Samstag, 2. Dezember 2023

Ein Stern (2)


Man kann spitzfindig sein. Man könnte etwa sagen, Gil Ofarim sei ja nicht wirklich schuldig, denn er sei ja gar nicht rechtskräftig verurteilt worden. Dem sei er mit seinem Geständnis zuvorgekommen. Kann man machen, ist aber müßig und arg bemüht. Tatsache ist: Der Musiker Gil Ofarim hat sich die Geschichte, dass ein Mitarbeiter des Leipziger Westin-Hotels ihn aufgefordert haben soll, seine Halskette mit Davidstern-Anhänger abzunehmen, ausgedacht. Viele haben ihm das sofort geglaubt oder es zumindest für glaubhaft gehalten. Darunter auch ich. Eine Welle der Solidarität brandete über dem Sänger zusammen.

"Könnten Politiker, Lobbyisten und Kermit als Harry Hirsch nur ganz kurz den Schnabel halten, müssten Rückruder-Aktionen wie im Fall O. jetzt nicht ertragen werden." (Thomas Fischer)

Ich könnte für mich in Anspruch nehmen, damals immerhin so formuliert zu haben, dass nichts erwiesen sei ("angeblich", "gesetzt den Fall, die Sache ist tatsächlich so passiert"). Oder zu meiner Entlastung anführen, ein wenig recherchiert und herausbekommen zu haben, dass schon einmal ein Mitarbeiter dieses Hotels durch eher ungute Äußerungen aufgefallen sein sollte. Die Sache schien also plausibel. Vielleicht zu plausibel. Das ist mir unangenehm und tut mir leid. Obwohl es nicht wenige gab mit deutlich mehr Reichweite als ich, die deutlich heftiger draufgedroschen haben, obwohl ich darauf hätte spekulieren können, dass der Artikel von 2018 längst vergessen sein dürfte, gebietet es der Anstand, das zumindest zu erwähnen.

Zumal man sich keinen Zacken aus der Krone bricht damit. Peinlich sind eher Rechthabereien wie die der eigentlich klugen Frau Bosetti:



So nach dem Motto: Ja, kann schon sein, dass Ofarim gelogen hat, aber who cares, Antisemitismus ist halt scheiße, deswegen ist das irgendwie verzeihlich. Ist ja auch nicht schlimm, wenn es mal den falschen trifft, wenn man wahllos Männern Vergewaltigung vorwirft. Edle Seelen auf ihrem Kreuzzug für das Gute ficht dergleichen was nicht an. Wer wird denn immer so pingelig sein?

Nein und nochmals nein! Unbescholtene Bürger Straftaten zu bezichtigen ist keineswegs eine Bagatelle und kann durchaus selbst eine Straftat sein. Mit gutem Grund. (Ich spreche übrigens aus Erfahrung; vor vielen Jahren hat mich einmal ein ehemaliger Auftraggeber mal offen des Diebstahls beschuldigt. Obwohl da nichts dran und mein Gewissen absolut rein war, kochte ich innerlich vor Wut. Unsere Zusammenarbeit endete dann recht bald. Seither weiß ich, was ein 'zerrüttetes Vertrauensverhältnis' ist.)

Genau so ein dummes Zeug ist das mit der angeblich so "anstrengenden" Empörung. Empörung ist das einfachste der Welt. Und ein mindestens so schlechter Ratgeber wie Wut oder Nostalgie. Cool bleiben, das ist die Kunst. Herr Kurtulus, übernehmen Sie!


(Video im erweiterten Datenschutzmodus, anklicken generiert keine Cookies.)


Überflüssig zu sagen, dass Ofarim mit dem Stunt allen Antisemiten und Antisemitismus-Verharmlosern einen echten Bärendienst erwiesen und Hetzern unnötig Munition geliefert hat. Aber darauf haben genug andere bereits hingewiesen.








3 Kommentare :

  1. "Empörung ist das einfachste der Welt"
    ... und bevor es die sozialen Netzwerke gab, hat man evtl. genug Zeit gehabt sich wieder abzukühlen. Oder einfach den Mund gehalten.
    Heute ist da unmodern. Jeder bläst seine Befindlichkeiten sofort ins Netz.

    Gruß
    Jens

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  2. Für Gil Ofarim nd den durch ihm angezeigten Hotelmitarbeiter galt/gilt dasselbe wie für Rammstein/Till Lindemann, nämlich grundsätzlich erst einmal die Unschuldsvermutung.

    Hier tritt dann der Fall ein, dass die Empathie aus Gründen eher bei Ofarim liegt, der das Label Antisemitismus als Schutzschild genutzt hat, vermutlich im Wissen darum, dass sich da keiner auf das dünne Eis des Unglaubwürdigen oder falsch Behaupteten seinerseits begeben will. Das ist aber dann wieder ein Vorteil eines funktionierenden Rechtsstaats, dass dieser eben nicht in moralischen Kategorien urteilt, die hier oder eben auch im Fall Lindemann angelegt wurden, sondern dass dieser den Tatsachen verpflichtet ist.

    Selber habe ich mir daher zur Regel gemacht, gerade solche oft plakativen und damit als Trigger geeigneten und medial auch oft genutzten Themen immer erst ein paar Tage stehen zu lassen und dann zu werten, wenn die Faktenlage wenigstens halbwegs einzuschätzen ist. Das spart viel Nerven und Emotionen und macht auch einen etwas weiteren Blick auf viele Dinge. Um die alte Leier wieder anzuwerfen, berichten eben viele Medien tendenziös, teils falsch oder nur Bruchstücke, weil die Meldung an sich oft "wertvoller" ist als der Inhalt - revidieren kann man sich ja drei Tage später mit etwas Kleingedrucktem im Zweifel immer noch oder der Artikel ist dann "weg", wenn er völliger Blödsinn war. Leider werden die eher sachlichen Stimmen zu vielen Themen eben durch das Geblöke und den Daueralarmismus oft gar nicht wahrgenommen.

    Lezten Endes trifft das ja auch hier zu, dass die egomane Dummheit eines Ofarim mit dem erfundenen antisemitischen Vorgehen den alltäglichen Antisemitismus in die Ecke drängt und unglaubwürdig macht. Dasselbe trifft auf solche Dinge wie beispielsweise Gewalt gegen Frauen zu, wenn diese sich im Nachinein als falsche Behauptung herausstellt und damit tatsächlich Betroffene abgewetet werden. Als Stimmungsmache taugt solches Zeug sowieso immer und da zählen dann nicht 99 echte Fälle, sondern der eine falsche. Das lässt sich auf "kriminelle Ausländer", Asyl, Energie, Ukraine usw. problemlos übertragen. Die Medien puschen wie im Fall AfD gewollt oder ungewollt die Themen mit, indem sie dem Ganzen die entsprechende Bühne geben und dabei speziell solche Meldungen trotz oft eher untergeordneter Relevanz nach vorne holen und dabei auch gerne ad personam oder pro/kontra Parteien arbeiten, obwohl die Tatsachen gar nicht dem entsprechen.

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  3. Respekt für das ehrliche Eingeständis, damals falsch gelegen zu haben. Diese Charakterstärke hat leider heute kaum jemand mehr.

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