Freitag, 19. Mai 2023

Dolce vita alla scatola


"Dosenravioli verfeinert man am besten, indem man sie ungeöffnet in den Müll schmeißt." (Kommentar auf chefkoch.de)

Zwei Dinge sollte man tunlichst nicht in einem Topf verrühren: Das, was man essen würde, wenn es sonst keine Alternative gibt zum Hungertod (das ist eine Frage des nackten Überlebens), und das, was man essen würde, wenn man mehr oder minder die Wahl hat (das ist eine Frage von Geschmack, Esskultur und meinetwegen auch von Gesundheitsbewusstsein; neuerdings immer öfter auch eine Frage der Moral).

Anders als in vielen anderen, vor allem westeuropäischen Ländern, hat es in Deutschland spätestens seit dem Dreißigjährigen Krieg immer wieder schwere Versorgungsengpässe gegeben, die zu katastrophalen Hungersnöten führten, darunter allein zweimal im 20. Jahrhundert. So was brennt sich ein in das, was man gemeinhin kollektives Gedächtnis nennt.

Wenn Esskultur und gutes Essen in Frankreich einen weit höheren Stellenwert genießen als woanders, dann nicht, weil's dem Franzos' halt irgendwie im Blute liegt oder so, sondern weil Geographie, Geologie, Klima und Geschichte des Landes das möglich machen. In Frankreich dominiert gemäßigtes bis subtropisches Klima, es gibt überall fruchtbare Böden und von großen Verwüstungen und Hungersnöten ist das Land weitgehend verschont geblieben.

Umgekehrt kann man sagen, dass das Essen umso frugaler ist, je karger die Böden sind und je rauer das Klima irgendwo ist. Dort fiel auch der Protestantismus auf fruchtbaren Boden, der diesseitige Sinnenfreude bekämpfte zugunsten der Aussicht auf wahre Freuden im Jenseits, die sich freilich nur mit strenger Selbstzucht erringen lassen.

Für meine Großeltern, die als Kinder den Steckrübenwinter 1917 und später als Eltern die Hungerjahre nach 1945 durchgemacht hatten, war Essen etwas anderes als für uns Wohlstandskinder, die im Überfluss groß geworden sind. Seinen Teller nicht leer zu essen oder gar allzu wählerisch zu sein, stieß bei ihnen regelmäßig auf Unverständnis. Gut möglich, dass in der Erfahrung des Mangels und der öffentlichen Suppenküchen die Ursache liegt für die Vorliebe vieler Deutscher für undelikaten, schwer verdaulichen, dafür sättigenden Mampf wie breiige Eintöpfe aus der Gulaschkanone.

Irgendwann aber, als die ärgsten Kriegsschäden in den Städten beseitigt waren, wenn auch nicht in den Köpfen, wagten die ersten (West-)Deutschen die Fahrt über den Brenner nach Italien. Und machten dort frappante Erfahrungen: Etwa, dass Essen nicht nur etwas mit Sattwerden, sondern auch mit Genuss und Lust zu tun hat. Dass man auch abends warm essen kann, ja, dass das in sommerlicher Hitze sogar schlauer sein kann, als sich in praller Mittagssonne Braten mit Kartoffeln und Sohse einzuhelfen.

Und dann rollte bei Maggi in Singen im Jahr 1958, vor ziemlich genau 65 Jahren die erste Dose Ravioli in Tomatensauce vom Stapel. 170.000 pro Jahr sind es bis heute. Das Zeug geht also keineswegs in Rente. Warum, erschließt sich nur teilweise.

In den Fünfzigern hatte Maggi in doppelter Hinsicht eine Zauberformel gefunden: Italiensehnsucht plus nachkriegsbedingte kulinarische Schmerzfreiheit plus industrielle Fertigung und schnelle Zubereitung (was als 'modern' galt). Das traf den Nerv der Zeit. In Puncto Geschmack hatte man es geschafft ein Produkt zu entwickeln, das sensorisch keinerlei Hürden aufwies und das auch Gebissträger gekaut bekamen. Glutschig-weich und mollig, fettig-salzig-süß, die Füllung mit einem Hauch Sägemehlanmutung. Mögen auch Kinder. Perfektes Regressionsfutter.

Interessanterweise kann ich mich nur an zwei echte Lieblingsgerichte meiner Kindheit erinnern: Pommes Frites und Mirácoli-Spaghetti. Während ich Pommes nach wie vor mag, kriege ich Fertig-Spaghettigerichte mit Brühwürfelaroma und "geriebenem Hartkäse" nur noch in Ausnahmefällen runter. Dosenravioli gehörten nicht zu den Highlights meiner Kindertage. Gab es manchmal, aß ich nicht ungern, waren aber wohl sogar mir zu langweilig. Die Phase, in der man sich als Jungerwachsener auf schlammigen Festivals gefälligst von kalten Ravioli zu ernähren hat als Grundlage für das nächste Besäufnis oder gegen den Kater vom letzten, ist komplett an mir vorbeigegangen.

Auf die Idee, mir zum Jubiläum, eine Dose davon einzupfeifen, wie das jetzt von Teilen der Journaille praktiziert wird, käme ich nicht. Was soll das? Alles hat seine Zeit im Leben. Es ist normal, wenn man etwas, das man früher geliebt hat, irgendwann nicht mehr durch den Hals bekommt. Umgekehrt geht es natürlich auch. Mich zum Beispiel imprägnierte einst eine heftige Übelkeit nach einem Spargelessen im Kindesalter für Jahrzehnte mit einer soliden Aversion gegen die weißen Stangen, die längst einer freundlichen Indifferenz gewichen ist. Letztens war ich zu einem familiären Anlass geladen auf einem Hof in einer Gegend in der Nähe, die sich für ihren Spargelanbau rühmt. Also probierte ich höflichkeitshalber ein wenig. Und ward begeistert. Nahm sogar zwei Mal nach. Die Welt dreht sich weiter.

Auch das Argument, ausgerechnet die teutonische Dosenpasta hätte Frauen einst von den Fesseln des Kochens befreit, ist wenig stichhaltig, kamen doch bald schon viele andere Fertiggerichte aus der Dose auf den Markt. Wären es nicht die Ravioli gewesen, hätte halt Dosenerbsensuppe den Job der Befreiung der deutschen Hausfrau aus der Küchenfron übernommen.

Entsorgen sollte man glipschigen Teigkissen, wie eingangs postuliert, vielleicht nicht. Als haltbarer Notvorrat für den Fall, dass Hungertod droht, haben die sicher ihre Berechtigung, allein wegen ihres hohen Energiegehalts. Feiern sollte man sie aber auch nicht unnötig. Als die Deutschen 2020 sich im Angesichte der Pandemie Notvorräte aus Klopapier, Mehl und Desinfektionsmitteln anlegten, waren auch Ravioli bald nicht mehr zu kriegen. Nach einem kurzen Test meinte Jörn Kabisch damals: Lieber das Virus.







11 Kommentare :

  1. .... Aldi Nasi Goreng — bitte eine halbe Tasse Wasser dazugeben ...
    Wer das nicht kennt, hat in den frühen Achtzigern definitiv keine Uni besucht.

    Gruß
    Jens

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    1. Halbe Tasse Wasser? Wieso denn das? Doseninhalt in die Pfanne, Käse (Gouda am Stück, auch von Aldi) dazu, wenn der Käse geschmolzen ist, bisschen was Scharfes drüber (Sambal Oelek oder so) und Guten Appetit. Das war noch zu Hause, zu Oberstufenzeiten :)

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    2. Sambal Oelek? Wer hatte denn in den 80ern Sambal Oelek? ;-)

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  2. Fertiglasagne (aus Belgien) im Kühlregal des nahen Supermarktes. Köstlich.
    Ausserdem: Wo ist eigentlich die radioaktive Wolke, von der Premiumblogger und RT DE seit Tagen warnen...?

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    1. Ups, haben die Banderafaschistenmonster ne schmutzige Bombe gezündet oder das Atomkraftwerk sabotiert?
      @Jens: Ohhh ja, Dosennasigoreng von Aldi! Nur echt mit Spiegelei und abnormen Mengen Sojasauce...

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    2. Sojasoße? Wer hatte denn in den 80ern Sojasoße?!

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    3. Geh mir weg mit Deinem glibbrigen Spiegelei …

      @gnaddrig: Auch ich. ;-)

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    4. Wie "dat muss so"? Will ich denn überhaupt authentisches Nasi Goreng? Bzw. wenn ich das will, nehme ich doch ganz bestimmt keine Dose von Aldi als Grundlage? Mein, hm, Rezept ist robust, das geht auch mit Bami Goreng oder Balkanreis und vermutlich sogar mit Spagetti Bolognese aus der Dose ohne nennenswerte Geschmackseinbußen.

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  3. "Sojasauce" — mannmannmann, wie konnte ich das vergessen ... klar, haste Recht — immer drauf damit. Hat jemand außer mir auch gerade den Biss und den Geschmack im Kopf, obwohl es solange her ist?
    Ach so — und das Zeug hat man kaum aus der Dose bekommen. Am Einfachsten ging es, wenn man beide Deckel abmachte und dann den Nasiblock einfach durchgeschoben hat.

    Gruß
    Jens

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