Sonntag, 16. Oktober 2022

Schmähkritik des Tages (62)


Heute: Stefan Gärtner über Bildungsgeschwätz

"Wären alle so gebildet, wie das die Rede von der Bildungsrepublik meinen müsste, um kein Geschwätz zu sein, würden sie vielleicht Fragen stellen, die nicht ins Konzept passen, nach Besitz, Macht und wie das zusammenhängt und ob ein Geländeporsche wirklich mehr als eine Geschmacklosigkeit ist, und wenn der Karosseriebaumeister aus der DDR, bei dem ich zu meinen Oldtimerzeiten Stammgast war, mir ungefragt mitteilte, das wisse ich doch sicher, dass die Schulbildung in der DDR besser gewesen sei, hatte er insofern recht, als die Bildungsrepublik mit dem Wissen beginnen müsste, worauf die Gesellschaft, in der man lebt, beruht. Die westliche Antwort, die ungefähr «Rechtsstaat» und «Freiheit» lautet, unterschlägt nämlich, was im Osten Grundwissen war: dass Herrschaft unmittelbar mit der Verfügung über die Produktionsmittel zu tun hat. Aber weder kann man alles wissen, noch soll sich eins für alles interessieren, etwa dafür, wie aussichtslos das mit der grünen Marktwirtschaft ist." (WOZ, 18. September 2022)

Anmerkung: Es sollte sich soweit herumgesprochen haben, dass mit 'Bildung', wenn von 'Bildungsrepublik' die Rede ist, natürlich nicht Bildung im aufklärerischen, ja kantianischen Sinne gemeint ist - wir erinnern uns: Austritt aus selbstverschuldeter Unmündigkeit -, sondern grundsätzlich und immer nur ökonomisch ausbeutbare 'Kompetenzen', am besten in Form von quantifizier- und messbaren 'Modulen' und eingedampft zur schnöden Dienstleistung. Alternativ ein anspruchsloser, entertainmentnaher Befindlichkeitskram, der 'Leute da abholt, wo sie stehen', ihnen 'Triggerwarnungen' gibt bzw. Repräsentanz verspricht, sie aber garantiert niemals überfordert.

(Damit ist keineswegs gemeint, dass es im herrschenden System keine naturwissenschaftlichen Spitzenleistungen gäbe, im Gegenteil. Es ist halt nur so, dass die bitteschön lukrativ sein müssen. Sonst muss, wie im Falle der Entwicklung der mRNA-Impfstoffe, der Staat massiv zubuttern.)

Von der Frage, was so Bildung genannt wird derzeiten einmal abgesehen, wäre man ja schon froh, wenn wenigstens das Finanzielle stimmte. Aber das Bildungsgeschwätz in Deutschland ist halt nur Geschwätz. Davon zeugen unter anderem die im internationalen Vergleich nach wie vor schandbar niedrigen Ausgaben für Bildung. Dazu unterfinanzierte, verrottende Schulen, andauernde Gering-, wenn nicht Verachtung pädagogischer Berufe ("Laberfächer"), vom Erzieher:innen- ("bessere Babysitter") bis zum Lehrer:innenberuf ("faule Säcke"). Was im Schulwesen trotz eigentlich attraktiver Gehälter und Privilegien (Beamtenstatus!) zu einem inzwischen katastrophalen Lehrermangel geführt hat. Aber Bildungsgeschwätz macht sich halt immer sehr gut bei Sonntagsreden.

Das Frustrierende an alledem ist doch, dass alles wertvolle Ost-Grundwissen, so sinnig es auch gewesen sein mochte, leider nichts nützte, als der Kapitalismus sich den Osten aneignete. (Fun fact: Auch im Westen wurde schon über so was debattiert, aber ab den Achtzigern mehr so im Privaten). Das richtige Bewusstsein zu haben, zahlt einem nicht die Miete, keine Rechnungen und verschafft einem erst recht keinen anständigen und auskömmlichen Job. So viel zum Thema Wissen ist Macht.






2 Kommentare :

  1. "als der Kapitalismus sich den Osten aneignete." … "Das richtige Bewusstsein zu haben, zahlt einem nicht die Miete, keine Rechnungen und verschafft einem erst recht keinen anständigen und auskömmlichen Job."
    Ja ... OK ... Aber wo bleibt dabei "Hoffnung" übrig?
    Nach 1848 konnte man ja zumindest noch in die Vereinigten Staaten auswandern ...

    Gruß
    Jens

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  2. Genial. "Terrorsprache" -> sofort bestellen, das Buch. Danke!

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