Nicht immer Kritisches über Politik, Gesellschaft, Medien, Kultur, Essen und manchmal auch Sport
Sonntag, 29. September 2019
Die Deppendekade
Die älteren werden sich erinnern: Vor einiger Zeit habe ich hier davor gewarnt, die Achtzigerjahre unnötig zu glorifizieren. Man sollte eh vorsichtig sein mit Nostalgie. Die ist eine mindestens genau so schlechte Ratgeberin wie Wut oder Angst. Von einem Spielentwickler las ich die Tage das folgende, nicht unkluge Diktum: "Der Satz, dass Videospiele früher besser waren, bedeutet eigentlich: Mein Leben war früher einfacher." Jetzt sind die Neunziger dran. Seit knapp 20 Jahren sind sie vorbei, daher werden sie jetzt wieder ausgebuddelt. Revival! Retro! Vintage! Heititei! Nun ja, wer glaubt, in der Kreativbranche sich schimpfenden Branche ginge es tatsächlich kreativ zu, glaubt auch, dass Zitronenfalter Zitronen falten.
Dabei gibt es so gut wie keinen vernünftigen Grund, die Neunziger toll zu finden. Ich stand da, wie man so sagt, in der Blüte meiner Jahre und fand sie meist komplett scheiße. Misslungen. Unter den bis heute virulenten Folgen leiden wir immer noch. Mögen die Achtziger banal gewesen sein, ein graues Jahrzehnt mit ein paar Pastellfarbklecksern, die Neunziger waren das Schrottjahrzehnt. Nicht bloß eine Deppendekade, sondern ein wahres Arschloch unter den Jahrzehnten, wie wir noch sehen werden.
Man sollte sich natürlich nicht unnütz mit äußerlichen Scheußlichkeiten aufhalten. Die gibt es mehr oder weniger immer irgendwie. In den Neunzigern waren das unter anderem: Aus den Siebzigern recycelte Schlaghosen. Monströse Plateauschuhe. Bauchfrei-Tops. Und natürlich die optischen Peinlichkeiten der voll erblühenden HipHop-Szene, bei deren Anblick die Blindenhunde knurrten. Auch sonst gab es flächedeckend Hassenswertes. Dass es kaum mehr ein Entkommen gab vor dem Umz!-Umz!-Umz!-Technogebummse. Albern verkleidete Jungspießer auf der Loveparade. Motivationstrainer. 'Friends' gucken müssen. Liebeskomödien mit Katja Riemann in der Hauptrolle. Alfred Biolek. Eurodance-Ohrenpein. Etcetera etcetera. You name it.
Aber, wie gesagt, das sind bloß Oberflächlichkeiten (wer mehr will, bitte hier entlang). Es gab andere Dinge, die weit schwerer wiegen.
Die Neunziger waren die Zeit, in der die Deutschen die Ironie entdeckten. Flächendeckend. Da ging das los. Und die Konsumgüterindustrie griff dankbar auf. Man trug ironische Retro-Shirts mit Seventies-Motiven, pappte die Küchen wieder ironisch mit Prilblumen voll, kramte auf Flohmärkten ironisch nach alten YPS-Heften, radelte ironisch mit Papas altem Bonanza-Rad durch die Stadt, süffelte ironisch diese eklige Tri Top-Brühe, und war heiß auf alles, was als 'Kult' angepriesen wurde. Was in den Siebzigern als exklusives Happening vornehmlich in Universitätsstädten seinen Anfang genommen hatte - zum Beispiel so genannte 'Kultfilme' wie Blues Brothers oder Rocky Horror Picture Show entsprechend kostümiert im Rudel zu gucken -, wurde in den Neunzigern, weil die Unterhaltungsindustrie dankbar aufgriff, zum Massenphänomen. Und nervte. Merke: Wenn‘s alle machen, isses definitiv kein 'Kult' mehr.
Was damals als 'Spaßgesellschaft' bezeichnet wurde und man noch erklären kann als verständliche Reaktion einer jüngeren Generation auf den heiligen Ernst und das salbungsvolle Atomangstbesoffensein von Eltern und Sozialkundelehrern, hat längst zu jenem Phänomen geführt, das Hazel Brugger letztens scharfsichtig als "allgemeine Verwitzelung der Welt" bezeichnet hat. Humor, Komik und Ironie können das Leben leichter und schöner machen. Wenn aber niemand mehr irgendwas ernst nimmt, dann wird gar nichts leichter und schöner, sondern bloß albern. Man schaue sich um: Was in den Neunzigern mit der ersten, durch das damals voll durchstartende Privatfernsehen befeuerte Comedy-Welle begann, ist inzwischen so weit gediehen, dass man nur noch von Spaßbacken umgeben ist. In einer Tour über WhatsApp 'witzige' Bilder und Sprüche geschickt kriegt. Keine Haushaltsgegenstände mehr ohne 'witzigen' Spruch drauf erhältlich sind.
Gut, ja, nervt halt bloß. Ist überdies auch Geschmackssache. Aber vielleicht nicht nur.
Damit einher ging nämlich auch eine massive Entpolitisierung einer ganzen Generation. Der Kapitalismus hatte 1989/91 gesiegt, Fukuyama verkündete 'Das Ende der Geschichte' - wozu da noch politisch sein? Lief doch. Hey, Party! Denken macht bloß Falten. Das war exakt das Klima, das Neoliberale und Faschisten in die Karten spielte. Nachdem die Systemkonkurrenz im Osten weggefallen war, machte man sich daran, alles und jedes zu privatisieren. Weil Markt halt immer besser war und Konkurrenz das Geschäft belebt (wobei man anmerken muss, dass die Menschen im Osten die weit bitterere Medizin aus weit größeren Gebinden verabreicht bekamen). Die Neunziger waren das Jahrzehnt eines Guido Westerwelle (+) und anderen Hupen vom Schlage eines Hans-Olaf Henkel, die diesen marktfundamentalistischen Schwachsinn predigten. Vorzugsweise in einer jener Talkshows, wie sie damals aus dem Boden schossen, mit dem Ziel, den Boden zu bereiten für den neoliberalen Turnaround.
Was soll so toll sein an einem Jahrzehnt, in dem, kaum dass es angefangen hatte, Molotowcocktails in Asylbewerberheime flogen und wieder ganz schmerzfrei das rechte Ärmchen gehoben wurde? Wer das kritisierte, musste sich mitunter, ganz im Geiste der Zeit, den Vorwurf gefallen lassen, eine unironische Spaßbremse zu sein. Überhaupt sind die Faschos von heute alle Digital Natives. Haben die Ironienummer der Neunziger komplett verinnerlicht und weit besser drauf als fast alle Linken. Wofür bitte ein Jahrzehnt feiern, in dem die SPD unter Gerhard Schröder ab 1997 nicht nur ihre eigene, sondern auch die weitgehende Abschaffung des Sozialstaates einleitete? Gut, in der Frage, ob das Verschwinden der SPD wirklich so ein Verlust wäre, kann man durchaus geteilter Meinung sein. Beim Sozialstaat hingegen?
Mag die Generation Golf in den Achtzigern noch bloß dem konsumbetriebenen Hedonismus gefrönt haben, tat sie‘s aber immer noch ein wenig verschämt. In den Neunzigern wurde es komplett salonfähig, nach unten zu treten, auf Schwächeren herumzutrampeln und zu reden wie die eigenen Großeltern zu Adenauers Zeiten. Ha, ha, selber schuld, Penner, geh doch arbeiten! "Du musst ein Arschloch sein!", konnten diverse Honks öffentlich als Credo verkünden, ohne dafür schallend ausgelacht zu werden oder gleich eine verpasst zu bekommen. "Eure Armut kotzt mich an!" stand auf einem beliebten Autoaufkleber, für den man nicht mehr die Karre zerkratzt bekam. Könnte ja ironisch gemeint gewesen sein.
Nein, liebe zehn Jahre Jüngere, es ist besser, die Neunziger ein für allemal im Orkus der Geschichte zu versenken, hinter der Biegung des Flusses. Und sie am besten für alle Zeiten zu vergessen. Auch wenn‘s eure Jugend war. Lasst euch das von einem alten Sack gesagt sein. Hugh! Zieht euch meinethalben die ironischen Klamotten von damals an, so sie euch noch passen, geht auf eine Neunziger-Mottoparty und zieht euch die gruselige Musik rein, die einst angesagt war. Damit sollte es aber wirklich gut sein.
War denn so wirklich gar nichts gut in den Neunzigern? Natürlich gab es das eine oder andere. Wie schon anlässlich der Warnung vor der Achtziger-Nostalgie gesagt, bringt jede Zeit, und sei‘s aus Zufall, ein paar Klassiker hervor. Nix besonders also. Eines aber war in den Neunzigern wirklich neu und aufregend: Die flächendeckende Verbreitung von PCs, die teils wirklich genialen Spiele (die Entwickler mussten mit jedem Byte Speicherplatz knausern, das machte kreativ). Und die Frühzeit des Internet natürlich. Die war wirklich eine wilde, anarchische Zeit. Wer Mitte der Neunziger im Netz unterwegs war, wenn auch nur stundenweise - die Telefonrechnung! - konnte sich mit Recht als Teil einer kleinen Avantgarde sehen, sich im dem Gefühl sonnen, bei etwas fundamental Neuem ganz vorn dabei zu sein.
So ging‘s jedenfalls mir. Wohin das führen würde, konnten wir wirklich nicht ahnen.
5 Kommentare :
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Kommentare zum Post
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Was soll dies 90er-jahre-bashing? Die 90er waren für sehr junge erwachsene, glaube ich, eine ziemlich gute zeit. Koks gab es damals fast kostenlos. Muß man das schlecht finden?
AntwortenLöschenDas Marschierpuder wird sicher eine große Hilfe gewesen sein, das Elend zu ertragen.
LöschenWenn man's genau nimmt, waren schon immer alle Jahrzehnte scheiße, oder? ;-)
AntwortenLöschenGenau, endlich hat's einer begriffen!
LöschenHarry hat völlig recht.
AntwortenLöschenAber muß man dermaßen jahrzehntekrisch sein? Das billige koks ist leider aus, das zeug kann sich jetzt nur noch der Feinstaub-Andi leisten. Ist die welt dadurch besser geworden, daß wir sie jetzt einigermaßen nüchtern ertragen müssen?