Montag, 3. Juni 2019

War's das? Zehn Thesen zur SPD


(Na ja, nicht ganz. Genau genommen sind es nur neun. Eine ist über die Grünen. Reicht trotzdem.)

Es ist keineswegs zu hoch gegriffen, die SPD in der tiefgreifendsten Krise seit den Sozialistengesetzen des 19. Jahrhunderts zu sehen. Die Koalition mit der CDU scheint kaum mehr haltbar und die Union schwächelt wegen des Fettnäpfchenmarathons ihrer Vorsitzenden erheblich. Vielleicht wird die alte Tante nicht völlig verschwinden, vielleicht wird sie weiterhin da und dort Ministerpräsidenten stellen (man vergesse nicht, dass die SPD kommunalpolitisch nach wie vor sehr gut aufgestellt und so gut wie keine deutsche Großstadt mehr CDU-regiert ist), aber bundespolitisch wird sie auf absehbare Zeit kaum eine Rolle spielen.

1. Der Rücktritt von Andrea Nahles bzw. ihr Rückzug aus der Politik wird für die SPD keinerlei Verbesserung bedeuten.
Nahles ist nicht über eine Affäre gestolpert, vermutlich auch nicht über einen internen Machtkampf. Sie macht auch nicht Platz für jemand Geeigneteren. Sie hat schlicht entnervt aufgegeben. Sicher hat sie glücklos und ungeschickt agiert. Für das Kernproblem der Sozialdemokraten aber, dafür, dass ihnen die Milieus abhanden gekommen sind, ist sie allenfalls mitverantwortlich. Obwohl übermäßiges Mitleid fehl am Platze ist, wäre es trivial, falsch und auch ungerecht, die Probleme der SPD allein ihr anhängen zu wollen.

2. Man will im Willy-Brandt-Haus offenbar bis heute nicht wahrhaben, wie tiefgreifend der Verrat nachwirkt, den die Partei unter Schröder von 1998 bis 2005 an Teilen ihrer Stammwählerschaft begangen hat.
Nuff said.

3. Es gibt keinen einzigen rational nachvollziehbaren Grund mehr, auf Bundesebene SPD zu wählen.
"Warum die Klimaschützer nicht zu den Grünen gehen sollten und die Klimaleugner oder Kohleförderer nicht zur AfD, vermochte die SPD nicht zu sagen. Ebenso wenig, warum die Hartz-IV-Gegner nicht die Linke wählen sollten und die Wirtschaftsfreundlichen nicht die CDU." (Stefan Hebel)
-- So sieht das aus.

4. Na gut, vielleicht einen.
Der da wäre: Man möchte sie unbedingt als Juniorpartner in einer großen Koalition mit der CDU sehen, wo sie dann dafür sorgen soll, dass die sozialen Grausamkeiten der CDU etwas weniger grausam ausfallen. Bisschen dürftig, will mir scheinen.

5. Die SPD ist weit mehr als andere Parteien auf charismatisches Führungspersonal angewiesen...
Die CDU hat gegenüber der SPD von jeher einen strategischen Vorteil. Sie kann Geschlossenheit (bei den Sozen hieß das einst: Solidarität). Auf Bundesebene tickt sie sehr einfach: Wer eine realistische Chance hat, das Kanzleramt zu erobern bzw. zu halten, hat die Unterstützung der Partei, weitgehend ohne Ansehen der Person. Ungeklärte NS-Vergangenheit? Keine Sache. Tumber Provinzfürst aus Oggersheim mit nuscheliger Aussprache und Vorliebe für Saumagen? Kein Problem. Linkisch-dröge Physikerin aus dem Osten ohne nennenswerte politische Erfahrung sowie Kompetenz, mit Messer und Gabel zu essen? Ach, wer ist schon perfekt?
Weil die SPD bekanntlich eine kleinbürgerliche Partei ist, die sich einen linken Flügel hält, ist ihr der Krawall quasi in die Wiege gelegt. Daher hat die SPD immer nur dann funktioniert, wenn sie einen 'starken', charismatischen Vorsitzenden hatte, der die Partei mitreißen konnte. Gerhard Schröder war der letzte, der das konnte. Mit den bekannten Folgen.

6. … das den Laden dann regelmäßig mit heroischer Geste an die Wand fährt.
Fast immer, wenn die SPD mal an der Regierung war, haben eben diese charismatischen Führungspersönlichkeiten sich irgendwann einspannen lassen von Bourgeoisie und Kapital und gegen die eigene Partei 'aus staatspolitischer Verantwortung' 'schweren Herzens' 'unpopuläre, aber nötige Entscheidungen'* getroffen. Was der Partei niemals, nicht ein einziges Mal, irgendwie genutzt hat. No exceptions. Schmidts Entscheidung, den NATO-Doppelbeschluss durchzudrücken, kostete ihn das Kanzleramt und half den Grünen aufs Pferd. Schröders Agenda 2010 machte die Linke auf Kosten der Genossen stark. Zuletzt Steinmeiers Moralpredigt, entgegen anders lautenden Erklärungen doch wieder in eine große Koalition zu gehen. So nutzt man sich ab. Die CDU brauchte immer nur danebenzustehen und abzuwarten.

7. Maßgebliche Teile der SPD scheinen geradezu süchtig nach Zuspruch und Lob von Bourgeoisie und Kapital.
Ein Rolle spielt sicher, dass viele Genossen dank Bildungsreform inzwischen selbst bürgerliche Bildungskarrieren hingelegt haben, die einstige Basispartei SPD dadurch inzwischen in Teilen eine Honoratiorenpartei geworden ist. Es scheint jedenfalls zu den größten Ängsten nicht weniger SPD-Funktionäre zu gehören, von Bürgerlichen gerüffelt zu werden: "Na na na, liebe Genossen, so geht das aber nicht! Machen wir etwa wieder auf Vaterlandslose Gesellen?" -- und schon wird eingeknickt. Beispiel gefälligst?

8. Kevin Kühnert wäre eine der letzten Chance der SPD gewesen.
Die nämlich, die soziale Frage wieder aufs Tapet zu bringen. Die unverhältnismäßig heftigen Reaktionen auf einen einzigen Satz, den Juso-Supremo Kühnert in einem Interview gesagt hat, haben das deutlich gezeigt. Anstatt sich hinter ihren Parteifreund zu stellen (was man übrigens auch dann tun kann, wenn man mit einzelnen Aussagen nicht einverstanden ist), reagierte die Partei wie ein Hühnerhaufen: "Was hat der Kevin da gesagt? Enteignung? [Fun fact: Hat er nicht.] Dieser Rotzlöffel! Wir reden mit ihm. So geht das ja nicht!" Ein3 sich sozialdemokratisch nennende Partei, die sich derart standhaft um die soziale Frage drückt, braucht sich zumindest nicht mehr darüber zu wundern, dass sie nicht als sozialdemokratisch wahrgenommen wird..

9. Das Orakel spricht.
Der nächste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland wird mit stetig steigender Wahrscheinlichkeit wohl Robert Habeck heißen. Gut, das war jetzt nicht wirklich zur SPD, aber vielleicht gewöhnen wir uns schon mal an den Gedanken.

10. Und die SPD so?
Wird, wie gesagt, vermutlich nicht völlig verschwinden. Weil es immer noch ein paar gibt, die sich die Politik ohne sie nicht vorstellen können. Wird sich möglicherweise verzwergt bei 8-10 Prozent rumdrücken. So wie die Grünen mal angefangen und lange Zeit agiert haben. Und, hat es ihnen geschadet?


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* Kleine Auswahl gefällig? Kriegskredite 1914, Novemberrevolution niederkartätscht 1918, Panzerkreuzer A 1928, Godesberger Programm 1959, NATO-Doppelbeschluss 1979, 'Agenda 2010' 2003ff., neuerlicher Eintritt in eine GroKo 2017.






6 Kommentare :

  1. Das ist mir alles zu lieb, zu freundlich und verständnisvoll geschrieben. Deshalb zwei Links von mir:


    1. https://belgarathblog.files.wordpress.com/2014/08/spd-wir-pissen.jpg

    2.http://www.kaysokolowsky.de/die-jaemmerlichste-der-parteien/

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  2. Ich verstehe gar nicht, warum irgendjemand dieser Frau und ihrer Partei auch nur eine Träne nachweint. Aber es gibt viele ehemalige SPD-Wähler in diesem Land. Sie sind wie trockene Alkoholiker. Stets in Gefahr, wieder zu den Flaschen zu greifen.

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    1. Pöh ja, über das Über-die-SPD-Schimpfen bin ich inzwischen hinaus, ist ein bisschen wie Welpen treten. Es bringt einfach nichts, sich da aufzuregen (wiewohl Herr Sokolowsky das natürlich virtuos tut).
      Ich empfehle ergänzend Tom Strohschneider im 'neuen deutschland:
      "Die Krise der SPD ist also auch eine Krise des alten Prinzips Sozialdemokratie. Den historischen Erfolgen sozialer Integration durch nationalstaatlich organisierte Umverteilung, tarifliche und gesetzliche Absicherung, steigende Löhne und so weiter wurden in einem globalisierten Kapitalismus mit seinem Steuerwettbewerb nach unten, dem Abfluss von Kapital in Richtung Börsen, der privaten Reichtumsmehrung und mangelnden gesellschaftlichen Investitionen mehr und mehr die Voraussetzungen entzogen." -- Wird gern übersehen.

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    2. Siewurdengelesen5. Juni 2019 um 23:08

      "Pöh ja, über das Über-die-SPD-Schimpfen bin ich inzwischen hinaus, ist ein bisschen wie Welpen treten."

      So einen Spruch über den durchaus gerechtfertigten Abtritt Auf-die-Fresse-Nahles´ hatte ich auch schon in der virtuellen Feder, die entgegen ihrer Sprüche nur die typischen SPD-Methoden weiter bedient hat und neben diversen anderen Gemeinheiten ausgerechnet als SPD im Einklang mit den DGB-Gewerkschaften das Streikrecht abgesägt hat.

      Dann las ich allerdings bei Annika diesen Beitrag und dachte mir so: Verdammt - sie hat recht...

      Ein fokussierender Einfluss der Medien ist dabei nicht zu leugnen, der das Desaster der "Volksparteien" hypt, während die abgef...ten Rechten quasi unter dem Mantel des Schweigens still ihr Süppchen köcheln.

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    3. Ach, von hier kommen die Kommentare aus mir unbekannten Federn ;)

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  3. Das klingt so, als hätte die SPD diesen Wandel passiv erlitten. Das ist ein Opfermythos. Schröder hat als Genosse der Bosse den Spitzensteuersatz von 53 Prozent (Kohl-Ära) auf 43 Prozent gesenkt. Er hat aus Jobsuchern Sozialhilfeempfänger gemacht und die Rente mit 67 eingeführt. Nahles hat die Agenda-Politik später als Ministerin gnadenlos weiter durchgezogen und war bis zuletzt die willige Steigbügelhalterin einer neoliberalen CDU-Chefin. Fakten und Wahlergebnisse sprechen gegen die SPD. Diese Partei hat sich selbst entkernt und selbst zerlegt. Es muss niemanden wundern, dass sich kein Nachfolger findet. Am Tag von Merkels Rücktritt haben binnen weniger Stunden drei Leute ihren Hut in den Ring geworfen.

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