    Dieses „Durchsetzen“ ist ein Gewaltakt, zu dem der Staat keine Kompetenz hat. Im Gegenteil ist sogar der Staat der Sprache unterworfen.

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    1. Infomieren SIe sich gefälligst, bevor Sie so einen hanebüchenen Blödsinn absondern.

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    2. Amtssprache ist Deutsch.

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    3. Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.

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