Die Links, Fundstücke und Leseempfehlungen des Monats:
Politik. Stefan Sasse mit einem Essay über die Weimarer Verfassung. Die ging nicht, wie oft in Geschichtsbüchern zu lesen, an inhärenten Konstruktionsfehlern zugrunde, sondern funktionierte auch dann noch sehr gut, als ein erklärter Antidemokrat wie Hindenburg Reichspräsident wurde. Der amtierte immerhin fünf Jahre lang, ohne die Verfassung irgendwie zu beschädigen. Sie scheiterte, weil Konservative und Liberale beschlossen, "die Demokratie zugunsten eines autoritären Systems abzuschaffen." (Sasse, a.a.O.) Die nachkriegsdeutsche Gewissheit, unser Grundgesetz, das die inhärenten Konstruktionsfehler der Weimarer Verfassung nicht mehr enthält, werde uns im Zweifel schon retten, ist daher unangebracht.
Apropos Sasse: Nachzureichen noch der fünfte Teil seiner Artikelserie über die Nullerjahre als verdrängte Dekade.
Ellen Daniel interviewt den Soziologen Andreas Reckwitz über Identitätspolitik und den neuen Klassenkampf.
Onkel Michael mit einem kurzen Rückblick auf das Impfwesen in der NS-Zeit.
Eine ältere Kolumne über Julian Assange von Sascha Lobo. Assange erfährt viel Unterstützung, und das wohl zu recht. Sein Problem könnte aber sein, dass er weder charismatisch noch sympathisch rüberkommt. Zumindest letzteres ist natürlich keine politische Kategorie, spielt aber wohl eine Rolle.
Florian Aigner über Klimaschutz und Verzicht.
Die Gerichtsreporterin Raquel Erdmann berichtet über ein äußerst zähes Abschiebeverfahren.
Uwe Kalbe meint, die Grünen trifft momentan genau jene Moralkeule, die sie selbst gern schwingen.
Stefan Niggemeier über eine gruselige Sonderausgabe der Schweizer 'Weltwoche'.
Kultur, Gesellschaft, Gedöns. Nicht nur aus ästhetischen Gründen, sondern auch weil 'lichtdurchflutet' in Zeiten der Klimaerwärmung eine eher ungute Idee ist, fordert Gerhard Matzig: Schluss mit den Glaskästen!
Ein besonders abschreckendes Beispiel ist der unförmige, 2015 mit dem Carbuncle Cup prämierte Büroklotz 20 Fenchurch Street in der Londoner City. Der verschandelt vor allem die Sicht auf Tower und St. Paul’s Cathedral. (Ich war vor ein paar Jahren dort und bekam auf der Stelle Sprengstoffphantasien.) Weiters vermag der Bunker mit seiner konkav gewölbten Glasfassade Kunststoffteile parkender Autos einzuschmelzen und buchstäblich umwerfende Fallwinde hervorzurufen.
Magnus Klaue erinnert an die vor zehn Jahren verstorbene Amy Winehouse.
Noch ein Todestag. Jim Morrison ist seit 50 Jahren nicht mehr. Ein Interview mit dem 'Doors'-Gitarristen Robby Krieger.
Musik. Zu meinen Kindheitserinnerungen gehört die Westernkomödie 'Vierzig Wagen westwärts' ('The Hallelujah Trail') von John Sturges aus dem Jahr 1965. Colonel Thaddeus Gearhart (Burt Lancaster) bekommt 1867 den Auftrag einen Treck zusammenzustellen, um die entlegene Bergbaustadt Denver mit alkoholischen Getränken zu versorgen. Denn die Vorräte gehen zur Neige, es steht ein kalter Winter bevor und die Bergarbeiter drohen ohne Sprit zu rebellieren. Eine Gruppe von Frauenrechtlerinnen und Temperenzlerinnen um Cora Templeton Massingale (Lee Remick) will den Transport um jeden Preis verhindern. Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir die Titelmusik von Elmer Bernstein.
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Eine Erinnerung an die Zeit, zu der man in Hollywood noch ordentliche Filmmusik machte. Satte, süffige Orchesterbreitseite, schmissig und eingängig, mit Anleihen bei Jazz, Marschmusik und deutscher Romantik. Vielleicht keine hohe Kunst, aber unglaublich gekonnt. Vermochte den schlechtesten Film rauszureißen.
Sport. Stefan Laurin erinnert an Reinhard 'Stan' Libuda, der vor 25 Jahren starb. Nach 25 Jahren Ruhezeit wird sein Reihengrab auf dem Ostfriedhof in Gelsenkirchen-Bismarck demnächst eingeebnet. Libuda, der wie viele Fußballstars der damaligen Zeit, zu wenig verdient hatte, um ausgesorgt zu haben, kam mit dem Leben abseits des Platzes nicht klar und starb ohne nennenswerte Finanzmittel. Daher hatte es für eine Gruft nicht gereicht. Ein dauerhaftes Ehrengrab darf die Stadt Gelsenkirchen nicht vergeben, da Libuda im Zuge des Bundesliga-Wettskandals 1972 wegen Meineides verurteilt wurde und damit vorbestraft war.
Essen, trinken, gut leben. Der Exilschwabe Horst Hummel mit einer Polemik auf den Trollinger. "Er wird ausschließlich in Schwaben von Schwaben getrunken. Und er wird ausschließlich in Schwaben von Schwaben gelobt." (Hummel, a.a.O.), und Rainer Balcerowiak sekundiert: "[Dieses] weinähnliche Getränk gilt außerhalb des Ländles als nicht verkehrsfähig, und das nicht ohne Grund." (Balcerowiak, a.a.O.) Meine eigenen Trollinger-Erfahrungen sind spärlich, bestätigen das aber. Der Trunk kam mir vor wie etwas weniger süßer Traubensaft mit Alkohol. So wie billiger englischer Cider mir vorkommt wie Apfelschorle mit Alkohol. Eine gute Wahl, wenn man sich schnell und wirksam bedröhnen will, aber nicht zu Doppelkorn oder Wodka greifen mag.
Ciabatta gilt vielen als ultimative italienische Brotspezialität. Das mag sein. Hat aber keine Tradition, denn Ciabatta ist eine Erfindung italienischer Bäcker aus den Achtzigern. Wusste man beim Guardian schon 1999.
Das Rezept. Quer durch Deutschland verläuft nicht nur der Weißwurstäquator, sondern auch ein Kartoffelsalatgraben (Majo oder Essig/Öl) und ein Lakritz-Limes. Dann gibt es noch die unsichtbare Dicke-Bohnen-Demarkationslinie. Nördlich davon gelten Dicke Bohnen, auch Ackerbohnen, Favabohnen oder Puffbohnen genannt, als Delikatesse, südlich als Viehfutter ('Saubohnen'). Im Rheinland ('Decke Bunne met Speck') und in Westfalen ('Graute Bauhnen') werden sie besonders geschätzt. Saison ist zwischen Mai und Oktober, daher ist im Sommer Dickebohnenzeit, die an einigen Orten des Münsterlandes teils feierlich begangen wird.
In anderen Gegenden der Welt ist man übrigens nicht so ignorant wie in Süddeutschland. Dort sind die delikaten Eiweißlieferanten Grundlage für Leckereien wie Falafeln und Ful, in Italien für Vignarola, in Spanien und Lateinamerika für Habas Tostadas.
Dicke Bohnen sind keine Bohnen, sondern botanisch mit den Wicken verwandt. Daher sind sie nicht mit den griechischen Gigantes zu verwechseln. Auch gibt es sie nicht getrocknet zu kaufen, sondern nur frisch ihren Schoten, tiefgefroren oder eingemacht im Glas. Letztere sind tunlichst im Laden zu belassen. Die sind weichlich-mehlig und haben einen dumpfen, leicht bitteren Geschmack, der sie schon vielen verleidet hat. Frische machen viel Arbeit und Abfall und man hat hinterher gerade mal die Hälfte übrig. Wie beim Grünkohl rate ich auch hier zu tiefgefrorener Ware.
Die hier in Norddeutschland klassische Zubereitung ist denkbar einfach: Die geputzten oder gefrorenen Dicken Bohnen in Wasser ca. 20 Minuten oder bis zum gewünschtem Biss mit Speck, Mettwurst und/oder Kassler abkochen, abgießen und die Flüssigkeit auffangen. Eine fein gehackte Zwiebel weichdünsten, aus einer hellen Mehlschwitze, dem Sud und etwas Milch ein Sößchen bereiten und die Bohnen sowie die Einlage darin erhitzen. Mit Salz, Pfeffer und Bohnenkraut abschmecken und mit Salzkartoffeln servieren.
"Weinähnliches Getränl" trifft es genau. Aber Vorsicht! Wer vor Trollinger-Trinkern gegen den Trollinger polemisiert, wird gnadenlos gecancelt. Ich hab vor ca. zwanzig Jahren mal in einem Stuttgarter Lokal um eine Weinempfehlung gebeten. Als mir Trollinger empfohlen wurde, sagte ich "Ich möchte Wein, kein weinähnliches Getränk." und wurde fortan nicht mehr bedient. Auch mein bereits bestelltes
AntwortenLöschenEssen wurde mir nicht mehr gebracht. Als ich diese Episode Jahre später in meinem Blog erwähnte, gab's prompt Beschimpfungen in den Kommentaren. Ein Trollinger-Fan versuchte mich jahrelang per Mail zu stalken. Die sind total irre. Das muss an der Plörre liegen. Vielleicht ist da Zeugs aus den Chemtrails drin. Vom Geschmack her könnte das passen.
Was wird erst los sein, wenn sie mitbekommen, dass Hummel im verlinkten Artikel auch die schwäbische Küche als uninspiriertes, vor allem satt machendes Gematsche denunziert. Dann brechen die vermutlich die diplomatischen Beziehungen mit Berlin ab.
LöschenIch glaube, der gute Ruf der schwäbischen Küche liegt darin begründet, dass sie gern mit der feineren badischen verwechselt wird.
Schwäbische Küche? Abgesehen von Maultaschen, die wirklich ganz delikat sein können, ein extrem heißes Eisen. Menschen, die knallsaure, totgekochte Gummipfropfen mit orgiastischem Gestöhn als "köschtliche saure Nierle" loben, hatten noch nie eine gescheite Niere auf dem Teller. Wenn ich einen Todeswunsch hätte, würde ich jetzt noch anfangen, darüber zu philosophieren, dass Spätzle vielleicht grundsätzlich überschätzt werden... Nein, mach ich nicht. Käsespätzle sind ganz okay, wenn's ein gescheiter Käse ist.
LöschenDie Schwaben können, ähnlich wie die Bayern in ihrer Selbstliebe sehr störrisch werden. Spätzle sind einfach Nudeln, auch wenn die Schwaben gerne schaben. Maultaschen gibt es, mit anderem Namen, auch in Italien, Russland oder China - dort schmecken sie meistens besser. Ich hatte mal einen Zwiebelrostbraten, der mit Senf völlig ruiniert wurde.
LöschenDicke Bohnen...sabber!
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