Sonntag, 23. September 2018

Jesses!


Mag man auch inhaltlich nicht immer mit allem einverstanden sein, was dort geschrieben steht (etwa wenn der Autor Harald Martenstein heißt), ist der berlinische Tagesspiegel für das eine oder andere unbedingt zu loben. Er ist mit einigen anderen Ausnahmen (taz, Frankfurter Rundschau) eines der wenigen größeren Presseorgane, das nicht ganz oder teilweise hinter Bezahlschranken verschwunden ist, kein Bezahlmodell praktiziert und einen auch nicht andauernd auffordert, den doofen Adblocker auszumachen. Ferner muss man hervorheben, dass man dort bereit und in der Lage ist, es zu thematisieren, wenn man Mist gebaut hat und dann auch bereit ist, das entsprechend zu korrigieren.

Letztens zum Beispiel erschien ein ärgerlicher Artikel eines so genannten 'Extremismusexperten' - neben 'Terrorexperte' vermutlich einer der letzten echten Männerberufe - namens Eckard Jesse. Der entblödete sich nicht, einmal mehr die Gebetsmühle zu drehen, rechte Gewalt sei gewiss ärgerlich und auch nicht schön irgendwie, darüber dürfe jedoch die viel bedrohlichere linke Gewalt keineswegs vergessen werden. Beklatscht wird so was vor allem von Leuten, deren argumentatives Repertoire sich darin erschöpft, Linken bzw. das, was sie dafür halten, Dinge zu unterstellen. Etwa arbeitsscheu zu sein oder Zustände herbeiführen zu wollen wie in Nordkorea.

Die dahinterstehende, aus dem (rechtsbürgerlichen) Totalitarismusbegriff abgeleitete, überaus populäre 'Hufeisentheorie', nach der Rechts- und Linksextreme im Prinzip ein Brei sind, ist mindestens so steindumm wie andere rechts-neoliberale Propagandamärchen. Etwa das von der Leistungsgesellschaft, in der wir angeblich leben. Oder von den 'linken' Medien bzw. dem 'linken' Mainstream. (Falsch ist das eh alles, aber das haben Propagandamärchen so an sich.) Wären jene Medien, die sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, im Besitz von Kapitalisten befinden, wirklich links, dann müssten sie selbige eigentlich bekämpfen. Genau so wenig wie ein Mainstream bzw. eine Bevölkerungsmehrheit unmöglich links sein kann, die die herrschenden, ausbeuterischen Verhältnisse überwiegend okay findet, zumindest aber achselzuckend hinnimmt.

Exakt zwei Parallelen gibt es: Den äußersten Enden des politischen Spektrums ist gemeinsam, dass sie physische Gewalt als politisches Kampfmittel, wenn nicht ausdrücklich befürworten, zumindest für legitim halten und sie wollen das herrschende System überwinden zugunsten eines anderen. Damit hat es sich dann aber auch schon. Dass eine Theorie, der sich derart leicht die Luft herauslassen lässt, auch unter Wissenschaftlern so populär ist, hat zwei Gründe: Sie ist intellektuell für jedermann leicht zu stemmen und verfängt beim verängstigten Kleinbürger ganz hervorragend. Dass sie nebenbei nicht nur Rechten Argumente liefert, Linke als die wahren Faschisten zu stempel, ist entweder Kollateralschaden oder auch Absicht.

Vielleicht sollte man andere Parallelen suchen. Etwa zwischen einem Dickdenker wie Jesse und Kollegen wie dem emeritierten Hans-Werner Sinn. Dessen wissenschaftliche Meriten erschöpften sich zeit seiner Tätigkeit im wesentlichen in der Erkenntnis, die Löhne seien zu hoch. Umso lobenswerter, dass man beim Tagesspiegel unter der Überschrift 'Chemnitz ist nicht der Hambacher Forst' dazu steht, Mumpitz gebracht zu haben. Vielleicht nur auf Druck von Lesern, aber immerhin. Ehre, wem Ehre gebührt.




1 Kommentar :

  1. Jesse verneint es, aber es ist sehr wohl ein Unterschied, ob Terrroristen einen starken Staat angreifen oder wehrlose Türken abknallen.
    Ob ein schwarzer Block sich mit einer gut ausgerüsteten Polizei anlegt, oder ob ein rechter Mob wehrlose Menschen durch die Straßen jagt, die nicht in sein Weltbild passen.
    Anders sieht es aus beim Kollektivismus, dort gibt es tatsächlich große Ähnlich- und Gleichheiten zwischen links und rechts.
    Daraus ziehen dann Viele den abenteuerlichen Schluß, daß linke und rechte Werte irgendwie gleich seien.
    Tatsächlich sind es aber nicht die Werte, die Teile beider Seiten vereinen, vielmehr ist es der Kollektivismus selber.
    Dabei stehen linke und rechte Werte sogar massiv im Weg, nur unterscheiden sich Kollektivisten in einem wesentlichen Punkt von anderen Gruppen- sie besitzen die Fähigkeit, ihre (sekundären) linken und rechten Werte völlig beiseite zu schieben, wenn sie dafür ihren wichtigsten Wert- den Kollektivismus als Selbstzweck- ausleben dürfen. So geschehen im NS-Staat, im Stalinismus, im Maoismus, usw.
    Darüberhinaus stellt sich die Frage, ob es sich hier überhaupt noch um Rechte und Linke handelt, oder ob Kollektivisten nicht sogar eine eigene Gruppe darstellen, die sich durch das Merkmal "Kollektivismus first" auszeichnet, und die nur in nachgeordneter Weise einzuordnen ist, was links und rechts angeht.
    Dafür würde auch sprechen, daß es artverwandte Denkweisen auch in allen anderen politischen Richtungen gibt, sogar im Liberalismus.

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