Sonntag, 29. März 2020

Apokalypse. Paradies. Lektüre


"Erwartet euch nicht zu viel vom Weltuntergang!" (Stanislav Jerzy Lec)

Es hat wohl mit den momentan herrschenden Zuständen zu tun, in denen unter anderem viele Menschen deutlich mehr Zeit haben als sonst, dass feuilletonistisch Agierende ein wenig zum Extrem neigen. Entweder, die Welt, wie wir sie kennen, endet gerade vor unseren Augen (eine schöne Zusammenstellung findet sich bei Michael Miersch) oder die Seuche wird die Menschheit auf eine schönere, höhere Stufe ihres Seins katapultieren.

Die ganzen Populisten, vor allem Johnson, Trump und die AfD, so ist fast einhellig zu lesen, stünden durch die kurrente Großkrise quasi nackend da. Ihre Sprüche verfingen nicht mehr, jetzt zeige sich die ganze Stärke der etablierten, verantwortungsvoll agierenden Kräfte. Nun ja. Würde ich wirklich gern glauben. Ich bin auch nicht unfroh zur Zeit, dass der Bundeskanzler nicht Trump oder Johnson heißt. Trotzdem wäre ich vorsichtig mit der Erleichterung.

Zwar kann ich über Johnson nix sagen, aber bei Trump ist da dieser fiese Fakt, dass seine Beliebtheitswerte unter seinen eher erratischen Auftritten nicht sonderlich zu leiden scheinen. Im Gegenteil: Eine Mehrheit der US-Bürger scheint sein Krisenmanagement zu goutieren. Nun ja. Und die AfD so? Was soll sie denn groß machen? Läuft doch. Ihre zentralen Forderungen sind weitestgehend umgesetzt: Grenzen sind dicht, Gevatter Flüchtling steckt weiter schön an der griechischen Grenze fest und bleibt draußen. Im Innern wird so richtig straff und ohne lästige Quasselbude durchregiert.

Weil aber nicht alle Ausländer immer nur doof sind, sondern auch Erntehelfer, muss jetzt nur noch der feuchteste aller feuchten Träume autoritärer Zwangscharaktere in Erfüllung gehen: Nichtsnutziges, faules Pack wird zu niederen Arbeiten kujoniert, auf dass der Deutsche seinem wichtigsten Menschenrecht, demjenigen auf billigen einheimischen Spargel nämlich, nicht verlustig geht.

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Man kommt auch mehr zum Lesen. Habe ich getan.

Einmal Frédéric Martel: 'Sodom. Macht, Homosexualität und Doppelmoral im Vatikan'. Das Gute zuerst: Es gibt viel zu lernen. Vor allem über Doppelmoral. Steht ja auch im Titel. So weiß man nach der Lektüre, dass der Vatikan der einzige Staat auf der Welt ist, in dem Schwule keine Minderheit sind, in dem gleichzeitig aber auch die rigideste homophobe Politik gefahren wird. Man lernt, dass in Rom als einer der wenigen europäischen Großstädte noch ein schwuler Straßenstrich existiert, während das anderswo längst online über Apps abgewickelt wird. Grund: Der Vatikan spioniert die Smartphones seiner Kleriker systematisch aus.

Martel rekonstruiert, wie es dazu gekommen ist. Vatikanische Angelegenheiten waren bis zum Pontifikat Johannes Pauls II. im Prinzip immer italienische Angelegenheiten. Unter den Bedingungen einer extrem patriarchalen bis machitstischen Gesellschaft wie im Nachkriegsitalien war das Priesteramt für schwule Junge Männer oft die einzige Möglichkeit, unbehelligt von Gewalt und Diskriminierung zu bleiben, befreite es sie vom Druck, heiraten zu müssen. So seien mehrere Generationen katholischer Geistlicher herangewachsen, die sich aufgrund ihrer Prägungen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts gezwungen sahen, ein Doppelleben zu führen, auch im 21. Jahrhundert jene Neigung im Geheimen auszuleben, die sie nach außen hin aufs Schärfste verdammen.

Besondere Empathie hegt Martel für Joseph Ratzinger alias Benedikt XVI. Dieser nicht nur hochintelligente und verhärtete, sondern auch hochsensible und durchaus empathische, geradezu weiche Mann habe ja genau gewusst, wie es um diese mit sich ringenden jungen Priester stand. Er konnte aus eigener Erfahrung ihre inneren Kämpfe, ihre Konflikte nachvollziehen. Nur habe den Fehler gemacht, ihnen als Lösung das aufzuerlegen, was er selbst sich einst auferlegt hatte: Verzicht, Entsagung, Sublimation.

Das ist alles scharf beobachtet und, wie gesagt, durchaus lehrreich. Zu den Schwächen: Zum einen ist das Buch streckenweise arg geschwätzig. Andauernd gibt der Autor damit an, mit wie vielen Informanten er sich wie oft und wo getroffen hat, ergeht sich in länglichen Schilderungen über die meist entsetzlich geschmacklose Einrichtung der Wohnungen hoher vatikanischer Würdenträger, über deren pompöse Kleidung und Schmuck. Es mag nicht mehr zeitgemäß sein, aber manchmal scheint es fast, als gäbe der selbst entsprechend veranlagte Martel sich alle Mühe, dämlichen Klischees über Schwule zu entsprechen. Das nervt zumeist und dient an keiner Stelle der Aufklärung. Hier wäre weniger mehr gewesen.

Mag das nur ärgerlich sein, so grenzt es beinahe schon an einen Skandal, dass Martel kaum auf den massenhaften Kindesmissbrauch durch katholische Priester eingeht. Die Zeiten, in denen Missbrauch von Kindern als spezifisch schwules Phänomen galt, sind zum Glück vorbei. Aber mehr als 650 Seiten vollschreiben darüber, wieso so viele Priester ein problematisches Verhältnis zu ihrer Sexualität haben und dann den schlimmsten Skandal, den die Katholische Kirche nach Waffensegnungen und Ketzerverbrennungen sich anlasten lassen muss, fast völlig umschiffen? Es gibt Schweigen, das dröhnt. Hier wäre mehr besser gewesen.

Frédéric Martel: Sodom. Macht, Homosexualität und Doppelmoral im Vatikan. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2019, 674 S. (26,00 €) 
 
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Kontrastprogramm. Vincent Klink: 'Ein Bauch lustwandelt durch Wien'. Den Klink les' ich eigentlich immer gern. Koch, Gastronom, begabter Schreiber, Musiker, Maler. Sein Online-Tagebuch ist hier des Öfteren wohlwollend zitiert worden. Schon bei seinem letzten Buch kokettierte er pars pro toto mit seiner ausladenden Taille und nannte es 'Ein Bauch lustwandelt durch Paris'. Jetzt also ist Wien an der Reihe.

 
Been there, too...

Was soll ich sagen? Wien ist eine wunderschöne Stadt und wer Reiseführer, in denen bloß 'Hotspots' abgehakt werden nebst ein paar 'Geheimtipps' (die dann ja keine mehr sind), öde findet, kann bei Klink bedenkenlos zugreifen. Hier flaniert wirklich einer kenntnisreich und mit Interesse fürs Essen, fürs Schräge und fürs Schöne und lässt uns teilhaben. Es gibt Rezepte zu studieren und Anekdoten zu lesen. Etwa die, wie Klink einmal bei Dreharbeiten zu einem Film das Wiener Schauspielerdenkmal Paulus Manker in einen Backofen schob oder wie die Dienerschaft der Hofburg so lebte und warum das am Ende zum Problem wurde.

Wir lernen, dass Kellner in Österreich keine ausgebeuteten, geschurigelten Billiglöhner sind, sondern angesehene, ehrbare Leute. Dass ich bei meinem nächsten Wien-Besuch unbedingt im 'Schwarzen Kameel' den Beinschinken kosten muss, so ich bis dahin nicht zu Vegetarismus konvertiert bin, und vieles mehr.

Das alles ist an keiner Stelle geschwätzig oder von oben herab, sondern flott geschrieben. Macht Freude. Gern gelesen. Nur eines vielleicht:

Das Buch ist reich illustriert, unter anderem mit einigen von Klinks Aquarellen. Vor allem aber sehen wir den gewichtigen Verfasser andauernd irgendwo vor irgendwas, in irgendwas oder mit irgendwas in Wien posieren. Das hat mit einst schon Diaabende gründlich verleidet. So sympathisch es ist, wenn da einer fröhlich wampert durch die Welt wandelt und dabei einen Dreck gibt auf oberflächliche Schönheitsideale, so möchte ich ihm aber nicht wie bei Instagram gefühlt auf jeder dritten Seite dabei zugucken. Das macht dies ansonsten so anregende Büchlein zuweilen etwas anstrengend. Hier wäre weniger mehr gewesen. Ohne die ganze Urlaubsknipserei wären es vielleicht nur 290 Seiten geworden statt 380. So what?

Vincent Klink: Ein Bauch lustwandelt durch Wien. Mit Fotos von Gerald von Foris und Aquarellen von Vincent Klink. Berlin: Ullstein 2019, 382 S. (24,00 €)  





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