Sonntag, 12. Januar 2025

Zwischen den Jahren Konsumiertes - 2024/25


Gelesen: Pierre Martin: Madame le Commissaire und der verschwundene Engländer

Mit dem im Périgord ermittelnden Dorfgendarm Bruno ist es mir gegangen wie mit so vielen literarischen Serientätern. Eine Zeitlang schätze ich die Wiederkehr des Vertrauten durchaus. Als würde man sich regelmäßig mit alten Freunden treffen. Aber irgendwann nutzt sich halt alles mal ab und Vertrautes gerinnt zur Marotte. Bei Chef de Police Bruno wurde ich es zunehmend überdrüssig, dass ihm immer alles gelingt, er fast alles kann und er sich das, was er noch nicht kann, binnen kürzestem mühelos draufschafft. Der letzte auf Deutsch erschienene Band liegt noch immer ungelesen herum. Bei Gelegenheit mal. Da traf es sich, dass der werte Kollege mich mit 'Madame le Commissaire' auf eine weitere in Frankreich angesiedelte Krimiserie aufmerksam machte.

Die titelgebende Kommissarin Isabelle Bonnet ist Kommandantin einer Spezialeinheit der französischen Police Nationale. Bei einem Terroranschlag auf den Präsidenten wird sie schwer verletzt. Sie bekommt eine längere Auszeit gewährt und beschließt, dem hektischen Paris den Rücken zu kehren, um in ihrem Heimatort Fragolin an der Côte d’Azur, wo ihr verstorbener Vater einst Bürgermeister war, wieder auf die Beine zu kommen. Da ihr Chef, der gleichzeitig ein väterlicher Freund ist, sie gut genug kennt, um zu wissen, dass sie ohne Arbeit nicht kann, bittet er sie, sich da mal was anzusehen. Man ahnt es, sie ermittelt bald in einem handfesten Mordfall. Es geht weniger betulich zu als im Périgord, es wird weniger extensiv getafelt (meist wandern Lammkoteletts auf den Grill und es gibt Rosé dazu) und Madame Bonnet gerät gleich im ersten Band wirklich in Lebensgefahr. Das ist flott geschrieben und man liest es ohne Langeweile gut weg. Mehr muss manchmal nicht. Natürlich kann man an dem einen oder anderen kritteln. Etwa daran, dass es manchmal arg klischeehaft provenzalisch zugeht oder dass Isabelles Assistent Apollinaire vielleicht ein wenig ein zu schräger Vogel ist. Aber das wird sich im weiteren Verlauf der Reihe zeigen.

Zwei Dinge nerven allerdings gewaltig (keine Ahnung, ob das nur die deutsche Übersetzung betrifft): Worin liegt der Sinn, die Figuren immer wieder ohne erkennbaren Sinn einzelne Sätze auf Französisch reden zu lassen? Dass Muttersprachler:innen in Frankreich Französisch parlieren, ist mir bewusst, daran muss ich wirklich nicht andauernd erinnert werden, vielen Dank. Und was soll diese Unsitte, ohne erkennbare Logik die französische Bezeichnung für bestimmte Begriffe zu verwenden für andere hingegen nicht? So werden zwar andauernd portables (Handys) benutzt, aber niemand fährt mit der voiture oder tippt auf einem ordinateur herum. Dass mir damit einst schon die Berufsvenezianerin Donna Leon gewaltig auf den Docht gegangen ist, bei der plötzlich alle ein telefonino am Ohr hatten, macht es nicht besser.

Pierre Martin: Madame le Commissaire und der verschwundene Engländer. München: Knaur 2014, 364 S., 13,00 €.

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Gelesen: Tom Hillenbrand: Lieferdienst

Hillenbrand ist Autor der von mir sehr geschätzten Reihe um den Luxemburger Koch und nebenberuflichen Detektiv Xavier Kieffer. Da der achte Band wohl noch ein wenig auf sich warten lässt, aber hoffentlich bald kommt, ist 'Lieferdienst' eine willkommene Überbrückung. Eine Dystopie, angesiedelt in einer zukünftigen postapokalyptischen Welt. Die Handlung spielt in Berlin II. Das eigentliche Berlin ist eine durch Fusionsbomben vernichtete Trümmerwüste (über den Wiederaufbau wird seit Jahrzehnten gestritten -- BER anyone?). Hauptfigur Arkadi arbeitet als 'Bringer' für den Lieferdienst Rio. Ordert jemand etwas im Netz, geht der Auftrag raus an eine Vielzahl von so genannten 'Makern', die die gewünschte Ware vor Ort per 3D-Drucker herstellen, die dann von Bringern per Hoverboard geliefert wird. Das Geld bekommt am Ende nur derjenige, der auch liefert. Als ein Kollege Arkadi bittet, einen Auftrag für ihn zu übernehmen, stößt er auf ein Netz krimineller Machenschaften. Jenseits der solide gebauten Krimihandlung liegt Hillenbrands Kunst hier darin, eine Zukunft zu modellieren, die auf den ersten Blick noch ein Stück weg, aber immer auch beunruhigend nahe erscheint, man den fiesen Gedanken nicht los wird, dass man das alles selbst durchaus noch erleben könnte. 

Tom Hillenbrand: Lieferdienst. Köln: KiWi 2024, 190 S., 24,00 €

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Quergelesen: Stefan Gärtner: Tote und Tattoo

Eine Sammlung von in den Jahren 2006 bis 2022 erschienenen Kolumnen, Essays und Glossen aus Titanic, WOZ und Neues Deutschland. Einer der letzten dezidiert linken Autoren, der noch tapfer die Stellung hält und in den Medien vorkommt, wenn auch nicht im Mainstream. Nicht immer leichte, dafür fast immer lohnende Lektüre. Und, ich geb’s zu, der Gärtner schreibt ziemlich oft so wie ich gern mal schreiben könnte.

"Es geschieht der Schreckschraube Sandra Maischberger ja ganz recht, dass sie jetzt auf dieser zweituntersten Stufe des Fernsehgeschäfts angekommen ist, noch über einem Engagement beim Verkaufskanal, aber schon einigermaßen unterhalb vom »Ratgeber Auto«; und wundersam nur, dass das nicht früher schon aufgefallen ist: diese grässliche Mischung aus rein positivem Journalistenschul-Ehrgeiz, nämlich unbedingtem Karrierewillen, und Jargonaffinität mal Einverstandensein. Die Sandra Maischberger, die war ja auch mal so was wie ein Wunderkind, die fanden sie mal richtig gut in ihren Fernsehfeuilletonredaktionen, weil sie wasweißich »nachhakte« und »dranblieb« und solche Scheiße mehr; daran will sich jetzt natürlich keiner mehr erinnern." (Stefan Gärtner: Die Mozart-Show)

Stefan Gärtner: Tote und Tattoo. Essays, Glossen, Kritik der Dummheit. Berlin: Edition Tiamat 2023, 332 S., 24,00 €.

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Gelesen: Vincent Klink: Mein Schwaben

Nach einem Buch über Wien und einem über Venedig legt Koch, Musiker, Schreiber und Lebenskünstler Vincent Klink nun ein drittes mit kulturell-kulinarischen Streifzügen vor. Dieses Mal geht es, der Titel verrät’s, durch sein heimatliches Schwaben. Es gibt viel zu lernen, Anekdoten und Schrullen jenseits der ausgetretenen Pfade zu entdecken und wie immer auch einige Rezepte. Klink verwahrt sich gegen das Vorurteil, Schwaben sei die Heimat spießiger, knauseriger Kehrwöchner. Vielmehr hause im Ländle ein durchaus eigensinniger Menschenschlag. Das kann durchaus stimmen, denn im Zuge der Proteste gegen Stuttgart 21 tauchte zum ersten Mal der Begriff 'Wutbürger' auf und während der Coronakrise schien die Gegend geradezu ein Hotspot der Querdenker zu sein. Wie sein einstiger Partner in crime Wiglaf Droste, ist Klink nicht der Typ für die Langstrecke, sondern in der kleinen Form zu Hause. Einen großen Bogen sucht man vergebens. Klink beherrscht auch in fortgeschrittenem Alter die Kunst, sich treiben zu lassen. Wer damit bislang nichts anfangen konnte, wird es auch dieses Mal nicht, wer es konnte, wird auch hier gut bedient.

Vincent Klink: Mein Schwaben. Leben und Speisen im Lande des Eigensinns. Hamburg: Rowohlt 2024, 318 S., 28,00 €.

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Geguckt: Der Pass, Staffel 2 und 3

Zu der Serie 'Der Pass', deren erste Staffel 2019 noch öffentlich-rechtlich erschienen war, habe ich eine gewisse Affinität. Schauplatz ist das deutsch-österreichische Grenzgebiet bei Salzburg. Dort siedelt Verwandtschaft und ich kenne mich ein wenig aus. In 'Der Pass' müssen deutsche und österreichische Behörden bei der Aufklärung mysteriöser Mordserien zusammenarbeiten, die irgendwie zusammenzuhängen scheinen. Und so sind die deutsche Beamtin Elli Stocker (Julia Jentsch, die übrigens zu den ganz wenigen Menschen gehört, die imstande sind, eine rote Funktionsjacke mit Würde zu tragen) und ihr österreichischer Kollege Gedeon Winter (Nikolaus Ofczarek, der den wohl kaputtesten Ermittler im deutschsprachigen Fernsehen gibt) gezwungen, sich zusammenzuraufen. Korrekte Deutsche treffen auf nonchalante Österreicher und wir sehen als Nebenhandlung, wie ein Polizeiapparat Mitarbeiter zerreiben kann. In der zweiten Staffel wissen wir sehr schnell, wer der Mörder ist und es entwickelt sich ein Howcatchem-Spiel, das bis zum Schluss spannend bleibt. 

Dass die dritte Staffel dagegen arg abfällt, hat mehrere Gründe: Weil sie im Frühjahr oder Sommer spielt, fehlt die grau-vereiste Optik der ersten beiden Staffeln, die viel zu der morbiden Grundstimmung beigetragen hat. Ferner offenbart sich, was das Problem mit dem momentan so angesagten linearen Erzählen ist, das auch Entwicklungen zeigen will, die die Figuren durchmachen: Ab irgendeinem Punkt besteht die Gefahr, das ganze zu überfrachten. Das passiert auch hier. Es geht um rituellen Kindesmissbrauch, satanische Riten, die Abgründe und persönlichen Verstrickungen der Protagonisten werden tiefer und tiefer. So tief, dass ich irgendwann mal gesagt habe: Boah, echt jetzt? Ey komm!

Jeweils 8 Folgen, auf Netflix.

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Geguckt: FC Hollywood

Fünfteilige Dokuserie über den FC Bayern München während der 1990er Jahre. Über mannschaftsinterne Kämpfe und Querelen und über hohen Trainerverschleiß. Viele O-Töne, darunter Lothar Matthäus, Thomas Strunz, Thomas Helmer, Markus Babbel, Mehmet Scholl, Stefan Effenberg, aber nicht Kaiser Franz und nicht Uli Höneß. Alles steuert auf die Nacht von Barcelona zu, das Champions League-Finale von 1999 gegen Manchester United. Die Bayern führten bis zur 90. Minute 1:0 und kassierten in der Nachspielzeit zwei Tore nach Eckbällen. Ich erinnere mich, zwischen Schadenfreude und einem Hauch Mitgefühl hin- und hergerissen gewesen zu sein. Ich meine, hey, es ist der FC Bayern! An vieles erinnerte ich mich nicht mehr und wurde jetzt wieder erinnert. Etwa wie Mario Basler, der in der Nacht vor dem Finale noch die Hotelbar trockengelegt und dazu Kette gequalmt hatte, trotz eines Restalkoholspiegels, der ihn mit Sicherheit den Führerschein gekostet hätte, erst Schmeichel einen genialen Freistoß zum 1:0 einschenkte und in der 75. Minute den schon damals nervigen David Beckham dergestalt vernaschte, dass der möglicherweise noch heute manchmal nachts schweißgebadet aufwacht. Oder dass das Spiel wahrscheinlich anders ausgegangen wäre, wenn Hitzfeld kurz vor Schluss nicht den Mittelfeldspieler Thorsten Fink, sondern den kopfballstarken Verteidiger Helmer für Matthäus eingewechselt hätte. Helmer hatte aber quasi Champions League-Verbot, seitdem er im Gruppenspiel gegen Bröndby zwei Gegentore verschuldet hatte. 

"Football, bloody hell!" (Sir Alex Ferguson)

Ansonsten ist das eine interessante Zeitreise. Obwohl schon damals über Kommerzialisierung gemeckert wurde, war Profifußball noch zu Anfang der Neunziger längst nicht die Multimillionenshow von heute. Auch die Bayern spielten meist vor halbleeren Rängen und Erstligaprofis waren, von Ausnahmen abgesehen, keine Popstars und nicht automatisch gemachte Leute, sondern mussten nach ihrer aktiven Zeit sehen, wo sie beruflich unterkamen. Erst durch die Einnahmen aus der 1992 gestarteten Champions League und aus den Verkäufen von Übertragungsrechten an Pay TV-Sender und den Klatsch und Tratsch des Privatfernsehens wurden Fußballer zu Popstars und Fußballclubs zu mittelständischen Unternehmen. Wo dann viele ehemalige Erstligaprofis nach ihrer aktiven Zeit Jobs fanden. Dem FC Bayern kann man vorwerfen bzw. muss man attestieren, die Chancen, die sich durch diese Entwicklungen boten, mit als erste in Deutschland erkannt und am konsequentesten genutzt zu haben. FC Hollywood eben.  

Am Ende jedenfalls passiert etwas seltsames: Auf einmal sind einem diese ganzen älteren Herren, die da zu Wort kommen und vermutlich alle Rücken haben und ihre Tabletten nehmen müssen, irgendwie sympathisch. Ich meine, hey, es ist der FC Bayern!


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Geguckt: Vienna Blood Staffel 4.

Die vierte Staffel um den grummligen Inspektor Oskar Reinhardt (Juergen Maurer) und dem brillanten Psychologen und Freud-Schüler Max Liebermann (Matthew Beard), die im Wien des Fin de siècle Kriminalfälle lösen, besteht aus dem Zweiteiler 'Mephisto'. Auch hier ist die Ähnlichkeit zu Sherlock Holmes frappant: Hinter dem Pseudonym Mephisto verbirgt sich ein Superverbrecher a'la Professor Moriarty. Diese Parallelen haben mich nicht gestört, auch in den vorigen Staffeln nicht. Von einer solchen Serie erwarte ich vor allem mal spannende Unterhaltung, da muss nicht andauernd irgendwas neu erfunden werden oder so. Im Fall der vorliegenden vierten Staffel war sie spannende Unterhaltung allerdings dadurch getrübt, dass für alle, die in der Lage sind, erfolgreich zwei und zwei zu addieren, spätestens zu Beginn der zweiten Folge dieses klassischen Whodunit-Plots einigermaßen klar sein dürfte, wer Mephisto ist. Auch dass die vielversprechende Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der K.u.K.-Monarchie, die noch die ersten Folgen durchzog, schnöde verschenkt wurde, fand ich ärgerlich. Die heillos überdrehte Verfolgungsjagd auf dem Dach des Stephansdoms? Geschenkt. Nun ja, die vierte Staffel soll eh die letzte sein, dann ist’s ja gut.

2 Folgen, ÖRR-Mediathek.






3 Kommentare :

  1. Ich glaube auch, dass Pierre Martin sich das von Donna Leon abgeguckt hat, das ist ein klassischer Trick, um Authentizität herzustellen. Das braucht's, wenn man als Amerikanerin über Italien schreibt. Pierre Martin ist das Pseudonym eines deutschen Autors.

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  2. Liebe Mitlesenden! Ich hätte da auch ein paar Filmtipps. Spektakuläre Filme, die auch ehemals Kinofilme waren und es nicht in den ÖR geschafft haben:


    1. Hafners Paradise:https://www.youtube.com/watch?v=CMaCeYOTkVQ

    Ein Exnazi (SS-Mann) bezeichnet Auschwitz als 5-Sterne-Hotel.

    2. Hamburger Gitter: https://www.youtube.com/watch?v=gT2oSHLNl2k&t=295s

    Es geht um den G7 Gipfel 2017 und die organisierte Polizeigewalt.

    3. DOMENION: https://www.youtube.com/watch?v=V7DrljVAaYk&t=42s

    Bei Film 3 müßt Ihr sehr stark sein. Den schaffen nicht viele, bis zu Ende zu schauen.





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