Wie immer zum Heiligen Abend, verehre Lesende, ein Schwall Lesestoff. Ich erlaube mir, vorab doch ein paar Worte zum Thema Magdeburg zu verlieren. Daran, dass das fröhliche Instrumentalisieren der schrecklichen Meldungen schon losging, bevor die letzten Verletzten überhaupt abtransportiert waren, ist man ja inzwischen gewohnt. Daran, dass allen voran die NoAfD im Glauben, es handele sich um die Tat eines Islamisten, schon ihre rhetorischen Knarren durchgeladen hatte, um dann eine ihrer verlogenen Kehrtwendungen hinzulegen, ebenfalls. Neu ist, dass einer wie der demokratisch nicht legitimierte, cäsarische Elon Musk, der sich, wie zu hören ist, von der total unabhängigen Expertin Naomi Seibt über die deutsche Politik beraten lässt, gleich mal den Bundeskanzler zum Rücktritt auffordert. Darum geht es nicht, ich habe ein paar andere Fragen:
Wie kann es sein, dass jemand, der nicht nur einen offenkundigen Schaden unterm Scheitel hat und diesbezüglich immer wieder auffällig wurde, sondern an dessen Kompetenz es auch Zweifel gab (Kollegen nannten ihn angeblich 'Dr. Google'), über viele Jahre als Facharzt für Psychiatrie tätig ist, ohne dass mal irgendwo jemand einschreitet? Wie kann es sein, dass eine E-Mail einer US-Amerikanerin mit einer Warnung nicht weitergeleitet wurde? Und wie kann es sein, dass die Stadtverwaltung von Magdeburg nach der Tat allen Ernstes eine Erklärung raushauen kann wie die, das "Sicherheitskonzept" sei "über lange Jahre bewährt"? Listen, love: Ein "Sicherheitskonzept", das es jemandem ermöglicht, mit einem Auto in und über den Weihnachtsmarkt zu brettern und Menschen zu Tode zu bringen, war vielleicht mal irgendwann "bewährt", ist es aber spätestens nicht mehr, wenn so etwas passiert ist.
Irgendwie sehe ich da meine persönlichen Eindrücke bestätigt: Dass Teile des öffentlichen Dienstes vor allem ein Sammelbecken sind für Menschen, die keine Verantwortung für irgendwas übernehmen wollen. Da bin ich leider nicht zuständig. Da kann ich Ihnen nichts zu sagen. Der Kollege hat gerade Urlaub. Ich wende nur Gesetze an. Personalmangel, wir sind komplett überlastet! -- Wir reden hier ausdrücklich nicht von Polizei, Feuerwehr und anderen Mitarbeiter:innen des Öffentlichen Dienstes, die nicht ausweichen können, Tag für Tag ihre Gesundheit und auch ihr Leben riskieren. Auch nicht von Sachbearbeiter:innen in unteren Besoldungsstufen. Wir reden hier ausnahmsweise auch nicht von der Politik. Die kann rechtliche Vorgaben machen, aber sonst wenig ändern.
Nein, es geht um die Bräsigkeit und Bequemlichkeit, wie sie in hohen und höchsten Leitungsfunktionen der Verwaltung normal geworden scheint. Leute, die verantwortliche Positionen bekleiden, aber sich wegducken, wenn sie Verantwortung übernehmen sollen. Wieso räumt der Leiter des Magdeburger Ordnungsamtes, in dessen Verantwortungsbereich das offensichtlich lückenhafte Sicherheitskonzept fällt, keine Fehler ein und bietet an, dass man ihn suspendiert, bis alles geklärt ist? Und damit man mich nicht falsch versteht: Ich finde es völlig legitim, im Job keine Verantwortung zu wollen. Das geht in Ordnung. Aber wenn anscheinend niemand auch bei krassesten Versäumnissen irgendwelche Konsequenzen befürchten muss, läuft etwas schief. (Claudia hat das deutsche Elend, das sich da offenbart, sehr schön zusammengefasst.)
Puh, das war jetzt länger, musste aber sein.
Die letzten Links und Fundstücke des Jahres:
Politik. Jonas Schaible hat, wie ich finde, einen der stärksten Essays des Jahres geliefert: Erschütterungen der Weltgewissheit.
Stefan Sasse mit einer ersten Bestandsaufnahme des Wahlkampfs.
Für Frank Stauss ist das zentrale Problem der FDP nicht die 'Ampel', sondern dass sie keine Zielgruppe hat.
"Ständig versucht nicht nur der Rechtspopulist, sondern auch unsereins, Geschehnisse oder Veränderungen darauf zu reduzieren, dass bestimmte Politiker schlimm, eitel, machtgeil, machtwortschwach oder verwuschelt sind. Das mag im Einzelfall nicht falsch sein, aber es beendet das politische Denken da, wo es anfangen müsste. Und es bleibt nur: Die böse, ich super.
Wenn jemanden das Bedürfnis überkommt nach einem Sprechakt von besonderer Moral-Darstellung, dann ruft diese Person: »Ich wähle nicht mehr das kleinere Übel!« [...]
Aha, kann man da nur antworten: »Also dann das größere Übel?«" (Unfried, a.a.O.)
Cory Doctorow hat schon 2019 geahnt, dass so was wie der Mord an Brian Thompson passieren würde.
Interview mit der französischen Soziologin Natalie Heinich zum Fall Pelicot. (Paywall, Auszüge bei Genderama). "Es ist, als ob plötzlich eine Erwachsende den Raum betreten hätte, in dem zuvor nur unreife, ideologisierte Halbwüchsige herumgegackert haben." (Arne Hofmann)
"Rechtsstaatlichkeit in demokratischen Gesellschaften beruht darauf, dass über einzelne Personen und ihre Taten geurteilt wird – nicht über Gruppen. Wer Menschen wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft als schuldig betrachtet, begeht eine widerwärtige Ungerechtigkeit. Aus solchem Denken heraus wurde das Massaker des 7. Oktober 2023 begangen, als in Israel Menschen von der Hamas ermordet wurden, weil sie Juden waren. [...] In einer Demokratie urteilt ein Gericht nie über Kategorien." (Heinrich, a.a.O.)
Hannah Wettig über problematisches völkisches Gezerre um die Rückgabe antiker Kunstschätze wie der Nofretete-Büste.
Kultur/Gesellschaft/Gedöns. Ludwig Greven gefällt es in der Kleinstadt.
Michael zum 50. des französischen Comicmagazins Métal hurlant, ohne das Science fiction heute nicht so aussähe wie sie aussieht.
Was die unbekannte Tote aus der Seine ('l'inconnue de la Seine') mit Erster Hilfe zu tun hat, erklärt Nora Saager.
Ich muss gestehen, mich als Mittfünfziger in diesem Beitrag Herrn Hannemanns durchaus wiedererkannt zu haben.
Maschinist hatte eine Begegnung mit einem Schachschmock. Ist wohl tatsächlich ein Männerding, würde ich sagen. Früher lief in einer der hiesigen Stammkneipen, die mit einem sehr gepflegten Tischfußballgerät ausgestattet war, immer ein Kickerchampion rum, der Ahnungslose belaberte und ihnen sagte, er sei ja auch voll der Anfänger und nur um ein Bier und so. Und wenn einer sich belabern ließ, brezelte er den dann mit seiner gewehrkugelartigen Schusstechnik zu null weg. Dann war da noch der Poolbillardhonk, der immer sagte: Ey komm, ein Spiel bloß! Ey, ich bin selbst voll schlecht, ey! Den Rest können Sie sich denken. Keine Chance. Und wenn man ihm dann weitere Anfragen dieser Art abschlägig beschied, wurde man als schlechter Verlierer bepöbelt. Was ist im Leben solcher Menschen bloß falsch gelaufen?
Waltraud Schwab mit einem schönen Plädoyer für die CD und das haptische Verschenken von Musik
Musik. Es bleibt bei der Tradition: Weihnachtszeit ist Orgelzeit.
(Video im erweiterten Datenschutzmodus. Anklicken generiert keine Cookies.)
Essen/trinken/gut leben. Michael Brake über die Bremer Spezialität 'Rollo' als Beispiel für "hyperlokales Essen". Er erinnert auch an die hanseatische Interpretation des französischen Croque.
"Herr Ober, da ist Moral in meinem Essen!", reklamiert Wolfgang Abel.
Kollege Kurbjuhn über ein denkwürdiges Knödelwettessen in seinem Elternhaus. Das sein Vater souverän gewann. Boy, this man could eat!
Apropos Vater: Der meine saß früher beruflich auf einer Position, auf der er mitzureden hatte bei Auftragsvergaben. Das führte dazu, dass im Advent alle paar Tage ein Paketbote klingelte und irgendwelche Aufmerksamkeiten diverser Firmen vorbeibrachte. So brachten die Eltern es mit den Jahren zu einem gut ausgestatteten Weinkeller und einer mit gediegenen Spirituosen bestückten Hausbar. Meine Mutter, a.k.a. die 'Dame des Hauses', bekam jedes Jahr einen Riesenkarton Feodora-Pralinen überreicht. Da sie immer sehr auf ihre Linie achtete, verpackte sie die kleinen Kalorienbomben portionsweise in Zellophantütchen, machte hübsche Schleifchen darum und hatte so jederzeit ein Mitbringsel parat. Ein Firmeninhaber stand jedes Jahr persönlich auf der Matte, um einen Trumm von Pute abzuliefern. Für den Weihnachtsbraten. Irgendwann konnte das keiner mehr sehen. Sobald der atavistische Reiz des Knochenabnagens verflogen ist, dann hat man halt immer noch ein paar Kilo eher langweiliges Geflügelfleisch vor sich. Oder, wie es Rachel Cooke so schön auf den Punkt bringt: "The result was about 3 kg of OK."
Das Rezept. Dass das oft zu 'Bolo' gedeppte Ragù alla Bolognese so beliebt ist, hat durchaus Gründe. Die Kombination aus nicht zu magerem Hackfleisch und Nudeln ist für viele halt das ultimative Comfort Food. Zudem meist mit Kindheitserinnerungen verknüpft. Auch hier sind bereits ein oder zwei Rezepte erschienen. Im Moment macht ein auf TikTok aktuell beliebtes Rezept namens 'Türkische Pasta' von sich reden. Nun ist nicht alles, was von TikTok so verstrahlt wird, per se schlecht und kulinarischer Fundamentalismus kleingeistig. Zeit also, sich auch mal an mutiges Crossover zu wagen. Türkische Pasta ist eine Mischung zu Pasta aus scharf gebratenem Rinder- oder Lammhack, Joghurt mit Knoblauch und Minze sowie Paprikabutter. Italiener:innen kriegen da wahrscheinlich Krämpfe am ganzen Körper und Nonna greift zum Nudelholz, es den osmanischen Pastafrevlern zu schmecken zu geben, aber ich finde das wirklich interessant und werde es definitiv ausprobieren. Frau Patricia hat das Rezept.
In diesem Sinne: Schöne Feiertage!
Da hat ja der anonyme Kommentator Ihres recht kurzweiligen Modellbahn-Beitrags, welcher darin das "Thema Magdeburg" so schmerzlich vermisst hatte, doch noch sein Futter serviert bekommen. Dass ich besagtem Anonymus so derb übers Maul gefahren bin (ich war der andere), tut mir inzwischen fast ein bisschen leid. Aber wirklich nur fast. Sei's drum, er (oder sie) wird es sicherlich überleben.
AntwortenLöschenDie Fragen, die Sie stellen, sind die richtigen, meine ich, und Ihre Antworten find ich auch nicht falsch. Es ist in der Tat ein bisschen zu einfach, "der Politik" anzulasten, dass da wer eine ganz besonders monströse Meise unterm Pony aufgezogen hat, die er dann irgendwann auch noch ungehindert rauslassen konnte. Wenigstens letzteres geht tatsächlich eher zu Lasten des einen oder anderen halbkomatösen Sesselfurzers in den zuständigen Behörden. Apropos halbkomatös: Ob sich wohl heute abend der Herr Steinmeier zur Sache äußern wird?
Trotz der gelegentlichen Differenzen, die wir im nun endlich versterbenden Jahr hatten, wünsche ich auch Ihnen und den Ihren schöne Feiertage.
Welcher Facharzt für Psychiatrie hat keinen Scheitel?
LöschenAlle die ich in meinem persönlichen Umfeld kenne, haben zumindest einen.
Und eine Freundin hat mir während ihres Psy Studiums erzählt, entweder hat man einen Knall oder man bricht das Studium nach einer Weile ab.
Scheint eine Grundvoraussetzung für diesen Beruf zu sein.
Sich also hinzustellen und 'wie konnte man Sojemanden diesen Beruf machen lassen' zu sagen, geht an der Realität vorbei.
lg
@unbeherrscht: Vielen Dank, wünsche ich auch.
LöschenFür Frank Stauss ist das zentrale Problem der FDP nicht die 'Ampel', sondern dass sie keine Zielgruppe hat
Löschenha. und ich dachte das zentrale problem wäre, daß die heutige fdp einfach ein haufen rechtlastiger voll-libertäre, unfähiger arschlöcher sind.