Mittwoch, 6. November 2019

Provinz.


Woran merkt man eigentlich, dass man in der Provinz lebt? Ich behelfe mir immer so: Provinzstädte sind zuverlässig daran zu erkennen, dass sie um Himmels Willen keine sein wollen. Daher betreiben sie mitunter einigen Aufwand, um krampfhaft als megahippe, coole Metropolen zu erscheinen, in denen Tag und Nacht der Bär aber so was von steppt. Wenn nicht gerade der Papst boxt. Echten Weltstädten hingegen pflegt so was ziemlich egal zu sein. Kein New Yorker/Londoner/Tokioter/Berliner/… muss  eigens daran erinnert werden bzw. muss sich selbst andauernd vergewissern, in einer Weltstadt zu leben. Wer das trotzdem nötig hat, outet sich zuverlässig als Tourist oder als Zugezogener. Schlimmstenfalls aus Schwaben.

(Du hast ungefähr eine Million Einwohner und machst Werbung damit, eine Weltstadt zu sein? Schade München, du bist raus!)

Oder soll man den klugen Andreas Rebers bemühen? Der sagte mal, Provinz sei überall dort, wo Lehrer als Intellektuelle gälten. Provinzialität jedenfalls bemisst sich nicht allein an der Menge von Gegend drumherum. Wo man sich auf dem Dorf, auf dem platten Land, vollauf darüber bewusst ist, Dorf bzw. plattes Land zu sein, man auch nichts anderes zu sein begehrt, man daraus vielleicht gar ein gewisses Selbstwertgefühl zieht, dann ist man nach obigem Ansatz nicht Provinz, sondern halt Land.

Provinz ist demnach mitunter das Gegenteil von Entspanntheit und Selbstbewusstsein. Daher haben es auch Prominente aus oder in der Provinz nicht immer leicht. Die müssen nämlich, ob sie wollen oder nicht, andauend als Botschafter und Gallionsfigur des Provinznestes herhalten, dem sie entstammen oder in dem sie leben. Im Falle meiner Heimatprovinzstadt sind das unter anderem der hauptberufliche Beschaller André Tegeler alias Moguai, der von hier in die große Welt gezogen ist, und das Schauspielerpaar Martin Brambach und Christine Sommer, die es aus der großen Welt hierhin verschlagen hat. Alles sympathische, geerdete, dezente Menschen, wie zu hören ist. Und zu bewundernde. Mir sägte das fortlaufende Gezerre an mir vermutlich irgendwann so an den Nerven, dass ich im Geiste zur Pumpgun griffe.

Die lokale Prominenz war jetzt wieder schwer im Einsatz, weil hier eine dieser herrlich sinnlosen Aktionen stattgefunden hat, wie sie eigentlich nur in der Provinz stattfinden. 458 Stunden, knapp drei Wochen Dauervorlesen am Stück hatte man sich vorgenommen. In der Stadtbücherei. Thema: 'Märchen und Sagen'.  24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche. Alles protokolliert und abgesegnet von Juroren des Guinness-Buchs. Mit Erfolg übrigens. Wir sind zwar nicht mehr Papst, dafür Weltrekord. Jetzt will ich so was gar nicht kleinreden. Über 1.000 Freiwillige, darunter welche, die bereit sind, werktags um 3:35 Uhr unter Ausschluss der Öffentlichkeit Märchen- und Sagenhaftes zum besten zu geben, muss man erst mal zusammenzubekommen. Plus Helfer, Notfalldienst für eventuelle Ausfälle etc.

Auch das Argument, so was sei, s.o., komplett sinnlos, kann nur von welchen kommen, deren Horizont die Größe eines Bierdeckels nicht übersteigt und mit denen ich mich nicht gemein machen mag. Events wie diese haben oft sogar viele indirekte Auswirkungen, die zunächst nicht abzusehen sind. Und wenn sich ein paar Freunde fürs Leben gefunden haben, dann war es das doch schon wert. Kannste mit Geld nicht bezahlen. Wem da nur einfällt "Was kostet es? Was bringt es?", merkt wahrscheinlich schon länger nichts mehr.

Andererseits kann ich nicht verhehlen, dass mich, als der Erfolg sich im Liveticker der Lokalpresse abzuzeichnen begann, dieser fiese kleine Gedanke überkam: Was, wenn das ganze doch in letzter Sekunde wegen irgendeines doofen Formfehlers, den ein besonders humorloser Klemmbrettmensch vom Guinness-Buch gefunden hätte, gescheitert wäre? Für die Beteiligten, die da mit Engagement mitgetan haben, wäre das natürlich sehr schade gewesen, klar. Aber die langen Gesichter der sich plusternden Stadtmarketing-Fuzzis und der Redakteure der jubelnden Lokalbratwurstpresse, also all derer, die hauptberuflich Provinz sind - das hätte schon was gehabt.

Ist ein Reflex, ich kann nicht anders. Ich mag in der Provinz leben, provinziell bin ich deswegen noch lange nicht, jawohl! In einer echten Großstadt wäre eine solche Aktion bloß eine Randnotiz gewesen, aus deren Scheitern man im Zweifel ganz entspannt noch eine spontane Party gemacht hätte.

Trotzdem natürlich Glückwunsch an alle, die mitgemacht haben.







6 Kommentare :

  1. Du hättest wenigstens vorbeikommen können, als ich am Sonntagmorgen von 6 Uhr bis 6:30 Uhr aus meinem neuen Werk "Geisel der Raute - Erweckungspredigt eines Ungläubigen" gelesen habe. Aber da liegt ihr jungen Leute ja noch mit Gameboy und Skateboard im Bett.

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    1. Von wegen junge Leute - ich kenne Menschen, die sind deutlich jünger als ich und jeden Morgen vor 6 mit den Hunden Gassi...

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  2. Red dich hier nicht raus. Nur wegen dir habe ich bauchnabelfrei gelesen.

    Am Sonntag ist etwas in mir zerbrochen … :o)

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  3. O/T: Warum die ebenfalls hiesige Frau Spack nicht mitgemacht hat, darüber gehen die Meinungen auseinander...

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  4. Antworten
    1. Bin ja schon froh, rauszuhaben, dass 'spack' nicht nur ein Adjektiv ist...

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