Sonntag, 22. Dezember 2024

Top Model. Bahn


Immer wenn es hieß, ein Modellbahnhersteller stünde vor der Pleite, gab mir das einen klitzekleinen Stich ins Herz. Wieder ein Stück Kindheit und ein Stück ihres Zaubers weg. Zuletzt war das 2015 bei der Firma Fleischmann der Fall, aber der Laden hat es wohl geschafft, wieder auf die Beine zu kommen. Natürlich sind Modellbahnhersteller schnöde Unternehmen wie alle anderen auch, die Gewinne machen müssen und wollen und eben irgendwann weg vom Fenster sind, wenn das nicht mehr der Fall ist. Irgendwie hat sich bei mir aber ein Rest des Kinderglaubens gehalten, dass Firmen, die die Menschheit mit so etwas Schönem bereichern, vielleicht doch etwas Besonderes sind. Ist natürlich Quatsch, aber völlig objektiv bin da bis heute nicht.

Höhepunkt war die alljährliche Vorweihnachtszeit. In den Schaufenstern der Spielwarenläden und in den Warenhäusern ratterten die Minibahnen um die Wette, fasziniert angestaunt von vorwiegend männlichem Publikum aller Altersstufen. In meinem Zimmer stapelten sich Kataloge verschiedener Hersteller und Spielzeugfirmen. Nur befanden meine Eltern, für ein so filigranes Spielzeug wie eine 'richtige' Eisenbahn sei ich noch zu klein. Doof.

Gegen Ende der Siebziger hatte man mich und meine gleich alte Cousine auf einen besonders gruseligen Verwandtschaftsbesuch mitgeschleppt. In einer besonders trüben Ecke einer trüben Nachbarstadt wohnte, nein, residierte eine Großtante meiner Mutter, eine schmallippige, gestrenge Dame, an der auch äußerlich die Jahrzehnte seit dem Kaiserreich komplett vorbeigegangen waren, von damals gut 100 Jahren Sozialdemokratie ganz zu schweigen. Ihre Standardantwort auf soziale Fragen lautete nach einer kurzen, von hörbarem Rühren im Kaffee begleiteten Kunstpause: "Es gibt eben Herren und Knechte." Kinder hatten ihrer Meinung nach vor allem still zu sitzen und nur zu reden, wenn sie gefragt wurden. Ihr Blick, wenn dies einmal nicht der Fall war, vermochte einen auf der Stelle in einen Eiszapfen zu verwandeln. Den Rest erledigte ihre neurotische, mannscharfe Schäferhündin, die zu ihren Füßen lag, völlig auf sie fixiert war und einen bei der kleinsten Bewegung zu viel schon drohend anknurrte. Die Atmosphäre war, sagen wir, eher weniger entspannt.

Ihr Sohn, der damals Mitte vierzig war, wohnte noch im Haus. Ich habe ihn, glaube ich, nur ein oder zwei Mal im Leben gesehen, dabei aber kaum ein Wort gewechselt mit ihm. So weit ich weiß, ist er bis sein frühes Grab ein verschlossener Junggeselle geblieben. Vielleicht hatte er es eher mit Männern, aber davon ist nichts bekannt, nicht einmal entsprechende Gerüchte gab es. Aus den Klauen so einer Mutter schaffen eben nicht alle den Absprung und bleiben auf der Strecke. Aber er besaß eine stattliche Modellbahnanlage.

Irgendwann an diesem bleiernen, dunklen Winternachmittag raunte mein Vater, der das Elend wohl auch nicht mehr aushielt, mir zu, er früge den Sohn mal, ob er uns nicht mal jene Eisenbahn zeigen würde, von der ich bis dahin nur gehört hatte. Es gab ein wenig Hin und Her und es musste das hochheilige Versprechen gegeben werden, dass wir Kinder um Himmels willen nichts anfassten. Die Anlage nahm fast das gesamte Nebenzimmer ein und ihr Erbauer und Gebieter hatte bald alles in Gang gesetzt, was rollen konnte. Gekonnt dirigierte er ein Ballett aus Zügen. Alte Dampfloks und moderne Schnellzüge hielten auf Knopfdruck vor Signalen und fuhren wie von Geisterhand wieder los, verschwanden dann in dunklen Tunneln oder überquerten kühne Brücken. Wahnsinn! Bald fielen mir auch die zahllosen kleinen Details aus Figürchen und Zubehörteilen auf. Es sah alles so echt aus. Kein Zweifel, hier war ein echter Bastler mit viel Zeit und Liebe am Werk gewesen. Ich staunte mit offenem Mund und kam überhaupt nicht auf die Idee, irgendetwas anzufassen.

Dann schaltete er das Licht aus und die Beleuchtung der Anlage ein. Auf einmal leuchteten alle Häuser heimelig von innen, alle Personenwagen waren illuminiert, die Straßen und Bahnsteige von hunderten Laternen erhellt. Alles strahlte mit meinen Augen um die Wette, zum ersten Mal im Leben bekam ich eine Ahnung davon, was Romantik ist. In einem Moment reiner Magie hatte sich ein Wunderland aufgetan. Mir war sofort klar, in so einer Eisenbahn lag das Glück. Auch mein Vater war sprachlos. Ohne es zu merken, lernte ich eine wichtige Lektion: Mag ansonsten vielleicht schieflaufen was will, vermögen Modelleisenbahnen zwischen Vätern und Söhnen tiefe Komplizenschaft zu stiften.

Noch im selben Jahr bekam ich zu Weihnachten eine kleine Startpackung geschenkt. Ich war offenbar alt genug. Oder hatte das magische Erlebnis, das den öden, grauen Besuchsnachmittag erhellt hatte, den Ausschlag gegeben? Mein Vater war selbst ein Eisenbahn-Infizierter, weil sein jüngster Bruder Modellbahner war (in den Stunden mit der Eisenbahn taute übrigens auch ihr strenger Nachkriegsvater auf und wurde umgänglich). Die Krönung unserer gemeinsamen Aufbauarbeit bestand nach ein paar Jahren aus einer ausgewachsenen, fest montierten Tischanlage von zwei Quadratmetern. Als ich wenig später dann das Interesse an Modellbahnen wieder verlor, dafür das an Mädchen, Musik und Heimcomputern entdeckte, gaben wir unsere Eisenbahn an besagten Onkel wieder ab. So schloss sich der Kreis.

Dafür, dass die Hersteller dieser Herrlichkeiten heute anders dastehen als zu meinen Kindertagen, gibt es verschiedene Gründe. Man wollte wohl lange nicht wahrhaben, dass die Wirtschaftswunder- und Babyboomerzeiten vorbei waren, in denen eine elektrische Eisenbahn ganz oben auf der Wunschliste vieler Kinder stand, sich der Kram quasi von selbst verkaufte und die Gewinne automatisch sprudelten. Ferner muss man sich gegen eine Menge Konkurrenz behaupten. Neben PCs, Spielekonsolen und anderem Digitalen gibt es noch viel anderes, immer ausgefeilteres technisches Spielzeug. Erschwerend kommen noch die insgesamt sinkenden Reallöhne seit den 1980ern hinzu und so weiter. 

Dann wären da Lärm und Platzmangel. Eine auf einer Holzplatte montierte Eisenbahnanlage, auf der mehrere Züge gleichzeitig fahren, kann verdammt laut sein, der Betrieb in einer Mietwohnung ist daher nur kurze Zeit am Tag möglich, wenn kein Keller oder ähnliches vorhanden ist. Selbst Eigenheime bieten heute oft nicht mehr den nötigen Platz. In den Kellern älterer Häuser befanden sich oft Vorratsräume, Kohlen- bzw. Koksvorräte oder Öltanks für die Heizung. Als die nicht mehr gebraucht wurden, brachte man Partykeller, Saunen und eben Eisenbahnen darin unter. Zumindest in Städten sind viele neue Wohnhäuser gar nicht erst unterkellert, haben auch keine echten Dachböden mehr. Allenfalls lassen sich Kinderzimmer umfunktionieren, wenn die Kinder aus dem Haus sind.

Der Kuchen wird also kleiner, doch haben die Hersteller durchaus reagiert. So haben sie robuste, preiswerte Spielbahnen für Kinder ins Sortiment genommen, die oft in Billiglohnländern produziert werden. Oder sie bedienen die Sammlerszene, für die sie hoch detaillierte und entsprechend teure Sondermodelle in limitierter Auflage anbieten. Mit einem Vorurteil allerdings muss dringend aufgeräumt werden: Dass eine Modelleisenbahn per se ein teures, kaum bezahlbares Hobby und damit allein eine Frage des Geldes sei. Klar, es gibt teure Sammlermodelle, auch für eine reguläre Lok werden leicht ein paar hundert Euro fällig. 

Andererseits werden täglich unzählige Dachböden und Keller geerbter Häuser ausgemistet und der Kram verhökert. Legt man keinen Wert auf allerneueste Ware und auf höchste Detailtreue, kann man sich im Netz oder auf Börsen für relativ wenig Geld eine ansehnliche Sammlung zusammenkaufen. Neueste Ware ist auch gar nicht nötig. Normalerweise lassen sich auch moderne Digitalloks mit allen Zusatzfunktionen auf Jahrzehnte altem Gleismaterial problemlos betreiben. Vielleicht ist auch das ein Problem der Modellbahnhersteller: Das ist eine einfache, solide Technik, die Sachen sind bei richtiger Lagerung unglaublich lange haltbar.

Damals bei der Fleischmann-Insolvenz hieße es übrigens, das Hauptproblem seien die erdrückenden Lasten aus alten Betriebsrenten. Die 33 restlichen Beschäftigen am Firmensitz seien nicht in der Lage, die 600 Renten zu schultern. Klar, die gierigen Angestellten mit ihren überzogenen Forderungen mal wieder, wer sonst? Oder, wie Herr Seeßlen es so treffend zusammenfasste:

"Werden ordentliche Betriebsrenten gezahlt, dann können sich Pensionisten aus dem Mittelstand auch eine ordentliche H0-Eisenbahn im Hobbykeller leisten. Natürlich dürfen die Hersteller von H0-Eisenbahnen selber aber keine ordentlichen Betriebsrenten zahlen, dummie! So geht Wirtschaft heute."

Merke: Auch Spielzeug ist politisch.

Übrigens hat ein Schulkollege von mir, der richtig modellbahnverrückt war (und wohl noch ist), seine Leidenschaft zum Beruf gemacht. Sein Studium hat er unter anderem damit finanziert, komplette Modellbahnanlagen im Auftrag zu bauen und zu verkaufen. Inzwischen hat er sich auf Modelle für Bahnanlagen verlegt. 



Anmerkung: Eine frühere Fassung dieses Beitrags erschien hier 2015. Da er so schön zur Weihnachtszeit passt, habe ich ihn wieder rausgekramt und ein wenig auf Stand gebracht. Und wer früher auch eine Modellbahn hatte und ein wenig in Nostalgie schwelgen will, kann sich hier umschauen.









 

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