Freitag, 23. Juli 2021

Sommerloch: Der Wikinger an der Ecke

 
Wie bei uns in der Provinz doch einmal etwas Weltbewegendes passierte und niemand es bemerkte (Wdh.).

Bekanntlich komme ich aus und lebe in der Provinz. In der Provinz ist das so: Die was reißen wollen im Leben, sind schon als Kinder quasi permanent auf dem Sprung und hauen bei erster Gelegenheit ab in die große Welt. Die fängt bei uns in Münster oder Bochum an, je nach Richtung. Die, die bleiben, verinnerlichen schnell, dass im heimatlichen Kaff, allen Träumen und Ambitionen zum Trotze, höchstwahrscheinlich niemals etwas passieren wird, das irgendjemanden interessiert außer örtlichen Honoratioren und dem Redakteur des Lokalblättchens, der jeden Tag ein paar Seiten vollkriegen muss, und erwarten daher nicht viel. Und groß fragen tut man da auch nicht. Normalerweise ist das eine einigermaßen gesunde Einstellung, manchmal aber ist es ein Fehler.

Irgendwann Mitte der Siebziger tauchte ein seltsamer Typ in der Stadt auf. Ein weißbärtiger Mann, der aussah wie eine Mischung aus Wikinger und Weihnachtsmann. Jeden Tag stand er, wenn ich von der Schule kam, mit seinem Lederwams, seinen Wickelgamaschen und seinem Hörnerhelm an der Ecke einer Apotheke in der Fußgängerzone. Er war blind und der erste Blinde, dem ich im Leben begegnete. Wohl wurde der Kauz allgemein bestaunt, doch verspottet oder gar beschimpft wurde er meines Wissens nicht. Vermutlich traute sich das niemand, denn er hatte etwas von einem indischen Guru. Er strahlte eine große Würde, ja fast eine gewisse Erhabenheit aus.

Neugierig, wer das war, fragte ich die, die es meiner Meinung nach wissen mussten. Meine Lehrerin wusste nur, dass der arme Mann blind war und dass man nett zu ihm sein sollte. Meine Mutter meinte, das sei ein Künstler, der auf der Straße lebte und Moondog heiße. Er sei aber kein Penner, sondern verkaufe Gedichte und musiziere gelegentlich. Das habe letztens so in der Zeitung gestanden. Als des Englischen komplett unmächtiger Achtjähriger wusste ich natürlich nicht, dass 'moon' Mond und 'dog' Hund bedeutet und verstand bloß 'Muhndock'. Ich fand das zwar einen reichlich komischen Namen, war es aber trotzdem zufrieden. In der Provinz fragt man halt nicht viel.

Etwa zwanzig Jahre später las ich einen Artikel über Moondog und spuckte fast meinen Kaffee übers Papier: Der Sonderling von der Straßenecke damals war mitnichten eine Art kostümierter Clochard, sondern ein berühmter Komponist, dessen Musik auf der ganzen Welt gespielt wurde. Fast dreißig Jahre lang hatte der als Jugendlicher erblindete Moondog in New York an der Ecke 6th Avenue und 54. Straße gestanden. Er gehörte zum Stadtbild (eine Zeit lang soll das New Yorker Hilton sogar in Werbeanzeigen mit "gegenüber von Moondog" geworben haben) und war mit allen musikalischen Größen der Zeit bekannt, von Igor Strawinsky über Arturo Toscanini, Steve Reich, Charlie Parker bis Paul Simon. Von einem Tag auf den anderen war er verschwunden und man hielt ihn für tot. 


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Tatsächlich war er nach ein paar Konzerten in Deutschland geblieben, weil es ihm so gut gefiel. In meine Heimatstadt war er gekommen, weil der hier ansässige Musiker Tom Klatt alias Tom Tornado ihn in seine WG in einem damals reichlich heruntergekommenen Fachwerkhaus in der Altstadt aufgenommen (das Haus ist heute eine sauteure 1a-Immobilie) und ihm Auftritte in einem autonomen Kulturzentrum nebenan (das es noch heute gibt) verschafft hatte. Irgendwann war er von seiner Ecke verschwunden und ward nicht mehr gesehen. Keine Ahnung, ob man ihn damals für tot hielt, aber es wurde auch da kein großes Gewese gemacht. Passiert war, wie sich später herausstellte, folgendes:

1978 lud die Studentin Ilona Goebel, die aus der noch provinzielleren Nachbarstadt kam, ihn zu Weihnachten ins elterliche Haus ein. Ursprünglich war das die Idee ihres jüngeren Bruders gewesen, aber der hatte sich nicht getraut, den seltsam gekleideten, schweigsamen Mann anzusprechen. Sie hatte sich eine Platte mit seiner Musik besorgt und war erschrocken, dass jemand, der so was komponiert, so leben musste. Aus den paar Tagen wurden Jahre. Goebel schmiss ihr Studium und widmete sich fortan der Aufgabe, Moondog bei seiner Arbeit zu unterstützen. Er zog dauerhaft bei den Goebels ein, sie überzeugte ihn, die Wikinger-Kluft wegzulassen, assistierte beim Notenschreiben, managte ihn und gründete einen Musikverlag.

Louis Thomas Hardin alias Moondog ist 1999 gestorben und liegt auf dem Zentralfriedhof in Münster begraben. Seinen Grabstein gestaltete der österreichische Künstler Ernst Fuchs. Tom Tornado wohnt immer noch ganz in der Nähe und veranstaltet unter anderem bei sich zu Hause Wohnzimmerkonzerte. Ilona Sommer, geborene Goebel, ist 2011 mit gerade einmal 60 Jahren verstorben. 2012 wurde an der Apotheke, vor der Moondog damals immer gestanden hatte, endlich eine kleine Gedenktafel angebracht, die an ihn erinnert. In der Provinz dauert manches eben etwas länger.


(Dieser Beitrag erschien hier zuerst am 21. Dezember 2014. An dieser Stelle werden, wie schon im letzten Jahr, die nächsten Wochen über ein paar Wiederholungen gesendet.)







2 Kommentare :

  1. Vielen Dank für's Ausgraben!

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    1. Gern. Viele weiterführende Informationen und Bilder gibt es übrigens auf www.moondogscorner.de

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