Samstag, 15. Oktober 2022

Die Scheinheiligen


Es hilft nichts, aber es muss. Ich tue jetzt etwas, was mir geradezu körperliche Schmerzen bereitet. Ich verteidige Angela Merkel. Ist aber nicht das erste Mal, ich bekomme wohl Übung darin. So habe ich sie immer für ihre Entscheidung vom Sommer 2015 gegen Kritik in Schutz genommen und tue das immer noch. (Es ist mir übrigens völlig egal, ob Faschos und andere rassistische Arschgeigen Schaum vor dem Mund haben deswegen.) Gar nicht mal nur aus humanitären Gründen. Die Grenzen offen zu halten, war die richtige Entscheidung und hat damals vermutlich die EU gerettet. Weil Kurz und Orbán sich im Geheimen abgesprochen und mit einem Alleingang quergestellt hatten.

Jetzt sehe ich mich gezwungen, Merkel, die ich ansonsten ablehne (was kein Problem sein dürfte für sie, sie war Politkerin, da gehört das zum Job), gegen die völlig unangemessene Kritik auch aus dem eigenen politischen Lager wegen ihres Kurses in Sachen Energieversorgung und Russland in Schutz zu nehmen.

"Die Weltwirtschaft stürzt in Rezession und Inflation. Die Gemengelage ist so kompliziert, daß gegenwärtig nicht einmal verhandelt wird -- niemand kann sich eine friedliche Lösung vorstellen. Der deutsche Michel erträgt aber keine komplexen Schwierigkeiten, bei denen er zugeben muss, intellektuell überfordert sein. In dem Fall sucht er sich einen Sündenbock, wird anfällig für Hetzer aller Art. Die einen rennen Wagenknecht und der AfD nach, weil sie glauben, man müsse nur Putin freundlich bitten, die verbliebene Nordstream2-Röhre wieder aufdrehen und schon lösten sich alle unsere Probleme in Nichts auf. Das ist natürlich Unsinn." (Tammox)

Die von Angela Merkel verantwortete Energie- und Russlandpolitik hat sich spätestens mit dem 24. Februar als fatale Sackgasse erwiesen, das ist unstrittig. Sie aber jetzt ex post facto dafür anzugreifen, ist dümmlich und selbstvergessen. Erstens, weil sie bloß konsequent das fortgesetzt hat, was vier ihrer Amtsvorgänger begonnen und immer weiter vorangetrieben haben, und zweitens, weil die allermeisten Deutschen es genau so wollten. Oder zumindest nicht protestiert haben. Weil Putin ja unser Freund ist. Deutschland ja, tri tra trullala, überhaupt nur von Freunden umgeben ist.

Allen Unkenrufen zum Trotze war Merkel eben keine Diktatorin, die einsame Entscheidungen gegen den Willen und das Interesse des Volkes getroffen hat. Im Gegenteil, keine Regierungschefin vor ihr war so besessen davon, möglichst wenige vor den Kopf zu stoßen und hat so penibel darauf geachtet, im Sinne des gesellschaftlichen Mainstreams zu handeln wie sie. Und billiges russisches Gas war nun einmal Mainstream, erneuerbare Energien galten als Ökospinnerei und direkter Weg in die grüne Askese- und Verbotsdiktatur. Willkommen im Leben, Holgi!

"Natürlich wird der deutsche Michel keine Revolution machen. Macht er nie. Er wird nur wütend werden. Er wird meckern und maulen, zetern und jammern. Er wird sich in Umfragen äußern, die nicht gut für die Regierung sein werden. Er wird Plakate malen und auf die Straße gehen. Zusammen mit Sahra Wagenknecht und Alice Weidel. Er wird seine schlechte Laune in Kurzinterviews zum Ausdruck bringen, die von allen Sendern aus den deutschen Fußgängerzonen übertragen werden. BILD-TV wird den Rücktritt des Kanzlers fordern." (Bonetti)

Hätten dieselben Leute, die jetzt nach 'Verhandlungen' mit Putin rufen (wie immer die auch aussehen mögen, ich bin sicher, im Kanzleramt und im Auswärtigen Amt ist man für jeden wirklich konstruktiven Vorschlag dankbar), damit das Gas billig und ihr Ärschchen hübsch warm bleibt -- hätten diese Leute es vor, sagen wir, fünf oder zehn Jahren goutiert, wenn Merkel gesagt hätte: "Sorry Leute, aber wir müssen sehen, dass wir von dem billigen russischen Gas unabhängig werden und ernsthaft auf erneuerbare Energien umsteigen und das könnte jetzt ein wenig teurer werden. Aber wir schaffen das!"?

Wollen wir wetten? Wäre das geschehen, dann hätten Linke sie des Russenhasses geziehen, Rechte und Liberale hätten plötzlich ihr Herz für die Nöte der 'sozial Schwachen' entdeckt ('sozial Schwache' sind bekanntlich nicht aufgrund politischer Entscheidungen vornehmlich von Rechten und Liberalen sozial schwach, sondern wegen Naturgesetzen, übernatürlicher Faktoren oder gleich selbst schuld). Die armen Alleinerziehenden, die sich wegen Merkels teurem Luxusstrom noch weniger werden leisten können! Die Abermillionen Arbeitsplätze die wegen Merkels irrwitzigen grünen Spinnereien verloren göngen!

Auch berechtigte Kritik kann so kreuzdumm sein, dass sie vor allem auf die Kritiker selbst zurückfällt. Das nennt man dann Bigotterie. Oder Scheinheiligkeit. Erinnert ein wenig an die schweren Jahre nach 89. Da tönten mir bekannte JU-ler und Konservative plötzlich herum, sie hätten ihr Leben lang für die Wiedervereinigung gekämpft. In Wahrheit war auch in der CDU jeder, der vor dem Herbst 89 überhaupt das Wort in den Mund nahm, eine gestrige Lachnummer.






7 Kommentare :

  1. Holgi hätte Kennedy damals in Dallas auch "Duck dich!" zugerufen und in Fukushima 2011 gesagt: "Kinder, geht heute nicht an den Strand." Holgi hat einen Rückspiegel in der Größe einer Kinoleinwand und eine blinde Frontscheibe. Mal sehen, wo er hinkommt.

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  2. DasKleineTeilchen15. Oktober 2022 um 16:22

    kann ich so unterschreiben. thnx.

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    1. Gern
      @Eberling: Das personifizierte "Hinterher ist man immer schlauer" halt - sehr verbreitet an Stammtischen und bei 'alternativen' Medien.

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  3. Das ist ein richtiger Punkt.

    Und ob andere Regierungeskoalitionen in dieser Hinsicht damals anders gehandelt hätten, steht genauso im Raum wie die Frage, ob diese jetzt anders oder gar besser handeln würden.

    Wobei die Frage nach billigen Rohstoffen aus Russland ja eher der "Wirtschaft" zu verdanken sein dürfte und der Deal bereits unter Schröder mehr oder weniger so gelaufen ist. Ist doch billiger Einkauf bei gleichem oder steigenden Verkaufspreis gleich höherer Profit. Von dieser Seite wäre ergo ein stärkerer Ausbau der Erneuerbaren bei höheren Kosten und womöglich geringer Belastung der Privathaushalt über das EEG sowieso nicht zu erwarten gewesen.

    Zum goldenen Kalb der "Arbeitsplätze" habe ich bei Claudia Klinger schon etwas geschrieben. Die sind immer nur als Drohkulisse gut, wenn Konzerne Gefahr laufen, mehr Gehalt zahlen zu müssen und Gewerkschaften damit zu erpressen. Auf Dauer genützt hat Verzicht dabei in den seltensten Fällen bzw. war das Szenario wirklich als Überbrücken gedacht.

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  4. Der weit verbreitete Terminus „sozial schwach“ ist meiner Meinung nach irreführend wenn damit eigentlich eine ökonomische Schwäche bezeichnet werden soll. Soziale „Schwäche“ ist die dritte Stufe, direkt nach der Erniedrigungserfahrung in der Restekiste unserer Gesellschaft.

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  5. Fakten über eine scheinheilige Merkel

    „Wir schaffen das“ ist übrigens ein von Sigmar Gabriel geklautes Zitat, das dieser am 11.08.2015 in einem Video-Podcast zuvor benutzt hat. (https://www.welt.de/politik/deutschland/article157920725/Wir-schaffen-das-war-eigentlich-Gabriels-Idee.html)

    Die Nichtschließung der Grenzen war ein politisch neoliberales Kalkül und nur als Beifang eine humanitäre Geste. Merkel konnte sich die Bilder in der Weltpresse über brutale Zurückdrängung von Flüchtlingen an den deutschen Aussengrenzen nicht leisten. Es folgten dagegen nach 2015 zahlreiche Asylrechtsverschärfungen, wie z, B, die Asylpakete I und II, das Integratiosngesetz (Einrichtung der Ankerzentren mit schneller Abschiebepraxis) und das Dritte Änderungsgesetz zum Asylbewerberleistunsgesetz.

    Passend dazu, dass unter Merkel Führung das ein großer Teil des Hilfspersonals beim Abzug aus Afghanistan den Taliban ausgeliefert wurde. Es gingen Bilder um die Welt von Menschen, die versuchen, in Flugzeuge zu flüchten. Erst nach diesen Ereignissen beschloss die Bundesregierung, die Abschiebungen nach Afghanistan temporär auszusetzen. Bis dato galt Afghanistan als sicheres Herkunftsland, obwohl das Land militärisch besetzt und der Vormarsch der Taliban seit langem bekannt war.

    Merkel-Lüge Nr. 1: Mit mir wird es keine Maut geben. Kommentar überflüssig. Wir kennen die Agenda.

    Merkel-Lüge Nr. 2: Die Sparkonten der Kleinsparer sind sicher. Werden aber seit Jahren durch eine hohe Inflationsquote abgeschmolzen.

    Merkel-Lüge Nr. 3: Merkel 2016 in der Bundespressekonferenz auf die Frage des Journalisten Thilo Jung:
    “Ich ähm … unterstütze nie einen Krieg. Ich habe auch den Irakkrieg nicht unterstützt.”

    Merkel war gegen die Ehe für alle.

    Unter Merkel stieg Deutschland zum zweitgrößten Rüstungsexporteur der Welt auf.

    Auf Intervention der deutschen Autoindustrie verhinderte Merkel strengere Grenzwerte bei der EU-Abgasnorm.

    Während der Trauerfeier anläßlich der von der NSU ermordeten Opfer versprach sie im Jahr 2012 im Berliner Dom den Angehörigen, sich für eine schonungslose Aufklärung der Morde einzusetzen. Zitat;"Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen." Danach passierte nichts mehr. Es wurde vertuscht und verheimlicht und es werden wichtige Akten 8Mio. Dokumente) für 30 Jahre unter Verschluss gehalten.
    Merkel schaute außerdem zu, wie ihre Innenminister den institutionellen Rassismus ihrer Behörden ignorierten, Studien verhinderten oder aber mit Hinweis auf das föderale System Verantwortung von sich schoben. Trotz sage und schreibe 13 Untersuchungsausschüssen und eines mehrjährigen Strafprozesses ist es nach einem Jahrzehnt nicht gelungen, umfangreich Licht ins braune und behördliche Dunkel zu bringen. Zehn Jahre später lautet das Urteil also: Versprochen, gebrochen!

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