Samstag, 5. November 2022

Kleben, Kartoffelbrei, Kommandieren

 
Was die momentanen Festklebe- und Gemäldebesudel-Aktionen der Aktionsgruppe 'Letzte Generation' angeht, wohnen zwei Seelen, ach, in meiner Brust: Einerseits habe ich volles Verständnis für die Proteste der jungen Leute und ich finde, sie sind noch viel zu wenig radikal. Man sollte bedenken, dass für sie die Sache mit dem Klimawandel vielleicht mit etwas größerer Dringlichkeit sich darstellt als für unsereins Alte Säcke mit nur noch wenigen Jahrzehnten statistischer Restlaufzeit. Der ekelhaft belehrende Tonfall, dieses Predigen von oben herab, wie er jetzt aus diversen Medien den Jugendlichen entgegenschallt ("Liebe Jugend von heute! Demos sind ja ganz okay, aber bei festkleben und Tomatensuppe und Kartoffelpü, da hört der Spaß auf, ja?"), auf dass nichts ihre Bräsigkeit störe, würde mich vermutlich noch zu ganz anderen Aktionen anstacheln.

Donnerstag, 3. November 2022

Vermischtes und Zeugs (XXXV)

 
Ich freue mich schon so richtig auf die Fußball-WM. Sie auch? Das wird eine richtig ausgelassene Party in knallvollen Stadien werden. Und klimaneutral! Das Emirat Katar hat 2,7 Millionen Einwohner und keine Fußball-Liga. Aber 12 neue Stadien mit mindestens 40.000 Plätzen (das größte hat knapp 90.000), bei deren Bau etliche Tausend Arbeiter ums Leben gekommen sind. An einem durchschnittlichen Bundesliga-Spieltag sind in Deutschland 300-350.000 Leute in den Stadien. Die Fußball-EM 2008 wurde damals nach Österreich (8,9 Mio. Einwohner) und in die Schweiz (8,7 Mio. Einwohner) vergeben. Begründung: Für eines dieser Länder allein hätten sich die 8 benötigten Stadien mit jeweils mindestens 30.000 Plätzen mangels Nachnutzung nicht gelohnt.

Montag, 31. Oktober 2022

Im Westen was Neues?


In den Abendlärm der Städte fällt es weit,
Frost und Schatten einer fremden Dunkelheit,
Und der Märkte runder Wirbel stockt zu Eis.
Es wird still. Sie sehn sich um. Und keiner weiß.

In den Gassen faßt es ihre Schulter leicht.
Eine Frage. Keine Antwort. Ein Gesicht erbleicht.
In der Ferne wimmert ein Geläute dünn
Und die Bärte zittern um ihr spitzes Kinn.

                                                Georg Heym, 1911
 


Edward Bergers Neuverfilmung von Remarques 'Im Westen nichts Neues' ist kein Meisterwerk, aber sehenswert.

In 'historischen' Romanen und Filmen gibt es, ebenso wie bei Science fiction, bekanntlich weniger etwas über eine bestimmte Vergangenheit bzw. Zukunft zu lernen, sondern vor allem einmal etwas über die Zeit ihrer Entstehung.

Samstag, 29. Oktober 2022

Mr Monbiot explains

 
"Der Neoliberalismus - der auf simplistischen Vorstellungen darüber beruht, wie Märkte funktionieren sollten, die jedoch nicht erfassen, wie sie tatsächlich funktionieren - hat noch nicht einmal zu Friedenszeiten funktioniert." (Joseph Stiglitz)

Auf die Gefahr hin, zu längst Bekehrten zu predigen, empfehle ich dieses kurze Erklärvideo von George Monbiot. Nennen wir es die nette Variante von Jonathan Pie. Außerdem soll die Chance genutzt werden, Monbiots Arbeit wieder mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Für des Englischen nicht Mächtige sind einige seiner Artikel auch auf Deutsch in der 'Guardian'-Sektion des 'Freitag' zu finden (Feedly ist hier eventuell hilfreich).

Dienstag, 25. Oktober 2022

Jenseits der Blogroll - 10/2022


Die Links und Fundstücke des Monats. Dieses Mal steht das politische Chaos in Großbritannien zunächst im Fokus. Gut, die Dreiviertelmilliarde Pfund wird das Vermögen des ehemaligen Hedgefond-Managers und aktuellen, von einer Handvoll Parteimitgliedern gewählten britischen Premierministers Rishi Sunak geschätzt, sind Peanuts gegen das, über das die Royals so verfügen. Aber das Vermögen seines Schwiegervaters soll sich auf knapp zwei Milliarden Pfund belaufen. Kann also durchaus passieren, dass es demnächst bei der wöchentlichen royalen Audienz heißt: "Oi, pass auf, was du sagst, Segelohr, wir kaufen hier den ganzen Laden und du fliegst als erster raus!"

Sonntag, 23. Oktober 2022

Vermischtes und Zeugs (XXXIV)


Auch ohne ausgemachter Fan der amtierenden Bundesregierung zu sein, fragt man sich zuweilen: Was muss die eigentlich machen, damit nicht mindestens ein Preßbengel am Tag was in der Art "Ogottogottogott, ist die Ampel am Ende?" schreibt? Müssen sich Lindner, Habeck und Scholz allmorgendlich in rosa Yogaklamotten zur gegenseitigen Fußreflexzonenmassage treffen? Ihre gesamte Freizeit nebst Familien in trauter Eintracht zusammen verbringen, jeden Werktag ins Resto, am Wochenenden in Kurzurlaub? Gleichschritt?

Samstag, 22. Oktober 2022

Popkulturelles

 
Ein schönes Beispiel dafür, wie Popkultur funktioniert, ist folgendes: Der berühmte New Yorker Juwelier Tiffany & Co. hat 2017 im vierten Stock ein Café eröffnet. Warum erst 2017, fragt sich da. Wenn es denen bloß ums Geld gegangen wäre, dann hätten sie das doch schon vor Jahrzehnten machen können. Ich denke, die hatten einfach keinen Bock mehr, jeden Tag Legionen von Internetopfern zu erklären, dass man bei Tiffany nicht frühstücken kann und dann doofe Tripadvisor-Kommentare zu kassieren wie: "Sind extra nach New York, um bei Tiffany zu frühstücken. Das ist gar kein Café, sondern irgend so ein Schmuckgeschäft. Drecksladen, minus 5 Sterne!!!1!11!!!".

Donnerstag, 20. Oktober 2022

Kipppunkte

 
Damals, 1979, hat niemand ahnen können, dass der Epochenumbruch, der da losging, im Jahr 2022 noch immer andauern und kein Ende absehbar sein würde. Momentan knabbern wir nach wie vor am Zerfall der bipolaren Welt ab 1989/91. Eine USA als stärkste Militärmacht konkurriert mit China als stärkster Wirtschaftsmacht. Dahinter die Regionalmacht EU mit der meisten 'Soft power' in Form der weltweit höchsten Kaufkraft und Rechtssicherheit. Dahinter wiederum die Regionalmächte Russland mit dem (nominell) stärksten Atomwaffenarsenal sowie den meisten fossilen Ressourcen und Indien, das ebenfalls über Atomwaffen verfügt, aber zehnmal mehr Einwohner hat als Russland.

Sonntag, 16. Oktober 2022

Schmähkritik des Tages (62)


Heute: Stefan Gärtner über Bildungsgeschwätz

"Wären alle so gebildet, wie das die Rede von der Bildungsrepublik meinen müsste, um kein Geschwätz zu sein, würden sie vielleicht Fragen stellen, die nicht ins Konzept passen, nach Besitz, Macht und wie das zusammenhängt und ob ein Geländeporsche wirklich mehr als eine Geschmacklosigkeit ist, und wenn der Karosseriebaumeister aus der DDR, bei dem ich zu meinen Oldtimerzeiten Stammgast war, mir ungefragt mitteilte, das wisse ich doch sicher, dass die Schulbildung in der DDR besser gewesen sei, hatte er insofern recht, als die Bildungsrepublik mit dem Wissen beginnen müsste, worauf die Gesellschaft, in der man lebt, beruht. Die westliche Antwort, die ungefähr «Rechtsstaat» und «Freiheit» lautet, unterschlägt nämlich, was im Osten Grundwissen war: dass Herrschaft unmittelbar mit der Verfügung über die Produktionsmittel zu tun hat. Aber weder kann man alles wissen, noch soll sich eins für alles interessieren, etwa dafür, wie aussichtslos das mit der grünen Marktwirtschaft ist." (WOZ, 18. September 2022)

Samstag, 15. Oktober 2022

Die Scheinheiligen


Es hilft nichts, aber es muss. Ich tue jetzt etwas, was mir geradezu körperliche Schmerzen bereitet. Ich verteidige Angela Merkel. Ist aber nicht das erste Mal, ich bekomme wohl Übung darin. So habe ich sie immer für ihre Entscheidung vom Sommer 2015 gegen Kritik in Schutz genommen und tue das immer noch. (Es ist mir übrigens völlig egal, ob Faschos und andere rassistische Arschgeigen Schaum vor dem Mund haben deswegen.) Gar nicht mal nur aus humanitären Gründen. Die Grenzen offen zu halten, war die richtige Entscheidung und hat damals vermutlich die EU gerettet. Weil Kurz und Orbán sich im Geheimen abgesprochen und mit einem Alleingang quergestellt hatten.