Donnerstag, 17. Juni 2021

Schmähkritik des Tages (49)

 
Heute: Michael Herl über die Fußball-EM

"Fußball, das war mir alles. Ich kannte die Namen nahezu aller Bundesligaspieler, jedes Spiel im Fernsehen habe ich mir angesehen. Das ging noch sehr lange Zeit. Erst ab etwa Mitte der Neunziger tröpfelte so langsam die Vernunft herbei. Die Kommerzialisierung nahm Überhand, betrunkene Horden mit Deutschlandfahnen wälzten grölend durch die Städte, in den Stadien wurden Spieler als »Schwuler« oder »Jude« beschimpft und Dunkelhäutige mit Affenlauten beleidigt. Irgendwann reichte es mir. […] Und neben Standardsauereien wie der Vergabe einer Weltmeisterschaft nach Katar gibt es ständig neue Gründe für ein weiteres Absinken.

Ganz aktuell: Ungarische Zuschauerinnen und Zuschauer buhen irische Spieler wegen antirassistischer Aktionen aus, kroatische Kicker verweigern den Kniefall gegen Rassenhass, die Reanimation eines Spielers ist kein Grund für einen sofortigen Abbruch des Matchs, die Verbände begrüßen es, dass der ungarische Despot Viktor Orbán das Budapester Stadion trotz Corona pickepacke mit Publikum vollpackt - all das sind Kleinigkeiten, die ein widerliches Ganzes ergeben." (Frankfurter Rundschau, 14. Juni 2021)


Anmerkung: Wie so oft bei Michi Herl gibt es nur wenig hinzuzufügen. Vielleicht doch so viel: Es heißt so einiges, dass der Ausspruch, der vielleicht am meisten im Gedächtnis wird haften bleiben von diesen europäischen Titelkämpfen, aus einem einzigen Wort besteht:

"Agua!" (Cristiano Ronaldo dos Santos Aveiro)

Also sprach der portugiesische Rekordnationalspieler, dessen Bescheidenheit so weit reicht, dass in seiner Heimatstadt Funchal ein Museum und eine Statue zu seinen Ehren errichtet wurden. Er tat so vor einer Pressekonferenz, indem er zwei kleine Flaschen Coca Cola abräumte, die vom Hauptsponsor dort platziert worden waren, und mit dem obigen goldenen Wort zum Wassertrinken aufrief, wozu er eine Wasserflasche hochhielt (auf dass es auch ja niemand falsch verstünde). Botschaft: Cola böse, Wasser gut.

Und alle so: Suuuuper! Tooooll! Dass so einer sich für die Volksgesundheit einsetzt! Und sich mit den Milliardenbonzen von Coca Cola anlegt. Sooo mutig!!!1! Schon klar. Experten diskutieren übrigens noch, wie viel Prozent seines aktiven Wortschatzes Captain Obvious für diesen Auftritt einsetzen musste.

(Apropos: Eine kleine Quizfrage. Getränk A enthält je 100 ml 10,5 g Kohlenhydrate, davon 10,5 g Zucker, bei einem Brennwert von 42 kcal. Getränk B enthält je 100 ml 19,0 g Kohlenhydrate, davon 19,0 g Zucker, bei einem Brennwert von 81 kcal. Frage: Welches ist die Cola, A oder B?*)

Spaß beiseite: Die Feststellung, dass regelmäßiger exzessiver Konsum stark zuckerhaltiger Getränke der Gesundheit auf Dauer abträglich ist und Wasser gegen Durst und zur Flüssigkeitszufuhr das Getränk der Wahl sein sollte, dürfte sich inzwischen einigermaßen herumgesprochen haben. Gut, sollte Ronaldos Aktion auch nur einen colasüffelnden Dreikäsehoch (und -breit) auf der Welt dazu bewegen, der picksüßen braunen Plörre abzuschwören und sich fürderhin nur noch reinstes Quellgold reinzupfeifen, dann meinetwegen. Aber:

Die Sache ist doch, dass eine gelegentliche Cola einem erwachsenen gesunden Menschen so wenig schadet wie hin und wieder ein paar Biere oder eine Flasche Wein. Die Menge macht's. Zumal Ronaldo als Vorbild für die Massen kaum taugt. Der Mann mag allgemein als eitler Fatzke gelten, doch attestieren ihm alle, die mal mit ihm gearbeitet haben, ein Ausbund an Disziplin, Professionalität und Arbeitsaskese zu sein. Die Selbstoptimierung in Person. Sein Körper ist eine von minutiösen Trainings-, Fitness- und Ernährungsplänen hochgezüchtete Maschine, die sich zum Organismus eines Otto Normalbürger verhält wie ein aktueller Formel 1-Rennwagen zu einem 20 Jahre alten VW Polo mit 40 PS.

Man kann so jemandem zum allgemeinen Vorbild ausrufen, aber man sollte es sich überlegen. Wohin die Reise geht, wenn Profisportler sich zu Gesundheitserziehern aufspielen, darauf gab es bereits einen Vorgeschmack. Bei einer weiteren Pressekonferenz fühlte sich der praktizierende Muslim Paul Pogba offenbar von einer vor ihm platzierten Pulle Heineken alkoholfrei (!!!) derart gestört, dass auch er sie demonstrativ entfernte. Was kommt als nächstes? Mäckes-Embleme mit dem Edding übermalen? Milkakühe umtreten? Ferner wird noch gekniet gegen Rassismus, es werden Kapitänsbinden in Regenbogenfarben getragen für LGBTQ-Rechte und wer nicht mittut, egal warum, ist ein Hundsfott und Ungut.

Die Frage dabei ist doch: Geht es den Gesundheitspredigern und Politaktivisten in kurzen Hosen wirklich um die edle Sache? Oder nicht doch eher darum, ihren öffentlichen Auftritt zu optimieren? Nicht einfach zu beantworten in Zeiten, in denen die Trennung von öffentlich und privat verschwimmt und die professionelle, 'authentische' Inszenierung in Asozialen Hetzwerken zum Handwerk gehört.

Zu meiner Zeit wurde professioneller Fußball unter anderem praktiziert von Säufern und Kettenrauchern wie George Best, Paul Gascoigne und Mario Basler. Mit der oft und viel beklagten Kommerzialisierung habe ich mich fast schon abgefunden. Man gewöhnt sich. Aber wenn die jetzt alle auch noch woke werden und sich aufführen als seien sie der historische Kompromiss aus dem heiligen Franziskus und meinem Hausarzt, das wäre endgültig zu viel für mich.





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*Antwort: A. B ist roter Traubensaft.







3 Kommentare :

  1. Genauso ist der echte Fußball. In meiner Zeit beim TuS 09 Schweppenhausen haben wir in der Halbzeitpause eine Kippe geraucht, die Kornflasche kreiste im Winter und der Trainer brüllte uns an wie der Captain bei Starsky & Hutch.

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    1. und jeder Sport hat mehr Spaß gemacht. Auch wir suchten beim Reiten etliche Gründe, den Kirsch kommen zu lassen (wurde auf dem Pferd getrunken ^^) Da wurden die neuen Reitstiefel/Sattel begossen, natürlich jeder Geburtstag ...vom Pferd und Reiter.Man sah es nicht so verbissen und war darum auch toleranter, weil es war Freizeitvergnügen. Heute geht das nicht mehr, denn es könnten ja die Kinder und Jugendlichen das sehen. Und die Muttis, die sich da beschweren sind die gleichen, die ihre Kinder genau 5 min nach der Stunde mit laufenden Motor abholen.

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    2. Vor allem ist von Protesten der Profis gegen einen anderen Hauptsponsor der Veranstaltung, Qatar Airways nämlich, der Staatsfluglinie des Menschenrechts- und Arbeiterparadieses Katar, nur sehr wenig zu hören.

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