Montag, 13. April 2020

O tempora Corona! (3)


Meine Liste an Hassfiguren so far:

Selbstoptimierer
Sieh her, Welt, ich hänge nicht einfach in der Bude herum und sehe zu, wie ich den Tag herumkriege! Nein, ich sportele jeden Tag drei Stunden, lerne eine Fremdsprache, mache zwei Stunden superachtsames Yoga, knüpple Home Office, betreue dabei drei Kinder, denen ich niemals etwas anderes vorsetzen würde als bioveganes Überessen aus frischen Zutaten. Nebenher schreibe ich, weil ich jetzt endlich mal Zeit habe ohne Ende, an meinem großen Gesellschaftsroman, der im Herbst erscheinen wird. Das alles dokumentiere ich natürlich lückenlos auf Instagram und meinem YouTube-Kanal, den ihr gefälligst abonniert, ihr Minderleister.

Oberchecker
Ach kommen Sie, hören Sie auf. Ist doch alles sonnenklar. Aber die ganzen Schlafschafe wollen das mal wieder nicht sehen. Corona ist komplett harmlos, nicht schlimmer als eine Grippe. Weltweit sterben jedes Jahr mehr Menschen, die beim Gardinenaufhängen von der Leiter fallen, als an dieset Korooona. Jaaa, da kiekste! Aber jetzt denken Sie doch mal nach: Cui bono, mein Lieber, cui bono? Ick sach nur: Faaarma! Die machen sich gerade die Taschen voll bis oben hin. Na, und da muss man dann halt mal nachhelfen. Der Bill Gates, der weiß schon, was er tut. Und die Politik? Hey, die Diktatur ist Realität, Mann. Die haben auf so was doch nur gewartet, uns endlich alle Rechte zu nehmen. Wenn die das nicht eh vorher längst wussten. Nee, nee, mein Lieber, ick lass ma nich verarschen. Weil… Moment, mein Aluhut ist gerade verrutscht...


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Vom Leben gehärtete Babyboomer
Die Jugend wieder! Hat doch noch nie wirklich was mitmachen müssen im Leben. Jetzt sehen die verwöhnten Bälger mal wie das ist, wenn‘s ernst wird. Na ja, ich bin Jahrgang 62, aber mein Leben war kein Zuckerschlecken, kann ich Ihnen sagen. Mir wurde nichts geschenkt. Wir hatten damals kein Internet, keine Computer und keinen Essenslieferdienst. Wenn wir Hunger hatten, und den hatten wir, mussten wir uns ein Butterbrot schmieren. Ein Butterbrot! Erzählen Sie das mal den Wohlstandskindern heute. Und ewig diese Kriegsgeschichten anhören müssen von den Alten! Es war die Hölle. An der Uni habe ich ab dem ersten Semester keine einzige Vorlesung besucht. Aber diskutieren, das konnten wir. Nicht dieses Weltuntergangs-Mimimi wie heute. Kliiimawandel! Coroooona! Wir werden alle steeerbeeen! Tss! Und dann binden sie sich alle diese Lappen vor die Schnauze. Zu lustig. Na ja, ich bin bald in Rente, da geht mich das eh alles nix mehr an. Wenn die Lebensversicherung ausgezahlt wird, dann bestell ich mir erstmal einen SUV. Ich lasse mir doch nicht...

Feministinnen
Das ist doch nichts anderes als bloß ein weiterer Beweis dafür, dass Frauen die Hauptleidtragenden sind. Einmal, weil sie ganz oft in 'systemrelevanten Berufen' arbeiten wie Pflege und Einzelhandel und weil ja die Männer, die jetzt alle zu Hause herumhängen, viel mehr Zeit und Gelegenheit haben, ihre Frauen zu misshandeln. Also zumindest die, die auch zu Hause sind, weil sie nicht in systemrelevanten Berufen arbeiten. Und dieses Argument, es könne kein Anstieg bei häuslicher Gewalt nachgewiesen werden, fand ich echt total ärgerlich. Dass noch kein Anstieg nachgewiesen wurde, bedeutet ja nicht, dass es ihn nicht gibt. Oder geben könnte.

Dunning-Kruger-Opfer
Ach, gehnseweck mit diesem Drosten oder wie die Nille heißt! Sagt doch sowieso nur, was er sagen darf. Ich bin da in dieser nichtöffentlichen Facebook-Gruppe, wo nur Leute reinkommen, die richtig was auf der Pfanne haben. Einer hat zum Beispiel schon mal in der gleichen Schlange beim Bäcker gestanden mit einer, die mal mit einem geredet hat, der ein ganz hohes Tier ist im Gesundheitsministerium. Ganz weit oben, verstehense? Der hat Sachen erzählt, da kippste vomhocka. An solche Infos kommst du normal natürlich gar nicht dran.

Systemrelevanten-Beklatscher
Meine Nachbarin ist Krankenschwester/Kassiererin. Ich bewundere die ja total. Also, ich könnte das ja nicht. Ich sage ihr das auch jedes Mal. Na ja, die guckt dann immer so komisch, aber ich glaube, die sind so was einfach nicht gewohnt. Letztens habe ich mich mit anderen aus dem Büro, die auch gerade alle auf Kurzarbeit sind, vor dem Krankenhaus/Penny-Markt getroffen und einen Applaus-Flashmob veranstaltet. Das war total lustig und auch ein bisschen verrückt. Wir sind auch alle extra um sechs aufgestanden. Das waren wir diesen hart arbeitenden Leuten einfach schuldig, fanden wir. (In Wahrheit will ich mich einfach nur besser fühlen und bin heilfroh, dass andere diese schlecht bezahlten Jobs machen und ich auf einem doppelt so hoch dotierten Bullshit-Job sitze, der zu 80 Prozent aus Windmachen besteht. An den Verhältnissen soll sich übrigens nichts wirklich ändern.)

Gelangweilte
Keine Kinder, kein Homeoffice. Doof. Langweilig. Jeden Tag Sonntag. Laaangweilig. Weiß nichts mit mir anzufangen. Und weil mir so langweilig ist, muss ich das aller Welt andauernd erzählen. Habe ich schon erzählt, wie sehr ich mich langweile?


[Update, 17.04.]

Home Office-Verzichtsesoteriker
Jetzt, wo man mal auf sich selbst zurückgeworfen ist, merkt man erst, wie wenig man doch eigentlich braucht und was wirklich wichtig ist. Skiurlaub, Sternerestaurants, Wellness-Wochenenden, Shopping - alles unnötig. Ein Dach über dem Kopf, ein gutes Buch, ein Feuerchen im Kamin. Man braucht so wenig. Hätte ich nie gedacht. Meine Frau und ich legen jetzt in einem Teil unseres Gartens ein Gemüsebeet an. Wir denken, das bringt uns dem Ursprung unserer Lebensmittel wieder näher. Man vergisst so leicht, dass das alles nicht einfach aus dem Supermarkt kommt. Ich denke, etwas mehr Demut, Entschleunigung und Muße würde uns allen guttun. Habe ich übrigens schon erwähnt, dass ich C3-Professor bin und mein Gehalt voll weitergezahlt bekomme?





7 Kommentare :

  1. Toller Text, super charakterisierte Hassfiguren!

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  2. Und mir gehen noch unheimlich auf die Nerven, solche, die irgendwo her irgendwelche Zahlen rauspoppeln und einem dann immer hochrechnen, wie viele dieses Jahr noch sterben werden, falls man auch nur einen Zentimeter von diesem social distancing abweicht. Und dann im Expertenmodus einem immer vorbeten, man solle jetzt auf jeden Fall eine Maske tragen, denn sonst, denn sonst (weiß ich auch nicht)...

    Ganz furchtbar sind auch diese Z-Promis, die ihre Visage dafür missbrauchen, den Leuten zu erzählen, dass sie jetzt auf jeden Fall wirklich zu Hause bleiben müssen und dass das alles nicht so schlimm sei, wenn man jetzt total zusammenhalte und weitere lustige Durchhaltevideos auf Insta postet.

    Dicht dahinter kommen auch schon die Balkonbeklatscher und die PR-Kampagnen von auf einmal auf super-sozial machende Großunternehmen, die allen, die jetzt und später ihren Arsch hinhalten, ein dickes #Danke sagen wollen. PR-Videos kann man wohl auch in Zeiten von #WirbleibenzuHause schnell mal auf die Beine stellen. Scheint aber sonst keinen wirklich zu stören. Sind ja schön anzusehen und was fürs Herz.

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    1. So ein Durchhalteplakat (#bleibtzuhause) hängt bei mir gegenüber an der Hauswand. Stachelt meine Phantasie durchaus. So in Richtung '#haltdiefresse' oder so...
      @Claudia: Danke sehr, freut mich.

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  3. Mein Nachbar (86 J.) meinte, wir hätten beste Demokratie weltweit.

    Mal ne andere Frage: Ich hab nen Google-Blog, gibt aber kein Gadget, das Kommentare auflistet. Wo finde ich sowas?
    Gruß Volker

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  4. Ach ja, eine schöne Auflistung.
    Ich selbst halt mich (natürlich) für eine relativ unaufgeregte, zur Sicherheit maskentragende Zuhausebleiberin, die aber bei Sonnenschein das Kontaktverbot bricht und auf Wiesen und Terassen sitzt, bei 3 Metern Abstand und ansonsten der Dinge harrt die kommen und tüchtig verdrängt.

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