"Aus beruflichen Gründen fliegt bei uns hier im Feuilleton unverzüglich vor Freude das Dach weg, sobald wir draußen Menschen mit einem Buch erblicken. Und inzwischen bejubeln wir mit gütigster Toleranz alles: den neuen Precht, einen frühen Handke, das Zweitbeste aus der Barocklyrik, den antiquarischen Reiseführer Saarbrücken oder die hippe Vampirinternatsromanze auf Schloss Fummelstein, wir sind da überhaupt nicht judgy, wie man in den sozialen Medien sagt." (David Hugendick)
Wenn es eine Erscheinung des fortschreitenden Alters ist, insgesamt langmütiger zu werden und nicht mehr an jedem Blödsinn gleich Anstoß zu nehmen, dann soll mir das sehr recht sein. Was wäre die Alternative? Ein gnattriger Boomer zu werden, der schon morgens nach dem Aufstehen und noch vor dem Blutdruckmessen die Hasskappe aufhat? Oder ein selbstmitleidiger Sitzsack, der sich fortwährend einen Pullover daraus strickt, immer nur beloochen, bedroochen und hinnergongen worden zu sein im Lääben? Nö danke. Dabei bin ich noch nicht einmal Boomer, sondern Generation X. Die allerangeschissenste von allen, wie der Economist weiß. Aber auch das ist mir einigermaßen egal.
Hilfreich kann es sein, sich immer mal wieder vor Augen zu führen, dass die, die früher, als wir jung waren, so alt waren wie wir heute, mit ähnlichem Unverständnis auf unser Treiben geschaut haben wie wir heute das heute tun und dass auch wir damals dämliche Dinge getan haben. Heutige Jugendliche "haben ja nicht weniger, sondern schlicht ganz andere Sachen im Kopf. Ich selbst weiß ja zum Beispiel wiederum gar nicht, wer diese Sybille Eilisch ist, oder was Clitoral Approbation und White Shellfishness bedeuten. Und nicht nur andere Sachen, sondern obendrein auch noch viel mehr. Denn ihr Gehirn ist der Computer, meines das zerfledderte Lexikon in zwanzig Bänden."(Hannemann)
Bücher zu lesen zum Beispiel ist angeblich gerade wieder total angesagt, vor allem unter jungen Frauen. Die verschlöngen gerade so genannte 'New Adult'-Romane wie nicht gescheit und trieben sich in einschlägigen Fachbuchhandlungen oder bei BookTok herum, wie zu erfahren ist. 'New Adult' ist meinem Verständnis nach nichts anderes als die gute alte Liebesschnulze, angereichert um Themen wie Queerness oder Body positivity. Unter dem Rubrum 'spicy' kann es angeblich auch expliziter zugehen. Und wenn schon. Junge Leute standen schon immer im Verdacht statt Wahres, Schönes und Gutes trivialen Schund einzupfeifen, vor dem ihre zarten Gehirne unbedingt beschützt werden müssen. Die Welt hat sich aber bis dato standhaft geweigert, deswegen unterzugehen. Und wenn sie es irgendwann doch tut, dann bestimmt nicht, weil junge Menschen seichte Bücher lesen.
(Bei der örtlichen Stadtbücherei online zu leihen. Vor Erfindung des E-Books hätte man noch gesagt: Sieh an, für so was werden also Bäume gefällt. Darauf ein überzuckertes, überaromatisiertes Sojamilchschaumheißgetränk...)
Das heißt natürlich nicht, dass es so gar nichts gäbe, bei dem ich mich frage: Alter, ernsthaft? Es geht mir zum Beispiel richtig auf den Docht, dass ausnahmslos jedes menschliche Handeln, und sei es noch so banal und einem der betreffende Mensch noch so fremd, sofort interpretiert, beurteilt, in eine bequeme Schublade gekastet und mit einem in der Regel englischsprachigen Etikett versehen wird. Ignazio-Tamerlan hat Britta-Sophie-Charlotte gecancelt und meldet sich nicht mehr? Gaslighting! Ghosting! Und überhaupt, das macht der doch nur, weil er damals als Kind...
Sicher lässt sich auch das wegrationalisieren und sagen: Hey, Menschen haben sich schon immer über andere Menschen die Mäuler zerrissen, Männer meist in der Kneipe, die Frauen gern beim Kaffeeklatsch. Da bekam man das nicht so mit. Heute steht das gleich überall in irgendwelchen 'sozialen' Netzwerken oder was weiß. Da fällt es halt weit schwerer, das zu ignorieren, was man ja eigentlich sollte.
Neueste Sau, die durchs Dorf getrieben wird: Performative reading. Das bedeutet, Menschen führen, siehe oben, schlaue Bücher Gassi oder tun in der Öffentlichkeit, zum Beispiel im Café oder der U-Bahn so, als läsen sie darin, damit man sie für irre schlau hält. So what? Sollen sie doch, wenn sie Spaß dran haben. Fügt das irgendeinem Mitmenschen irgendeinen Schaden zu? Weil Lesen, im Gegensatz zu vielen anderen Aktivitäten, mit denen welche ihrer Umwelt an den Nerven zu sägen pflegen, eine geräuschlose Tätigkeit ist, würde ich sagen: nicht den geringsten.
Gewiss, vielleicht brächte es welchen mehr, ein Hörbuch zu hören, wer weiß, aber was geht mich das an? Selbst wenn ich die Person kennen würde und ich wüsste, dass dieser Mensch normalerweise komplett desinteressiert ist an schöner Literatur, und auf einmal Kafka unterm Arm hat, ich würde die Achseln zucken und sagen: Wenn's irgendwie hilft.
Getreu der Heinemannschen Maxime, dass bei jedem Zeigefingerzeig drei Finger auf einen selbst zurückzeigten, verhält es sich mit dem Mokieren über Performative reading wie mit anderem Klatsch und Tratsch: Wer sich über die Amoral der Nachbarin moralisch empört erhebt, holt sich gleichzeitig einen runter auf die eigene moralische Korrektheit. Wer sagt: Hihi, guck mal da, Performative reading!, kloppt sich damit, gewollt oder nicht, vor allem mal ein Ei auf die eigene Belesenheit, unabhängig davon, ob die eigene Bibliothek, digital oder nicht, voller Dickdenker ist oder nur mehr Seichtes enthält.
Alles in Ordnung also? Nein. Weil nichts wirklich unpolitisch ist, gibt es auch hier einen Wermutstropfen: Das ganze belanglose Blabla bindet eine Menge Energie und hält Menschen wirksam davon ab, sich Gedanken um die wirklich wichtigen und üblen Dinge zu machen und vielleicht sogar entsprechend zu handeln. Das ist dann wieder etwas, über das man sich wirklich aufregen könnte.

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