Donnerstag, 24. Dezember 2020

Jenseits der Blogroll - 12/2020


So denn, auf zu den letzten Leseempfehlungen des Jahres. Für die Feiertage wieder ein paar mehr. Irgendwas ist anders dieses Jahr, oder? Nervt echt. Ich meine, jahrelang waren die Gazetten um diese Jahreszeit voll mit Jahresendzeitmuffeln (thanks, Claudia!). Kaum ein Jungschreiberling, der sich nicht ausgelassen hätte über kleinbürgerliche Enge und den Familienterror an Weihnachten, wenn Antreten bei der Familie angesagt war. Harmoniegetue! Gänsebraten! (Boah, Oma glaubt immer noch nicht, dass man vegan Weihnachten feiern kann!) Völlerei! Kitsch! Konsumterror! Der peinliche Onkel! Ihhh, wie spießig! Bento zeigt dir: So überlebst du den Familienstress!

"Wer besonders edgy erscheinen wollte, fand Weihnachten dann doch ganz okay. Die überwiegende Mehrheit der publizistischen Beschäftigungen mit den Feiertagen aber tendierte dazu, an Heiligabend keine gute Tannennadel zu lassen." (Arno Frank)

Heuer geht’s seuchenbedingt ausnahmsweise anders zu und das ist dann auch wieder nicht recht. Im Gegenteil, ein großes Heulen und Zähneklappern hub an. Was wird nur aus uns ohne unsere liebgewonnenen familiären Rituale? Werden wir das seelisch überstehen? Ogottogott, was macht der Lockdown mit unserem seelischen Gleichgewicht? (Kleiner Tipp: Fragen Sie einfach Flüchtlinge, wie man das handelt, wenn das gesamte bisherige Leben aus den Fugen gerät.)

Arno Frank hat das schön zusammengefasst.

Politik. Auf t-online.de findet man zu meiner nicht eben geringen Überraschung immer wieder etliche, ziemlich lesenswerte Beitrage. So waren dort zum Thema USA/Donald Trump Einschätzungen von Christopher Clark, Timothy Snyder und Heinrich August Winkler zu lesen. Und das alles komplett ohne Paywall.

Frank Buurmann antwortet auf eine Anfrage des DLF und erläutert seine Position zur Initiative GG 5.3 Welttoffenheit.

Zum gleichen Thema Dr. Deutsch.

Georg Seeßlen analysiert das grassierende Phänomen des Doomscrolling.

Sollte man Menschen, die die Existenz des Corona/Covid-19-Virus leugnen, sich weigern, eine Maske zu tragen oder sich nicht impfen lassen wollen, intensivmedizinische Behandlung verweigern bzw. ihnen, wie bereits vorgeschlagen, im Falle einer Knappheit an Kapazitäten nahelegen, freiwillig darauf zu verzichten? Nein, meint die Biochemikerin und Medizinerin Marisa Kurz. Medizin habe Menschen zu retten und zu behandeln, nicht über sie zu richten.  

"Einem Menschen, der bis vor seiner Erkrankung ein Gegner vor Organspenden war und nun auf ein Spenderorgan angewiesen ist, würde niemals wegen seiner früheren Einstellung eine lebensrettende Behandlung verweigert werden. Menschen haben ein Recht auf Fehler." (Kurz, a.a.O.)

Eine sozialdarwinistische Weihnachtsgeschichte von Ulli Hannemann.

Für den zweiten Weihnachtstag ist eine Sonderausgabe des Podcasts 'Wohlstand für alle' mit Adam Tooze ('Crashed') als Gast angekündigt. Anhören dürfte sich lohnen.

Kultur. Frank Schäfer mit einer anrührenden, sehr persönlichen Verneigung vor Eddie Van Halen.

Roland Pohl über Lockdown mit Eric Rohmer.

"Damals liefen unentwegt Meisterwerke aus Frankreich im ORF: mit Nathalie Baye, Fanny Ardant oder Stéphane Audran, unfassbar schöne Frauen in sehr, sehr kurzen Röcken. Mir Pubertierendem gefiel das maßlos gut. Erst heute beginne ich zu verstehen, warum meine Eltern vor der Glotze wie die Murmeltiere schlummerten." (Pohl, a.a.O.)

Ein Interview mit Marlene Streeruwitz, die einen der ersten Romane über den Lockdown geschrieben hat.

"Die andauernde katholische Auslegung der Wissenschaft durch den Kanzler muss endlich enden. Er tritt als Pfarrerlehrbub auf und erklärt uns die Bibel. Das läuft seit über 2000 Jahren schief, in Österreich hat es verheerende Spuren hinterlassen. […] In Österreich wird verachtet, wer sich nicht auf Glaubens-,sondern auf die Geisteskompetenz beruft." (Streeruwitz, a.a.O.)


Eine Gegenstimme von Robert Misik.
 
Apropos Pfarrer: Ludwig Martin Jetschke alias Lingualpfeife an der Orgel mit was Fetzigem zur Weihnacht (leider ungute Tonqualität)


(Video im erweiterten Datenschutzmodus. Anklicken generiert keine Cookies.)
 
 
Wem das zu fromm ist, soll halt Robert Fripp und Ehefrau Toyah Willcox zuhören.


(Video im erweiterten Datenschutzmodus. Anklicken generiert keine Cookies.)
 
 
Richtig gehört, Fripp plays Sex Pistols. Dass Punk- und Progressive-Rocker sich hass(t)en bis aufs Blut, ist übrigens bloß eine von Musikjournalisten kolporierte und gepflegte Legende und war bestenfalls ein Showelement. Hinter den Kulissen gab es durchaus gegenseitigen Respekt. Sollte unter Künstlern so sein.

Apropos Progressive Rock. Ein bisschen Theorie. Von John Covach. Auf Englisch.

Essen, trinken, gut leben. Helmut Höge erläutert, warum Glühweingewürze extrem politisch sind.

Apropos politisch: Die Deutschen, meinte Lenin einst bekanntlich, seien untauglich fürs Revolutionmachen, denn wenn sie die Bahnhöfe stürmten, würden sie zuvor eine Bahnsteigkarte lösen. Dass das nur zum Teil stimmt, lässt sich studieren an dem, was losging, als man VW-Mitarbeitern ihre Currywurst wegnehmen wollte.

Tobias Müller über Pizza fritta, die nicht im Ofen gebacken, sondern frittiert wird. Seiner Meinung nach die einzig wahre Pizza zum Mitnehmen, denn die klassische aus dem Ofen verliere quasi sofort an Aroma.

"Pizza ist eine Sternschnuppe des Genusses: Zwei Minuten nachdem sie aus dem Ofen gekommen ist, ist sie nur noch halb, nach fünf Minuten nur noch ein Drittel so gut, und die letzten hastig hinuntergeschlungenen Bissen sind nichts mehr als eine wehmütige Erinnerung an verglühte Größe. In Neapel gibt es daher Menschen, die behaupten, in der Pizzeria auf dem Tisch neben dem Ofen zu bestehen, weil sie dort noch eine Spur wärmer ankommt." (Müller, a.a.O.)

Apropos Geschiss: Claudius Ziehr über die einzig wahren, echten Bucatini all'Amatriciana. Gourmandise bedeutet ja zunächst, sich für das zu interessieren, was man so isst. Trotzdem weiß ich manchmal nicht, ob ich die unter Italienern verbreitete Neigung, ums Essen einen Riesenzinnober zu veranstalten, sympathisch oder anstrengend finden soll. Zumal meine ehemalige Kommilitonin P., die aus der Nähe von Bologna stammte und der ich mein erstes 'richtiges' Bolognese-Rezept verdanke (wofür ich ihr noch heute dankbar bin) mir einst verriet, dass auch Italiener, wenn niemand guckt, Fastfood essen oder bloß einen Riesenteller Pasta mit fertiger Tomatensauce verdrücken, wenn sie Hunger haben und keine Lust, groß aufzukochen.

Apropos Italien: Ein Essay von Myron Joshua über die legendäre Moka Express von Bialetti. Auf Englisch.

Das Rezept. Letztens meldete sich hier ein freundlicher Kommentator zu Wort, der mit dem von mir so geschätzten, lange und sanft Geschmorten nicht so recht was anfangen kann und nach eigenem Bekunden eher Kurzgebratenes bevorzugt. Ist Geschmackssache und somit völlig legitim. Im Sommer schätze auch ich Gegrilltes sehr. Da aber, einer alten französischen Küchenweisheit zufolge, Gerichte ohne Sauce keinen Sinn ergeben und man aus Kurzgegartem meist nichts rechtes zuwege bringt, muss man sich um ein separates Sößchen bemühen, will man nicht auf Fertigprodukte zurückgreifen.

Ordert man wo ein Steak 'Café de Paris', dann liegt meist ein schmelzender Klumpen industrieller Kräuterbutter auf dem grillierten Fleischbrocken. Die Bezeichnung hat nichts mit Paris zu tun, sondern geht zurück auf das Restaurant 'Café de Paris' in Genf. Das wurde 1930 gegründet, gehört inzwischen irgendeinem Investor, führt aber auch heute noch exakt ein Hauptgericht auf der Karte: Entrecôte (180 g) mit Sauce 'Café de Paris', frischen Pommes frites und grünem Salat zu 43 Franken.

Zwar verkaufen sie im Café de Paris auch die Buttermischung (18,50 SFr à 250 g), aber die dient lediglich als Basis für die üppige Sauce. Ein ferner Klang aus Zeiten, in denen Gourmets angesichts der Forderung, Essen habe vor allem mal leicht zu sein, allenfalls die Augenbraue hochgezogen und diskret gehüstelt hätten, ehe sie sich dem nächsten Gang zugewandt hätten. Übrigens soll die Sauce 'Café de Paris' auch sehr gut mit Fleischfreiem funktionieren.

In diesem Sinne allen schöne, vor allem erholsame Feiertage!






5 Kommentare :

  1. Ein Freund von mir war lange mit einer Sizilianerin zusammen. Wenn sie Pizza gemacht hat, machte sie den Teig, rollte ihn auf einem Backblech aus und schaute dann nach, was im Kühlschrank war. Eine große Salami baumelte sowieso immer an einem Nagel an der Küchenwand. Fertig war die Pizza Elisa. Immer anders, immer lecker.

    Frohes Fest und guten Rutsch!

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    1. So sieht das aus. Besten Dank und gleichfalls.

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    2. Die Gute ist dann aber sehr tolerant. Ich habe mal scherzeshalber versucht, meinen italienischen Arbeitskollegen eine Pizza Weisswurst schmackhaft zu machen. Hach, einer lebendigen Diskussion Bedarf es so wenig und man kann dabei eine Menge lernen.

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  2. Ich bin ein absoluter Saucen-Fan. Wenn ich bei Muttern bin, gibt es am ersten Tag ihre weltberühmten* Rinderrouladen.
    Wenn man mich zwingen sollte zwischen Sauce oder Roulade zu wählen, dann immer für die Sauce.
    Mutti sagt immer, der Trick sei, ganz kurz bevor die Sauce anbrennt, sind die Rouladen fertig.

    *Meine javanische Ehefrau schwört darauf und als ich noch in Dtl. wohnte hatte Mutti immer genau vier Rouladen mit ordentlich Sauce mehr gebraten. Meine MitbewohnerInnen haben das immer "Muttertag" genannt und waren sich anschl. im klaren, dass diese Rouladen die besten sind (die hatten keinen Grund mir etwas vom Pferd zu erzählen).

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  3. PS: Christopher Clark als "führenden Historiker" zu bezeichnen...nun ja...
    Nicht alles was in der Glotze den Erklärbären abgibt und wochenlang in der Bestsellers List steht ist auch "führend", eher "populär" und auch dieses Interview unterstreicht das.
    Seine Argumentation besteht aus der ideologischen "Mitte" (alleine als Historiker muss er wissen, dass der Begriff der "Mitte" unwissenschaftlicher Quatsch ist) die ja u.a. diese Krise maßgeblich mitbeeinflusst hat.

    Fred

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