Dienstag, 23. April 2024

Soziale Blähungen


Der Investigativjournalist Jörg Pilawa hat jetzt ein mutiges Experiment an sich selbst vollzogen: Wie lebt es sich eigentlich so von diesem Bürgergeld? Dazu hat er eine Woche lang von 137 Euro gelebt, dem anteiligen Bürgergeld-Regelsatz. Man sollte fairerweise erwähnen, dass sein Resumee nicht in etwa lautete: Na ja, ist schon hart, auf einmal jeden Euro umdrehen zu müssen, wenn man das nicht gewohnt ist (so wie ich). Aber geht schon irgendwie, wenn man sich ein wenig am Riemen reißt und auch mal einfach nur Pellkartoffeln mit Quark isst. Nein, Pilawa gab offen zu, die Härten unterschätzt und sich für seine Vorurteile geschämt zu haben. Das ist zweifellos honorig, aber auch ein wenig dünne.

Legt man die jährlichen Aufwändungen für Soziales zugrunde, dann bewegt der deutsche Sozialstaat sich im europäischen Vergleich im oberen Mittelfeld. Er ist aber keineswegs "aufgebläht", wie man von konservativer/liberaler Seite nicht müde wird zu insistieren.

So kommt eher selten zur Sprache bzw. wird sich eher selten empört darüber, dass zwei der größten Einzelposten im Sozialetat Beamtenpensionen und der jährliche Zuschuss zur Rentenversicherung sind (weil die Beiträge zur Sozialversicherung längst nicht mehr ausreichen. Das kann nicht wirklich verwundern in einem Land, das überwiegend von Beamt:innen regiert und dessen Geschicke aufgrund der zunehmenden Überalterung mehr und mehr von den Interessen von Rentner:innen bestimmt werden. Also hackt man lieber auf Faulenzern herum, bläst den Popanz von den 'Totalverweigerern' auf. Das ist aber eine Gespensterdebatte, da es um eine zahlenmäßig zu vernachlässigende Gruppe von Menschen geht.

Ein wichtiges Instrument ist, 'erwerbsfähig' gleichzusetzen mit 'arbeitsfähig'. Jemand, der 30 Jahre Dachdecker war und einen kaputten Rücken hat, ist im Handwerk nicht mehr vermittelbar. Für einen anderen Job müsste er erst qualifiziert werden, etwa durch eine Weiterbildung oder Umschulung. Einer 60jährigen Altenpflegehelferin, die nach 20 Jahren ihren Job wegen Schließung der Einrichtung verliert, keinen Führerschein besitzt und in einer Stadt mit weniger als 10.000 Einwohnern und schlechter Nahverkehrsanbindung lebt und die nächste größere Stadt über 70 km entfernt ist, kann man noch so viele 'zumutbare' Jobangebote unterbreiten, sie wird sie nicht annehmen. Oder man finanziert ihr halt Führerschein plus Auto.

Wenn ein Friedrich Merz trotzdem unbedingt den paar 'Totalverweigerern' Beine machen will, als hinge von denen die Zukunft der Volkswirtschaft ab, dann geschieht das aus einem ganz bestimmten Grund: Das Ressentiment gegenüber Menschen, und seien es noch so wenige, die sich einen faulen Lenz machen, derweil man selbst jeden Tag frühmorgens den Hintern vom Futon hebt, ist überaus verbreitet, und zwar bis weit in Milieus hinein, die nicht zur Kernklientel der FDP gehören. Aufpassen, dass bloß niemand unter einem auch nur einen Cent mehr bekommt als ihm gnädigerweise zusteht, ist nun einmal seit jeher eine der Kernkompetenzen kleinbürgerlicher Knieperei.

Man kann in Diskussionen noch so sehr mit Fakten wie den obigen kommen, irgendwer kennt immer jemanden, der jemanden kennt. Und immer kennt jemand einen, der faule Zuwanderer kennt, die hier für ihre zig Kinder Kindergeld abgreifen und sich über die Doofheit der Deutschen eins lachen. Auch das ist im Interesse einer Union, deren Vorsitzender immer noch glaubt, die AfD halbieren zu können, indem er sie rechts überholt. 

Nun könnte man ja fragen: Wenn das Anfang 2023 eingeführte Bürgergeld so ein sanftes Ruhekissen mit Luxusversorgung ist, dann hätte die Zahl der ALG2-Beziehenden doch seitdem signifikant steigen müssen. Weil dann, der Logik von Konservativen/Liberalen zufolge, jede Menge faule Säcke ihre Jobs hätten kündigen und nach Ablauf des ALG1-Anspruchs beim Jobcenter auflaufen müssen. Ist aber nicht passiert. Zwar gab es einen leichten Anstieg, der aber die üblichen Schwankungen der letzten Jahre nicht überstiegen hat.

Das unehrliche an allen Sozialstaatsdebatten der letzten Jahrzehnte ist, dass sie sich grundsätzlich auf die konzentrieren, die sich am wenigsten wehren können und dass mit der Mär vom 'aufgeblähten' Sozialstaat implizit immer überversorgte Arbeitslose gemeint sind.

"Josefine K., eine alleinerziehende Mutter, die kürzlich ihren Job verloren hat und eine Umschulung macht, muss mit insgesamt acht verschiedenen Behörden Kontakt aufnehmen, um die staatliche Unterstützung zu erhalten, die ihr zusteht. Diese Behörden umfassen die Familienkasse für Kindergeld und Kinderzuschlag, die Wohngeldstelle für Mietzuschüsse, die Bundesagentur für Arbeit für Arbeitslosengeld und das Jugendamt für einen Unterhaltsvorschuss für ihre Tochter. Zusätzlich muss sie sich mit dem Finanzamt wegen Kinderbetreuungskosten und dem Alleinerziehendenfreibetrag auseinandersetzen sowie mit dem Sozialamt für Sozialhilfe und Pflegehilfe für ihren Vater. Darüber hinaus hat sie auch mit der gesetzlichen Krankenkasse und der Pflegeversicherung zu tun. Dieser bürokratische Prozess, der zwölf verschiedene Leistungen umfasst, kann monatlich erneuert werden und erfordert eine umfangreiche Einzelfallberechnung aufgrund seiner hohen Komplexität." (Alexander Neubacher)

Wiewohl das o.g. Fallbeispiel im Kafkajahr wohl kafkaesk zugespitzt ist ("Josefine K." -- wink, wink!), scheint das Problem mir eher, dass (a) weniger die Bezieher:innen von Leistungen über Gebühr gepampert werden, sondern dass von den Mitteln, die ins Soziale fließen, eine Menge in einer byzantinischen Bürokratie und Verwaltung versickert und dass (b) Menschen, die nicht in der Lage oder es nicht gewohnt sind, sich durch solch einen Behördendschungel zu kämpfen, außen vor bleiben und daher Leistungen, die ihnen eigentlich zustünden, nicht bekommen bzw. sie gar nicht erst in Anspruch nehmen.

Fun fact: Die Bundesagentur für Arbeit hat heute mehr Mitarbeiter als 2005, dem Jahr, in dem die 'Agenda 2010' in Kraft trat, obwohl sich seit damals die Arbeitslosenquote ungefähr halbiert hat. Das muss so ein Totalverweigerer erst einmal hinbekommen. Wie? Das ist grob vereinfachend, weil doch die BA so viele Aufgaben und Vorgaben aufgehalst bekommen hat seit damals? Kann schon sein. Und wenn schon. Bei Arbeitslosen guckt man schließlich auch nicht so genau hin.








 

3 Kommentare :

  1. Ein Spitzen-Artikel, danke dafür! Nur nützt es leider nichts, diese Fakten wieder und wieder den Hetzern entgegen zu halten - es ist nun mal erfolgreicher, Ressentiments gegen kleine Minderheiten zu bedienen anstatt eine Politik zu machen, die wirklich etwas verbessert.

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  2. Siewurdengelesen24. April 2024 um 18:35

    "Pilawa gab offen zu, die Härten unterschätzt und sich für seine Vorurteile geschämt zu haben."



    Ach?!



    Medien und Sprachrohre in Menschengestalt funktionieren...

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  3. "Die Bundesagentur für Arbeit hat heute mehr Mitarbeiter als 2005..."

    Ach? Ich frag mich bloß, was die den ganzen Tag so beruflich machen.

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