Samstag, 9. Oktober 2021

Ein Stern


Wie deppert der durchschnittliche Antisemit und wie hirnrissig das ganze Konzept ist, lässt sich an einem aktuellen Beispiel studieren: Der Sänger Gil Ofarim, der offenbar einen Davidstern um den Hals trägt, wurde letzte Woche angeblich von einer Sicherheitskraft in einem Leipziger Hotel abgewiesen mit den Worten: "Pack' deinen Stern weg!". Okay, da hat also jemand - gesetzt den Fall, die Sache ist tatsächlich so passiert - ein Problem, wenn jemand in der Öffentlichkeit einen Davidstern trägt. Ist das etwa schon ein Zeichen für Antisemitismus?

Zumal das Tragen eines Davidsterns einen so wenig zwingend zum Juden macht wie einen ein Kettchen mit Kreuzanhänger zum gläubigen Christen macht. Man kann das als kompletter Atheist tragen. Weil's ein Geschenk war. Oder ein Erbstück. Oder einfach nur, weil man doofe bzw. hirnrissige Leute provozieren will. Alles im Rahmen, alles legitim. Im Gegensatz zum Tragen von, sagen wir Hakenkreuzen, SS-Runen und anderem Kram.

Keine Ahnung, was genau im Einzelnen Antisemitismus ist und was nicht. Habe ich mehr eine grobe Vorstellung von. Bin auch nur ein Mensch. Zudem sind Menschen bekanntlich verschieden. Gibt immer irgendwelche Grauzonen. Eines weiß ich aber einigermaßen genau: Auf einer Demo zu skandieren, Juden bitte wieder "ins Gas" zu schicken, hat zum Beispiel nichts mehr mit legitimer Kritik an der Politik Israels zu tun. Und wer jemandem das Recht auf Tragen eines Davidsterns in der Öffentlichkeit absprechen will, was im Übrigen, wie gesagt, vollumfänglich von Meinungs- und Religionsfreiheit gedeckt ist, sollte in der Lage sein zu erklären, warum.

Irgendwas sagt mir aber, dass es besser für alle ist, wenn das nicht passiert. Könnte peinlich werden.

Ursprünglich hat das, was einst als Antijudaismus begann, im wesentlichen zwei Wurzeln: Erstens, dass neutestamentarischer Überlieferung zufolge 'die Juden' sich gleich zu Beginn des Christentums maĺ unbeliebt gemacht haben, indem sie aktiv die Kreuzigung des Religionsstifters betrieben (Mt 27, 25; Joh 8,44; 1 Thess 2,14-16). Zweitens, weil sie als Folge der Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die Römer 'heimatlos' geworden sind. Und weil sie als Migranten dann noch darauf bestanden, an ihren Sitten und Gebräuchen fest zu halten, waren sie meist ein wenig suspekt.

(Sehr verkürzte Darstellung, es ist in Wahrheit komplexer, ich weiß. Bin aber noch nicht fertig.)

In weiten Teilen des christlichen Abendlandes war das im Mittelalter dann so: Weil sie suspekt waren, sperrte man sie in eigene Stadtviertel, später 'Ghettos' genannt. Damit sie auch weiterhin suspekt blieben. Immer gut, einen Watschenmann zu haben. Da man ihre Konkurrenz fürchtete, wurden ihnen vielerorts die meisten Gewerke und Berufe verwehrt. Oft blieben ihnen nur als unehrenhaft angesehene wie Händler und Geldverleiher. Und so geschah es, dass Juden in diesen Berufen es im Laufe der Zeit oft zu einer gewissen Meisterschaft brachten. Nicht, weil ihnen das irgendwie im Blut liegt, sondern weil ihnen nicht anderes blieb.

Irgendwann fiel den dämlichen Nichtjuden ihr eigenes Verbot auf die Füße. Weil die verpönten Juden irgendwann besser rechnen konnten als sie, hieß es dann nicht etwa: Tja, dumm gelaufen, hätten wir ihnen damals bloß erlaubt, was ordentliches zu arbeiten ("sie in den Arbeitsmarkt integriert"), wäre das nicht passiert. Nein, weil niemand gern eigene Fehler zugibt, hieß es: Der hinterlistige Jud' ist schuld! Außerdem haben seine Vorfahren unseren lieben Herrn Jesus gekreuzigt (Jesus Christus war übrigens Jude und beschnitten, aber was zählen schon Fakten?). Also zwingen wir sie, lustige Hüte zu tragen. Oder gleich auf den Scheiterhaufen mit ihnen. Es geht doch nichts über das wohlige Gefühl, das sich einstellt, wenn man weiß, wer schuld ist.

(Sehr verkürzte Darstellung, es ist in Wahrheit komplexer, ich weiß.)

Im 19. Jahrhundert war Antisemitismus dank Aufklärung und Wissenschaft zunächst kaum mehr ein Thema. Dann kam der Gründerkrach. Und da es ja unmöglich an der eigenen Blödheit und Leichtgläubigkeit liegen konnte, dass man sich verspekuliert hatte als frisch erwachter Nationalistendepp, hieß es bald wieder: Moment mal, da war doch was mit den Juden! Denen liegt das mit den Finanzen doch im Blut, denen ist das doch qua Rasse arteigen... Der Rest ist bekannt.

"Juden sind Deutsche, keine Ausländer, übrigens auch keine deutschen Mitbürger. Es sind keine Touristen und keine Migranten. Einfach nur deutsche Staatsbürger. Sie zählen genauso zu Staat und Gesellschaft wie deutsche Katholiken, Protestanten oder Atheisten. [...] Es ist diese simple Tatsache, die Antisemiten seit dem 19. Jahrhundert nicht anerkennen wollen und aus der sie ihre Zurückweisung des Jüdischen als angebliche Volksfremde konstruieren, die die postulierte nationale Identität bedrohen." (Klaus Hillenbrand)

Zurück zum wackeren Sicherheitsmann vom Leipziger Westin Hotel: Sicher, man kann sich mit der offenkundigen Dummheit der Aktion trösten. Die ergibt nämlich rational gesehen absolut keinen Sinn. Angenommen, ich hätte ein Problem mit Juden. Wollte die weghaben. Wegen Soros und Finanzverschwörung und so. Und fordere sie daher auf, sich nicht mehr als solche zu erkennen zu geben - was hätte ich damit erreicht? Dass sie dann weg sind? Nein, dass sie nicht mehr als solche erkennbar sind. Möööp!

Apropos erkennbar: Die Tatsache, dass Juden in der Regel nicht so aussehen wie im 'Stürmer', macht Antisemitismus ein wenig herausfordernder als gewöhnlichen Dödelrassismus, der sich an für alle sichtbaren äußerlichen Merkmalen hochzieht. Einen Schwarzen erkennt noch der letzte Dorfnazi nach er ersten halben Kiste Bier des Tages. Ein Jude, der heimtückischerweise auch noch ohne Kippa geht? Schon schwieriger. Das bedeutet aber keineswegs, dass Antisemitismus irgendwie ein Ausweis von Intelligenz wäre, im Gegenteil. Wie auch Nationalismus, was nichts anderes bedeutet als: Sich was drauf einbilden, irgendwo geboren zu sein und sich deswegen für was Besseres zu halten, ist Antisemitismus schon bei oberflächlicher Betrachtung, s.o., höhere Blödheit und eine Beleidigung der Intelligenz.

Allein, dergleichen Überlegungen helfen nicht und retten niemanden. Das antisemitische Pack fühlt sich inzwischen, scheint’s wieder ziemlich sicher bei dem was es tut, das ist das Problem. Weil die indifferente Mitte der Gesellschaft bloß die Schultern zuckt. Ohne die hätte nämlich kein Extremist eine Chance. Die Weimarer Republik scheiterte nicht wegen Webfehlern in der Verfassung oder wegen Links- und/oder Rechtsextremen. Sie scheiterte, weil Rechtsbürgerliche und -liberale irgendwann beschlossen, die Demokratie abzuschaffen und gegen ein autoritäres System zu ersetzen. Mit einem an der Spitze, der die Vernichtung der Juden ganz offen propagiert hatte. Weil sie in ihrer Hybris glaubten, den Schreihals schon kontrollieren zu können.

Vor dem Hotel in Leipzig versammelten sich mehrere hundert Menschen zu einer Solidaritätskundgebung für Ofarim. Der beschuldigte Wachmann hat Ofarim wegen Verleumdung angezeigt, der Hotelmanager ließ andere Gäste befragen. Der sächsische Innenminister Wöller (CDU) vekündete haarscharf am Thema vorbei: "Sachsen ist ein weltoffenes Land" (und niemand brach in schallendes Gelächter aus). Gestern ist in Berlin ein Mann zusammengeschlagen worden, der einen Pullover der israelischen Armee trug.

Jaaberaberaber, es gibt doch auch muslimischen Antisemitismus! Der ist doch noch viel böser und gefährlicher!

Ja, den gibt es in der Tat. Leider. Und denn es ihn nicht gäbe, man müsste ihn für die Rechten eigens erfinden, so praktisch ist der.






3 Kommentare :

  1. Hoffentlich war das nicht so eine verunglückte PR-Aktion von Gil, um endlich mal wieder in den Medien aufzutauchen.

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  2. Was mir relativ mehr Sorgen bereitet, sind die bisher aufgedeckten antisemitischen und rassistischen Netzwerke bei der Polizei. Denn die Haltung dieser Beamtinnen und Beamten spiegelt sich ja auch im täglichen Umgang mit Zivilpersonen auf der Strasse wieder.

    https://tinyurl.com/9ptx4chd

    Antisemitismus ist z. B. das Tragen des Davidsterns mit dem Wort "ungeimpft", bei Querdenkern äußerst beliebt. Oder Jana aus Kassel, die sich mit Sophie Scholl vergleicht.

    Die Kreuzigung von Jesus wird immer gerne den Juden zugeschrieben, Das ist aber etwas differenzierter zu sehen:
    Mt 27,26 "Darauf ließ er Barabbas frei und gab den Befehl, Jesus zu geißeln und zu kreuzigen." Juristisch lag die Verantwortung für die Todesstrafe m. M. demnach bei Pilatus. Die Hohenpriester fungierten eher als Geschworene.

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