Neun Thesen zur WM bzw. Gründe, sie sich trotz allem anzutun
1. Private Boykotte sind sicher ehrenwert, aber sinnlos. Eine überschätzte symbolische Geste.
In moralischer Hinsicht spricht natürlich nichts dagegen, das Event zu boykottieren. Problem ist, das beeindruckt kaum einen und bringt auch keinem wirklich was. Außer einem selbst die Gewissheit, die richtige Gesinnung Gassi zu führen. Weil es keine nennenswerte politische Resonanz gibt dafür und die Zeit zu kurz, der Anlass zu punktuell ist, dass sich eine breite Graswurzelbewegung bilden kann. Stimmt ja, Putins Russland ist eine Demokratur mit autokratischen Zügen, in der kritische Stimmen sich nicht sicher fühlen können, in der Religion als Herrschaftsinstrument eingesetzt wird und etliches andere mehr. Sportliche Großereignisse zu goutieren, verlangt einem minunter die Fähigkeit zum Ausblenden ab. Olympische Spiele und Fußball-Weltmeisterschaften haben auch nach 1936 in Ländern mit Geschmäckle stattgefunden. Eine Fußball-WM in Südafrika wäre in den 1980ern wegen des Apardheit-Regimes kaum machbar gewesen. Eine in einem von einer Mörderbande in Uniform regierten Argentinien in den 1970ern sehr wohl.
Natürlich kann man sagen: Wenn alle so denken, dann ändert sich nie was. Schon richtig, Herr Hausmeister. Aber:
2. Es wird eh die letzte WM, wie wir sie kennen.
Einiges spricht dafür, dass die WM in Russland die letzte ihrer Art sein wird, bevor die Fußball-Blase wegen finanzieller Überhitzung beginnen wird, in sich zusammenzusacken. Hoffentlich. Ab 2020 wird die Europameisterschaft in einem heillos aufgeblähten Modus über den ganzen Kontinent verstreut werden, wodurch sich das Besondere eines Turniers, das auch in der räumlichen und zeitlichen Verdichtung liegt, verflüchtigen wird. Zwei Jahre später dann werden wir das besondere Schauspiel einer WM in der Wüste geboten bekommen, die im Winter stattfinden wird, weil man erst Jahre nach der Vergabe herausgefunden hat, dass es dort im Sommer zu heiß ist zum Kicken. Danach wird die WM von 32 auf 48 Teams aufgepumpt werden. Dann kann meinetwegen auch Bayern mit eigener Nationalmannschaft antreten. Was der korrupte FIFA-Supremo Gianni Infantino sonst noch vorhat, wissen wir nicht, aber es wird höchstwahrscheinlich nicht zum besten des Fußballs sein. Genießen wir also diese letzte WM alten Stils.
3. Zu Löws Truppe zu halten, ist inzwischen ein politisches Statement.
Die deutsche Nationalmannschaft, vulgo: Die MannschaftTM, bietet dieses Mal interessantes Anschauungsmaterial für das, was sich seit 2014 verändert hat. Für eine Mannschaft mit Gündoğan und Özil zu sein, Gündoğan anzufeuern, er möge mit so viel Wut im Bauche antreten, dass er fest entschlossen ist, es allen zu zeigen (Özil neigt da eher zum Abtauchen, aber ich lasse mich gern überraschen), wird da schon zum politischen Statement. Man kann den beiden genannten ihren dämlichen Erdogan-Stunt und ihr ungeschicktes Verhalten danach natürlich krummnehmen und Rauswurf fordern. Wer das tut, möge sich fragen, ob er das mit gleicher Vehemenz täte, wenn ein anderer, sagen wir, bekennte, ein glühender Bewunderer Putins zu sein. Wenn nur die Werbung für Erdoğan das Problem ist, hätten sie Lukas Podolski in ähnlicher Weise ausgepiffen und beschimpft, wenn er noch im DFB-Trikot aufliefe? Was ist wichtiger, entspannter Pragmatismus oder verkniffener Patriotismus? Höhere Titelchancen oder kleinlichdoofes Gesinnungsgeschnüffel, ob auch ja alle Herzensdeutsche sind und brav Die HymneTM singen?
"Über Kritik an ihrer dummen Aktion brauchen sich Gündoğan und Özil tatsächlich nicht beschweren, aber die Reaktionen vieler Fans […] haben in ihrer Härte etwas Unversöhnliches, auch Bigottes. Pfeifen sie eigentlich genauso laut auf die Verbindungen zwischen Bayern München und Katar, Schalke und Gazprom? […] Und ob denen, die da aus angeblich politischen Gründen über die beiden Türkischstämmigen pfeifen, bewusst ist, dass in den nächsten Tagen in einem deutschen Gericht die Freilassung Beate Zschäpes gefordert wird? War die Solidarität der Pfeifenden mit dem Journalisten Deniz Yücel, den Erdoğans Justiz grundlos einsperrte, auch nur halb so groß wie ihre Abneigung gegen Özil und Gündoğan?" (Oliver Fritsch)Und selbst wenn diejenigen sich abwenden von Der MannschaftTM, weil sie darin nur 'echte Deutsche' dulden wollen bzw. welche, die sie als solche gelten lassen, und sich damit (man ist ja kein Nazi!) mal eben einer Forderung anschließen, mit der die NPD seit 2006 auf Tour ist – sollen sie doch. Für mich gäbe es schlechtere Nachrichten.
4. England? Never!
Nein, Kollege Balcerowiak, England wird Deutschland NICHT aus dem Turnier kegeln. Das ist seit dem Ausrutscher von 1966 gegen sämtliche Naturgesetze. So wie Deutschland gegen Italien bei großen Turnieren NIEMALS weiter... Ups.
5. Asiatische Teams? Deko. Afrika? Wird auch diesmal nichts reißen. Sorry.
6. Die Topfavoriten versprechen echten Fußballgenuss.
Vieles spricht dafür, dass es für Fußball-Gourmets und Freunde eines gepflegten Offensivwirbels dieses Mal ein Fest werden könnte. So viele Zauberfüße waren nie. Was allein mein Topfavorit Frankreich auf den Platz bringt! Griezmann, Dembelé, Mbappé, Giroud! Deschamps kann es sich sogar leisten, wieder auf Benzema zu verzichten. Auch Brasilien mit runderneuerter Truppe, einem fitten Neymar und ohne den Druck, daheim gewinnen zu müssen, ist für Großes gut. Es könnte zu einer Neuauflage des Finales von 1998 kommen. Was durchaus einiges verspräche, denn WM-Begegnungen zwischen Frankreich und Brasilien haben immer das Zeug zum Klassiker. Deutschland zählt heuer mit Spanien zum erweiterten Favoritenkreis. Da wird vieles vom ersten Spiel abhängen. Zwischen Achtelfinal-Aus und Finale geht, wie so oft, vieles. Ein Vorrunden-Aus täte mich aber überraschen.
7. Marco Reus!
Apropos deutsche Mannschaft: Nicht nur würde es mich aus den genannten Gründen freuen, wenn Gündoğan und Özil ganz groß aufspielen würden, auch Marco Reus mit seinem hohen Tempo und seiner grandiosen Schusstechnik hat endlich die Chance zu zeigen, was er draufhat. Tut er's, könnte er einer der Spieler des Turniers werden. Was mich als leidgeprüften BVB-Fan schon ein wenig versöhnen würde. Die Neuer-Frage würde ich nicht so hoch hängen. Dass er als Nummer 1 und Kapitän nominiert wurde, sollte die Sponsoren zufrieden gestellt haben. Leistet er sich in der Vorrunde Unsicherheiten oder gar derbe Patzer, dann steht mit Ter Stegen ein mindestens gleichwertiger Ersatz bereit.
8. Das Schlimmste scheint überstanden.
Es will mir vorkommen, als sei der Zenit des Partynationalismus überschritten. Sogar den Superseismographen von den Qualitätsmedien dämmert es inzwischen, dass das ganze Gelärme irgendwie doof ist und gewisse Dinge langsam aus dem Ruder laufen. Bislang habe ich noch kaum Schwarzrotsempf im Stadtbild gesehen. Welch wohltuender Gegensatz zu vergangenen Turnieren, in deren Vorfeld schon Wochen im Voraus absurd mit Fahnen, Außenspiegel- und Radkappenverhüterli sowie anderem Tinnef dekorierte Kraftfahrzeuge die Straßen verschandelten und albern dekorierte Hausfassaden das Auge beleidigten. Als man im Getränkemarkt in Nationalfarben gehaltene Werbegeschenke aufgenötigt bekam, bei entsprechenden Anlässen mit patriotischer Gesichtsschminke molestiert wurde und sinngemäß sich anhören musste, wer sich nicht beschmieren ließe, sei ein Hundsfott, ein Vaterlandsverräter gar. Ob die Biergärten auch heuer wieder bevölkert sein werden von Pseudofans, von Ramonas und Jessicas, die nur des Events, des Aufdonnerns und des Gesehenwerdens wegen anwesend sind? Egal, da gehe ich eh nicht hin.
9. Und wenn doch nicht: Es gab noch nie so viele Alternativen. Niemand ist mehr gezwungen.
Auch für Fußballmuffel gibt es gute Nachrichten. So man nicht zum Guten Buch greifen mag, ist man dank Streaming längst nicht mehr verdammt dazu, sich Frau Müller-Hohensteins und Herrn Kahns Fachsimpeleien anzutun.
Dem echten Sportfan sind die politischen Hintergründe ohnehin egal. Ob die Olympischen Spiele in einer pseudokommunistischen Ausbeuterdiktatur wie China stattfinden oder die Fußball-WM in einem rassistischen Land mit korrupten Politikern wie Brasilien. Schließlich haben wir mit dem geldgierigen "Kaiser", der noch nie einen Sklaven gesehen hat, und Sepp Herberger, der 1954 dieselben Doping-Methoden angewandt hat wie Hitler bei der Ardennenoffensive, für alles Verständnis.
AntwortenLöschenÜber Özil/Gündogan habe ich in meinem Dorf mit einigen Leuten geredet. Diejenigen, die den Ausschluss aus der Mannschaft fordern, sind exakt diejenigen, die im Herbst AfD gewählt haben. Die "Fans", die ihre eigenen Leute auspfeifen, sind ganz einfach Rassisten.
Die WM führt aber auch die Menschen zusammen. Ich werde die Spiele mit Bayern- und Eintracht-Fans sehen. Außerdem werde ich ein Iran-Trikot tragen, das mir ein Freund im vergangenen Jahr von einer Reise mitgebracht hat. Hoffentlich treffe ich am Bahnhof nicht auf Nazis. In meiner Gegend werden es täglich mehr, auch wegen dem Mord an einem Mainzer Mädchen.
Zynisch, ich weiß, aber wie es aussieht, holt der Berliner Straßenverkehr ordentlich auf beim Bodycount - da ist von radikalen Forderungen und Massenempörung wenig zu hören. Aber das muss halt so. Preis der Mobilität...
LöschenDas aktuelle Iran-Trikot ist übrigens weiß mit roten und schwarzen Bündchen - müsste der speziellen Zielgruppe doch gefallen, so rein farblich.
Hm. Fußball. War das nicht der sport, über den der Englische nationalspieler Gary Lineker anno 1990 äußerte, daß das ein einfaches spiel sei, bei dem am schluß immer die Deutschen gewinnen? Somit also absehbar und langweilig.
AntwortenLöschenDie annekdote über Helmut Kohl und Maggy Thatcher erspare ich uns jetzt.
Yup, das hat Lineker damals gesagt. Hängt ihm bis heute nach. Ich halte es da eher mit Danny Blanchflower. Der sagte einmal: "Der große Trugschluss ist, dass es bei diesem Spiel ums Gewinnen geht. Darum geht es nicht. Es geht um Ruhm, und es geht darum, Dinge mit Stil und mit Schwung zu erledigen, darum, raus zu gehen und die anderen zu schlagen und nicht darauf zu warten, dass sie vor Langeweile sterben."
AntwortenLöschenZu 3.
AntwortenLöschenWenn Podolski nun nicht Erdogan gehuldigt hätte, hätte er dann nicht eigentlich Kaczynski zu "seinem Präsidenten" erklären müssen? Und Klose, der Miroslav, hat er nicht auch polnische Vorfahren in seiner Ahnenliste stehen? Wie war das denn eigentlich mit Kevin Kuranyi? Cacau? Im Nachbarschaftsstreit mit Boateng hatte Gauland ja schon kurz nach 5:45 Uhr erfolgreich zurückgeschossen. Und Gerald Asamoah? Karim Bellarabi? Paul Freier? Ja, auch Mario Gomez. Wie lang darf die Liste werden? Zwei- oder dreiseitig? Die Zeiten der Rahn, Walter, Morlock und Turek sind schon lange vorbei. Obwohl. Heinz Kwiatkowski klingt nun auch nicht unbedingt urgermanisch.
Und auch bei anderen Ländern sieht es nicht anders aus. Die "erfolgreichen" Kolonialnationen greifen schon ewig auf ausländischstämmige Spieler zurück. Oder waren dunkelhäutige Spieler im von Sonne überfluteten England eigentlich auch schon immer dort ansässig? Ist Jermaine Jones nun eigentlich noch Deutscher oder ist er wegen seiner Nationalmannschaftszugehörigkeit zum Amerikaner mutiert? Ist Zinedine Zidane ein "reinrassiger" Frankomane? Die einzige "Nati", die ihre Ahnenliste vermutlich bis ins 18. Glied auf dem eigenen Territorium zurückverfolgen kann, dürften wohl die Japaner sein. Dann wird es aber schon eng.
Machen wir uns nichts vor. Sportler, nicht nur Fußballspieler, wählen ihrer Landsmannschaft nicht selten aufgrund von sportstrategischen Überlegungen im Sinne ihrer Karrierechancen. Oder glaubt wirklich jemand, die Spieler der zweitplatzierten katarischen WM-Handball-Nationalmannschaft von 2015 mit ihren Ursprüngen in Bosnien, Frankreich, Kuba, Montenegro, Serbien und Spanien hätten urplötzlich ihre katarischen Wurzeln entdeckt? Ist der Altenberger Biathlet Michael Rösch schon immer Belgier gewesen? Ist das jetzt schon "1984 reloaded"?
Wer all das bedenkt, der erfreut sich maximal schöner Spielzüge und Spiele bei dieser WM. Um des Fußballs willen. Dem ist aber das Gelaber national-chauvinistischer Natur völlig egal. Ausnahmsweise soll einmal der "Kaiser" das letzte Wort haben: Gehts raus und spuilts Fußball. Ich habe fertig.