Sonntag, 14. April 2019

Aus Feigheit in die Vormoderne


Wie definiert man eigentlich Feigheit? Man könnte sagen, Feigheit bedeutet, angesichts eigener Verfehlungen mit dem Finger auf andere zu zeigen. Er war‘s, er war‘s! Anständige Leute versuchen Schulkindern das normalerweise abzugewöhnen (außer die Eltern derjenigen, die, kaum dass sie sprechen können, mit Papas Anwalt drohen, versteht sich). Der greise Mit-Papst Benedikt alias Joseph Ratzinger hat damit augenscheinlich weniger Probleme. Zu den Missbrauchsskandalen in der Katholischen Kirche fiel ihm, der immer noch als bedeutender Intellektueller gehandelt wird, nur ein, mit dem Finger zu zeigen: Die 68er sind schuld. Aber sicher doch. Die 68er sind immer schuld, wenn die Welt nicht so läuft, wie Rechte und Konservative sich das vorstellen. Was muss das für eine herrlich kuschelige Welt sein, in der immer die anderen schuld sind!

Zumal derlei Fingerzeigen nicht nur Charakterschwäche offenbart und Mangel an Rückgrat, sondern in der Regel auch nach hinten losgeht. Man pflegt dann zuverlässig an die Leichen im eigenen Keller erinnert zu werden. Im Falle der katholischen Kirche braucht man noch nicht einmal mit den ganz alten Kamellen zu kommen wie Kreuzzüge, Bekämpfung von Wissenschaft, Inquisition, Folter und Kriegen im Namen des Herrn. Nein, ein Blick ins 20. Jahrhundert genügt vollauf. Jene Organisation, bei der Ratzinger viele Jahre lang in leitenden Funktionen tätig war, hat so ziemlich jeden brutalen Schweinediktator hofiert, massenhaft Nazi-Verbrechern zu Persilscheinen ver- bzw. ihnen ins sichere Exil geholfen und Vergebung auch für Adolf Eichmann gefordert. Hauptsache, man war kein Kommunist. Kommunisten nämlich waren a priori exkommuniziert.

Man führe sich das vor Augen: Jene Soldaten, die Anfang 1945 Auschwitz und andere Höllenschlünde befreit haben, traf der Bannstrahl der Kirche. Diejenigen, die das angerichtet hatten, durften hingegen mit christlicher Milde und Vergebung rechnen. Man muss weder Atheist sein noch antiklerikal, um das, sagen wir, schwer verständlich zu finden. Natürlich kann man vermuten, wo der Hase langläuft. Man muss sich nur klarmachen, dass Kommunisten die Kirche im Hinblick auf ihre wahre Funktion halt am besten durchschaut hatten und daher weit eher eine Gefahr darstellten als faschistische Schlächter, die die herrschenden Besitzverhältnisse nicht infrage stellten und artig gemeinsame Sache machten mit Mater Ecclesia.

Feigheit könnte man auch definieren als übersteigerten Opportunismus. Sich schon wegzuducken, bevor jemand überhaupt etwas gesagt hat, um auch ganz sicher zu gehen, bloß nicht kritisiert werden zu können. Dafür lieferte Angela Merkel jetzt ein schönes Beispiel ab. Die hatte sich schon immer recht flexibel gezeigt im Hinblick auf ihre Positionen, so man mal eine identifizieren konnte. Jetzt aber hat sie in dieser Disziplin auf der Zielgerade ihrer Kanzlerschaft noch einmal einen Rekord aufgestellt. Indem sie zwei Bilder von Emil Nolde, die in ihrem Büro hingen, sofort abhängen ließ.

Als deutscher Nachkriegspolitiker war man von jeher gut beraten, wenn man sich die Wände mit den Arbeiten derer schmückte, die mal als 'entartete' Künstler galten. Zu denen gehörte auch Emil Nolde. Seine Bilder hingen selbstverständlich im alten Bonner Kanzleramt und niemand fand etwas dabei. Das Dumme ist nun: Nolde war Antisemit und Rassist und obwohl er von den Nazis als 'entarteter' Künstler geführt wurde, fand er die Nazis ziemlich geil. War von Beginn an ein scharfer Parteigänger und glaubte, seine Einstufung als 'entartet' beruhe auf einem Missverständnis. Dabei hatte Joseph Goebbels persönlich für ein Berufsverbot gesorgt. Derselbe Joseph Goebbels übrigens, der, weil er von der NS-Regierungsmannschaft noch am meisten Horizont besaß, privat eine ansehnliche Sammlung expressionistischer Kunst besaß.

In politischer Hinsicht war Nolde also das, was man mit einigem Recht ein ziemliches Arschloch nennen kann. Nur malte er meines Wissens nach nichts, das als Illustration für Landserheftchen dienen kann, sondern vornehmlich Blumenstillleben, Akte, Porträts. Expressionistisch und keineswegs auf Linie. Ich bin alles andere als ein Kunstkenner, aber meines Wissens nach fallen seine Bilder unter ästhetischen Gesichtspunkten nicht in die Kategorie 'NS-Kunst'. Daher verstehe ich nicht, wo da das Problem liegt. Erst recht, wenn man bedenkt, dass Angela Merkel auch weiterhin jährlich die Bayreuther Festspiele besuchen wird, um dort den Klängen des nicht nur von Rotzbremsen-Adi kultisch verehrten Richard Wagner zu lauschen.

Gut, schiefer Vergleich. Wagner hat zwar zu Lebzeiten wüste antisemitische Schriften verzapft, war aber 1933 genau 50 Jahre tot und konnte sich gegen Vereinnahmung nicht mehr wehren. Auch für die NS-Liebedienerei seiner überspannten Schwiegertochter Winifred konnte er nichts. Ob Wagner sich mit den Nazis verstanden hätte, wenn er später gelebt hätte? Gut möglich. Es spricht einiges dafür, bleibt letztlich aber Spekulation und damit müßig. Nolde hingegen war NS-Epigone und wusste genau, was er tat. Trotzdem: Ich könnte den Bildersturm ja noch verstehen, wenn Noldes Bilder unter Rechtsextremen kultische Verehrung genössen, aber das tun sie meines Wissens nicht oder nicht mehr oder weniger als viele andere.

Was passiert eigentlich mit einem Menschen, der unter anderem Nolde-Bilder an der Wand hängen hat? Wird er darob zum Nazi? Wohl kaum. Wer glaubt, regelmäßiges Betrachten eines solchen Bildes vermöge einen anfällig zu machen für braunes Gedankengut, schreibt Kunst damit jene quasimagischen, metaphysischen Kräfte zu, wie das normalerweise nur diejenigen tun, die ihnen nicht Genehmes verfolgen und aus dem öffentlichen Blick zu verbannen trachten. Oder kann man die Wirkung eines Noldes quasi aufheben, indem man einen Corinth oder Chagall danebenhängt? Wird umgekehrt jemand zu einem besseren Menschen, weil er Goethe und/oder Shakespeare auswendig zitieren kann?

Zwar sollte man Kunst nicht aus dem Kontext ihrer Entstehung lösen, aber Urheber und Werk voneinander zu trennen, galt einmal als Errungenschaft der Moderne. Dazu gehört es, den Widerspruch aushalten zu können, dass auch Arschgeigen und Scheusale mitunter Großes zuwege bringen. Nazis mit ihrem Bierdeckel-Horizont halten so was meist nicht aus. Nach ihrem eindimensionalen Kunstverständnis konnte ein jüdischer Künstler die großartigsten Sachen schaffen, er wäre qua Judentum trotzdem entartet gewesen, seine Arbeiten vernichtet und er im KZ gelandet. Ich finde, mit so was sollte man sich nicht gemein machen.

Was wäre, wenn Frau Merkel in etwa folgendes hätte verlauten lassen: Ich bin mir der Verstrickungen des Menschen Emil Nolde sehr wohl bewusst, aber in seinen Bildern, die im Übrigen in allen wichtigen Museen der Welt hängen, vermag ich nichts Propagandistisches zu entdecken. -- Das wäre ein Statement gewesen, das von Rückgrat zeugt und von einem aufgeklärten, informierten und reflektierten Kunstverständnis. Also dem genauen Gegenteil von dem, was Nazis einst propagierten und wieder propagieren. 

Leider passt das wohl nicht in die Zeit, denn Gegenaufklärung scheint momentan wieder schwer en vogue zu sein. Vermutlich auch, weil die Welt dadurch so herrlich einfach wird, dass noch der allerletzte Depp irgendwie mitreden kann. Dem Regisseur Roman Polanski etwa wird immer noch vorgeworfen, 1977 die damals 13jährige Samantha Jane Gailey unter Drogen gesetzt und vergewaltigt zu haben. In den USA ist die Anklage immer noch angängig, beträte er US-amerikanischen Boden, er würde vom Fleck weg verhaftet. Obwohl sein mutmaßliches Opfer ihm längst öffentlich vergeben hat.

Völlig unabhängig von der Frage, ob die Strafverfolgung gerechtfertigt ist oder nicht, sollte man aber auch zur Kenntnis nehmen, dass Polanski, der einst übrigens nur knapp der Judenverfolgung entging und dessen Ehefrau Sharon Tate von irren Charles Manson-Anhängern brutal abgeschlachtet wurde, auch einige ziemlich maßgebliche Filme gedreht hat. Wenn es nach puritanischen Leinwandsäuberern ginge, dürfte ich einen brillanten Film wie 'Tanz der Vampire' nicht mehr angucken. Auch der Schauspieler Kevin Spacey soll sich im Privaten an minderjährigen Knaben vergriffen haben. Das ist zweifellos übel und gehört strafrechtlich verfolgt. Schmälert das seine Leistung in 'American Beauty' oder 'House Of Cards' in irgendeiner Weise? No Ma'am. 'American Beauty' bleibt einer der besten Filme der letzten 20 Jahre und 'House Of Cards' eine der besten Politsatiren. Ob trotz oder wegen Spaceys Mitwirkung, ist irrelevant.

Inzwischen reicht längst der bloße Verdacht aus. Da der Sänger, Komponist und Entertainer Michael Jackson vor knapp zehn Jahren verstorben ist, kann er sich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen nicht mehr äußern. Wir werden also nie erfahren, ob an den gegen ihn erhobenen Vorwürfen etwas dran ist. Trotzdem entblödet sogar die BBC sich nicht, groß anzukündigen, seine Songs in Zukunft nicht mehr zu spielen. Was ist das für eine Welt bitteschön? Habe ich schon erwähnt, dass Kurt Tucholsky und Erich Kästner wegen ihres ausschweifenden Sexualverhaltens nach #Metoo!-Standards ebenfalls dringend auf den Index gehören?

Wer von einem Schauspieler oder Musiker sexuell missbraucht wurde, hat sicher gute Gründe, die Arbeiten der Täter tunlichst aus seinem Leben zu verbannen. Wer es nicht hinbekommt, einen Film anzusehen oder einen Song anzuhören ohne sofort an das zu denken, was der Urheber eventuell Schlimmes getan hat oder getan haben könnte, soll das natürlich tun und entsprechende Konsequenzen ziehen. Daraus aber abzuleiten, die Welt müsse vorbeugend von allem gesäubert werden, das theoretisch irgendwo jemanden traumatisieren könnte, ist totalitär und vormodern. So wie es kindisch ist, von Künstlern zu erwarten, ein in moralischer Hinsicht vorbildliches Leben zu leben.

Eine weitere große Errungenschaft von Aufklärung und Moderne ist die Einsicht, dass es besser ist, Unliebsames, Unangenehmes, Abgründiges eben nicht vom Antlitz der Erde zu tilgen, sondern es zu bewahren, um sich damit auseinanderzusetzen. Weil Verbote und Verbannung feige wären und keinen weiterbringen. Soll man aufhören, über Kriege zu forschen, weil deswegen bei ehemaligen Soldaten Schlimmes hochkommt? Soll man alle NS-Durchhaltefilme schreddern? (Fun fact: Diejenigen, die sich auf solche Streifen vor Glück einen runterholen, haben sich die eh längst illegal besorgt.)

Und apropos feige: Ein Mit-/Co-/Zweitpapst muss selbstverständlich kein Heiliger sei. Ein Feigling sollte er aber auch nicht sein.




2 Kommentare :

  1. Das zeig nur, wie provinziell diese überschätzteste Politikerin aller Zeiten doch tickt …

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    1. Provinziell würde ich das nicht nennen, es sei denn, ich fühlte mich ihr kulturell überlegen, was mir nicht einfiele, einer Liz Mohn z.B. aber schon. Was Merkel "auszeichnet" ist, denke ich, ihr Opportunismus. Ob sie tatsächlich überschätzt wird? Von wem? Wahrscheinlicher ist, dass sie benutzt wird.

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