Sonntag, 23. Februar 2020

Jenseits der Blogroll - 02/2020


Die Links und Fundstücke des Monats. Dominiert dieses Mal vor allem von den Ereignissen von Erfurt und Hanau. Quasi als Ausgleich gibt es auch viel Kultur.

Politik. Georg Seeßlen über Politik in Zeiten der Postdemokratie.

"In der Postdemokratie gehört der Erfolg offensichtlich nicht mehr jenen Personen und Organisationen, die am meisten moderierte und rationale Zustimmung in der Mitte erzielen, sondern jenen, die das Geschäft der Spaltung mit der größten Skrupellosigkeit betreiben."

Eine Abrechnung mit der FDP. In der 'Wirtschaftswoche'. Wahrlich, wir leben in seltsamen Zeiten!

Stephan Anpalagan: Hanau, Thüringen, Halle und die Verantwortung der CDU. Tolle Recherche. Dank an M. Eberling.

Tim Wihl über das (überfällige) Ende der Hufeisentheorie.

Thorsten Beermann analysiert die destruktiven "Diskussions"-Strategien der selbsternannten "Konservativen".

Der 'Brexit' ist auch eine Folge davon, dass in Vereinigten Königreich die Entfremdung zwischen Politikern und weiten Teilen der Bevölkerung noch weiter fortgeschritten ist als bei uns. Das konnten sich der komplett skrupellose Boris Johnson und sein sinistrer Stratege Dominic Cummings zunutze machen. Das zentrale Problem in Großbritannien sei, meint Nele Pollaschek, dass es sich dort nach wie vor um eine Adelsgesellschaft handelt, die sich aber einredet, eine Leistungsgesellschaft zu sein.

"Das Problem sind Menschen, die sich schon das Leben der weniger Privilegierten nicht vorstellen können, geschweige denn Armut, Arbeitslosigkeit oder Diskriminierung, und trotzdem stolz darauf sind, welche Hindernisse sie überwunden haben (schlechtes Personal, Altgriechisch-Lehrer war kein Muttersprachler, Überbiss). Das Problem sind Menschen, die von Geburt an mehr Geld, bessere Möglichkeiten, intensivere Förderung genießen durften als 99 Prozent der Restbevölkerung und trotzdem denken, sie hätten sich das alles sehr hart erarbeitet."

Kultur/Wissen. Onkel Michael klärt auf, wieso die Schnurre, dass es in Versailles keine Toilette gab, Mumpitz ist und warum 'Sonnenkönig' Ludwig XIV. keine angenehme Gesellschaft war: Der Mann muss gestunken haben "wie ein überfahrenes Opossum, das zwei Wochen im Radkasten vor sich hin verfault." Wofür er aber nichts konnte.

"Nach dem Erfolg des ersten Star-Wars-Films im Jahr 1977 wurde im Jahr darauf für den Sender CBS das Star Wars Holiday Special produziert. Es wurde ein Mal ausgestrahlt und dann totgeschwiegen, weil sich praktisch jeder Beteiligte in Grund und Boden dafür schämte."

Aha. Peter Osteried erinnert trotzdem daran.

"Weil diese Bürger nichts mehr selbst Identitätsstiftendes haben, alles leer und hohl ist, schaffen sie es nur noch durch die Exklusion des Anderen, sich irgendwie selbst zu konstituieren. Eine Tendenz, die wir natürlich momentan nicht nur auf der Leinwand erleben." 

-- So heißt es in Wolfgang M. Schmitts kluger Analyse von Til Schweigers Film 'Klassentreffen 1.0 - die unglaubliche Reise der Silberrücken'. Der Erfolg von Schweigers Filmen ist für ihn ein Indiz dafür, dass das, was vom Bürgertum noch übrig ist, am Beginn des 21. Jahrhunderts inzwischen komplett verwahrlost ist. Schmitts Kanal 'Filmanalyse' ist auch sonst sehr empfehlenswert.

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Caroline Rosales entlarvt den von Marie Kondo et al. propagierten Minimalismus als das, was er ist: Eine snobistische Selbstinszenierung, die man sich erst einmal leisten können muss.

Aus gegebenem, traurigen Anlass bringt die 'junge Welt' drei schöne Gedichte des verstorbenen Ror Wolf. An den Kay Sokolowsky auf seine wundervolle Weise erinnert

Thomas Knüwer fragt sich, wieso bezahlter Online-Journalismus nicht recht funktionieren will. Weil man, meint er, nicht verstehen will, dass auch in der Print-Ära nicht für Journalismus bezahlt wurde, wie immer vorausgesetzt wird, sondern für eine Dienstleistung: "eine Auswahl von Nachrichten auf Papier zu drucken und ihnen am Morgen in den Briefkasten zu stecken".

Zwar bin ich agnostisch unterwegs, kann aber mit diversem Kulturellen und Künstlerischem, das die Kirchen hinterlassen haben, so einiges anfangen. Milde überrascht war ich, ausgerechnet in der taz eine Würdigung Gottfried Böhms zu finden. Böhm hat wie sein Vater Dominikus vor allem Kirchen gebaut, darunter den spektakulär brutalistischen Mariendom von Neviges.

Spocht. Schönes Interview mit Gary Lineker. Auf Englisch. Über Maradonas 'Hand Gottes' findet er weise Worte: "The Diego thing doesn’t bother me. Never has. He got away with it. I would never think of doing it but some Argentinian footballers grew up in the roughest conditions. They were ready to do anything to win." Spitzentyp.

Essen und Trinken. Jörn Kabisch hält armselige 'Gesundheitsteller' für die erste und ungenießbare Käsespätzle für die zweite Phase "der Vegetarisierung des Speisenangebots deutscher Durchschnittsgastronomie". Ich bin nicht sicher, ob ich mich, trotz grundsätzlich vorhandener Sympathie für Vegetarisches, darüber freuen soll.

Zum Abschluss wie immer das Rezept des Monats. Nicht vegetarisch. Gesottenes Fleisch in unendlichen Variationen sei der eigentliche Kern der Wiener Küche. So meint Vincent Klink in seinem kenntnisreichen Buch 'Ein Bauch lustwandelt durch Wien': "Für das geradezu sanfte, an kulinarischen Pazifismus gemahnende Siedefleisch braucht es tatsächlich ein sanftes Gemüt und keine Spießgesellen, […] die allesamt der Kultur des Bratspießes entstammen. Nein, für ein solches Ritardando des Kochens braucht es die Österreicher, die aller Gastrohäme trotzen." Das berühmteste Wiener Siedefleischgericht ist sicher der Tafelspitz, angeblich eines der (zahlreichen) Lieblingsgerichte Kaiser Franz Josefs. Bei uns bekommt man leider allzuoft ein furztrockenes, totgekochtes Leichenteil, das meist noch unter einer laffen Meerrettich-Mehlpampe beerdigt wird. Hier steht, wie‘s richtig geht.





4 Kommentare :

  1. Danke, Stefan. Hoffentlich können wir heute Abend auf das erste faschofreie Parlament anstoßen. Habe gerade meine Angst vor dem Coronavirus überwunden und beim Italiener Pizza & Prosecco bestellt. Autokorso?

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  2. Sieht nach einer großen Koalition aus. Einer rot-grünen großen Koalition.
    Mit-Miep!

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  3. Spielentscheidend beim Tafelspitz ist, dass er niemals kocht, sondern tatsächlich nur unter dem Siedepunkt in der Brühe zieht. Wenn die Brühe länger als 5 Minuten blubbert, hat man verloren.
    Und gegen lasche Mehlpampe hilft Semmelkren: Töpfchen Brühe abnehmen, aufkochen lassen und altbackene, in Würfel geschnittene Brötchen reinühren, bis man einen saftigen Brei hat. Mit Meerrettich vollenden.

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