Donnerstag, 4. Oktober 2018

Einigkeit und Recht und Freizeit


Gestern war ja wieder dieser Einheitsgedenktag, an dem immer frei ist. Den gedachte ich unter anderem dafür zu nutzen, im hübschen Bad der Nachbarstadt eine Runde zu schwimmen und hernach im herrlich temperierten Solebecken noch ein wenig zu entspannen. Da ich zudem für meine Verhältnisse recht früh auf den Beinen war, dachte ich: Mach dich zeitig auf den Weg, dann hast du eine Chance, halbwegs ungestört ein paar Bahnen zu ziehen. Guter Plan. Hatte ich mir so gedacht. In der Theorie. Als ich auf den Parkplatz einbog, sah ich nur noch Volksmassen in allen Farben, Formen, Größen und Altersgruppen strömen. Und zwar dummerweise fast ausschließlich hinein. Also Plan gecancelt. Dumm gelaufen. Zuerst geärgert, dann aber dachte ich: Dass so viele Menschen an diesem Tag offenbar wichtigeres und Schöneres zu tun zu haben, als daheim vor der Glotze dieser 'Deutschen Einheit' zu gedenken, kann kein ganz schlechtes Zeichen sein. Und ward wieder ein wenig versöhnt mit dem Tag.

Halbwegs nüchtern betrachtet, bedeutete 'Wiedervereinigung':

Annexion der DDR (offiziell hieß das 'Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes').

Daher auch keine neue Verfassung, was demokratisch und nach den Vorgaben des Grundgesetzes geboten gewesen wäre.

Weitgehendes Marginalisieren der Bürgerrechtsbewegung und manisches Exorzieren von allem, was an die DDR erinnerte. Dooferweise auch Dinge, die gut waren und bezahlbar gewesen wären. Abitur nach 12 Schuljahren etwa, mit dessen Einführung man sich im Westen dermaßen blamiert hat, dass man jetzt wieder zu 13 Schuljahren zurückkehrt, war in der DDR Standard, die Lehrpläne vorhanden. Hätte man leicht anpassen können. Aber war ja DDR. Igitt. Oder dass Kinderbetreuung als gesellschaftliche Aufgabe galt, nicht als individuelles Problem (wiewohl man über die konkrete Ausgestaltung der Betreuung im einzelnen sicher diskutieren kann). Diese Aufzählung könnte man noch sehr lange weiterführen.

Die deutsche Einheit war auch das erste neoliberale 'Reform'-Großprojekt nach Lambsdorff-Papier (Industrie zerschlagen, verkaufen, Löhne senken, Tarife aufweichen um 'Arbeitsplätze zu schaffen') in der Geschichte Nachkriegsdeutschlands. Wir Wessis haben das (mehrheitlich) nicht mitbekommen, die Ossis haben es (mehrheitlich) zu spüren bekommen.

Westpolitiker, die den Zenit überschritten hatten, schufen sich ihre persönlichen Spielwiesen. Manchmal klappte das sogar (Lothar Späth in Jena), meist war das verheerend (Kurt "die Sachsen sind immun gegen Rechtsextremismus" Biedenkopf in Sachsen).

Tatenlosigkeit gegenüber der wachsenden rechten Szene in den neuen Ländern. Wer das kritisierte, war bloß hysterisch bzw. betrieb linken Alarmismus. Und wird nach wie vor streng gemahnt, auf keinen Fall die Gewalt von links zu vergessen. Schon klar.

Aber hübsch sanierte Innenstädte haben sie jetzt drüben.

Wenn man denn einen suchte, dann wäre der 9. November der ideale deutsche Gedenktag, weil er wie kein zweiter für die Widersprüche des blutigen deutschen 20. Jahrhunderts steht. Das wurde abgelehnt mit der Begründung, ein solcher Tag sei wegen des Gedenkens an die Pogromnacht 1938 kein reiner Freudentag. Genau das aber hätte seinen Reiz ausgemacht. Der 9. November als stetige Erinnerung daran, wohin nationale Besoffenheit mal geführt hat. Immer die Kehrseite mitbedenken. Der 3. Oktober, der es statt dessen geworden ist, mag vielen als gesetzlicher Feiertag willkommen sein, richtig populär scheint er nicht zu sein.

Vielleicht ist es einfach keine gute Idee, für einen Nationalfeiertag einen Anlass zu wählen, der noch nicht allzu lange her ist, wenn man es par tôut fröhlich will. Und das ist nur ein Problem mit dem dritten Oktober. Man redet sich ein, es handele sich um einen Nationalfeiertag wie ihn viele andere Länder auch hätten. Dort wird meist eine Staatsgründung, die staatliche Unabhängigkeit oder eine siegreiche Revolution gefeiert. Bei uns nicht. Wir feiern das bloße Inkrafttreten eines Staatsvertrages, der vielen erhebliche Nachteile gebracht hat. Bzw. wir versuchen es. Bleibt, wie zu erwarten, die allgemeine Fröhlichkeit aus, redet man von Undankbarkeit und mangelnder Fähigkeit der Deutschen zum Feiern. Was ich an dieser Stelle ausnahmsweise für Blödsinn halte.

Die deutsche Einheit ist, das kann man diagnostizieren, ohne sich zu weit aus dem Fenster zu lehnen, keine reine Erfolgsgeschichte. Will man denn unbedingt einen Nationalfeiertag haben (ich ganz persönlich finde, das braucht kein Mensch, aber bitte, das ist nur meine Meinung und es gibt andere), dann täte ein Reboot Not. Es bräuchte einen unverbindlicheren Anlass, der weit genug weg ist und keinem mehr weh tut. Etwa den 18. Mai. Am 18. Mai 1848 trat die Nationalversammlung in der Paulskirche zusammen. Beginge man das alljährlich im bescheideneren Rahmen in Frankfurt, dann wäre das auch ein schönes Gegengewicht zum pompös-restaurativen preußischen Berlin-Zentralismus. Der wenig populäre 3. Oktober kann gern als Gedenktag erhalten werden. Auf einer Stufe mit dem 9. November und dem 27. Januar. Stände diesem Deutschland besser zu Gesicht.

Aber das ist nur meine Meinung.

Oder wir lassen den 3. Oktober und erinnern nur noch daran, dass am 3. Oktober 2018 mit Alexander Gerst erstmals ein Deutscher das Kommando auf der ISS übernommen hat. Wer waren schon Siegmund Jähn, Ulf Merbold und Perry Rhodan?




11 Kommentare :

  1. Wofür braucht man einen nationalfeiertag?

    Für mich ist der 9. mai ein feiertag. Normalerweise gehe ich eher nicht tanzen, an dem tag aus prinzip halt schon, sofern es geht. Sieg über den faschismus.

    Den dritten oktober an sich immer verschlafen. War da was?

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  2. Siewurdengelesen4. Oktober 2018 um 21:26

    Und so nebenbei durfte diese "beschissene" DDR nach dem Drift von "Wir sind das Volk" zu "Wir sind ein Volk" doch nicht noch 41 Jahre alt werden...

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  3. "Annexion der DDR "
    Es waren die Protestierenden, die die Vereinigung wollten, zurecht. Eine Alternative gab es nicht, in der gefährlichen Situation nach dem Zusammenbruch des Ostblocks.
    Die Art der Übernahme war tendenziell bereits neoliberal, die Ursache dafür aber nicht die Wiedervereinigung.

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    1. »Es waren die Protestierenden, die die Vereinigung wollten«
      Das stimmt zwar nicht, doch wenns so wär’, dann wär das leben halb so schwer.

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    2. @Art: Alternativlos ist nichts. Der Ostblock war komplett pleite und es wird durchaus kontrovers diskutiert, ob das, was 1989ff. unter Druck von Protesten passiert ist, nicht eh ein paar Jahre später von selbst gekommen wäre. Richtig ist, dass die Kräfte, die eine Vereinigung in Form einer Eingliederung der DDR in die BRD befürwortete, in Ost und West parlamentarische Mehrheiten hatten.
      @Mechthild, 19:31: Wie gesagt, ich brauche auch keinen Nationalfeiertag. Obwohl Agnostiker, können sie meinethalben gern den Buß- und Bettag wieder einführen. Oder den Reformationstag zur Dauereinrichtung machen. Frei ist frei. Zumal Protestanten es nicht so mit Tanzverboten haben.

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    3. Siewurdengelesen5. Oktober 2018 um 18:58

      "Der Ostblock war komplett pleite und es wird durchaus kontrovers diskutiert, ob das, was 1989ff. unter Druck von Protesten passiert ist, nicht eh ein paar Jahre später von selbst gekommen wäre."

      Darauf wird es auch nie eine befriedigende Antwort geben. Allerdings sah es so düster auch nicht aus, wie es speziell von westlicher Seite immer gemalt wurde und wird.

      Dazu z.B. dieses sicher mit Scheuklappen geschriebene Buch, das aber m.E. glaubhafte Zahlen bietet. Und immerhin hat die DDR im Gegensatz zu manch anderem und vermeintlich solventen Staat ihre Schulden zur Zeit ihrer Existenz getilgt (neben den Reparationen, die der Alt-BRD grossteils erlassen wurden).

      Aus meiner Sicht hatte ein sozialistisches deutsches Pendant nach 1989 durchaus seine Möglichkeiten und Berechtigung, wenn es auch ein extrem steiniger Weg geworden wäre mit all den Hindernissen und Keilen, welche der DDR-Wirtschaft auch so in den Weg gelegt wurden. Da hat man einfach den vermeintlich bequemeren Weg gewählt - leider mit allen jetzt offensichtlichen Konsequenzen.

      Bedenkt man alleine den Raubbau der Treuhand, die einfach nur Handlanger war, um eventuell doch konkurrenzfähige Unternehmen der ehemaligen DDR aus dem Weg zu schaffen, dann ist der durchaus als Hass zu bezeichnende Zorn auf die "Wessis" in gewisser Weise verständlich. Als klassische Beispiele speziell in Sachsen seien die ziemlich nah beieinander liegenden Werke "DKK Scharfenstein" mit dem ersten FCKW-freien Kühlschrank genannt und der Untergang der Motorradschmiede MZ in Zschopau.

      Erstere wurden an die Wand gespielt und nachher die Patente übernommen und die durchaus innovativen Fahrzeuge von MZ fahren z.B. als BMW F650 durch die Landschaft, die kurz vor dem x-ten Konkurs neue 1000er war absolut auf der Höhe ihrer Zeit und eventuell sogar etwas besser als vergleichbare Maschinen.

      Daraus resultiert m.E. auch ein Teil des Frusts, auf welchen die ganzen *gidas u.ä. Populisten aufsetzen und dieser Teil der ostdeutschen Befindlichkeiten wird weiter weggewischt, ignoriert und u.a. mit dem selbst nach 30 Jahren noch vorhandenen Einkommensunterschied zwischen neuen und alten Bundesländern zementiert - der Ossi als Deutscher zweiter Klasse, obwohl es absolut kein Problem ist, überall gleiche Tarife zu zahlen.

      Unabhängig davon war das knappe Jahr von 1989 bis zu dem Zeitpunkt, als die Einheit abzusehen war, das politisch und demokratisch geilste meines Lebens und vermutlich werde ich diese Erfahrung kein zweites Mal mehr machen:-(

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  4. Ich fände den 9.11. als Tag der Deutschen auch viel passender. Nicht nur wegen des Mauerfalls und der Reichsprogromnacht. Es gibt noch mehr interessante Daten:



    Am 9.11.1848 wird das Todesurteil gegen den linken Paulskirchenabgeordneten Robert Blum vollstreckt.

    Am 9.11.1918 verkündet Max von Baden die Abdankung Kaiser Wilhelms II.

    9.11.1923 Hitler-Ludendorff-Putsch

    9.11.1953 Erste Fußgängerzone Deutschlands in Kassel.

    9.11.1967 Angesichts der Amtseinführung des neuen Rektors der Hamburger Uni protestieren Studenten mit dem Slogan: "Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren".

    Am 9.11.2007 verabschiedet der Deutsche Bundestag das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung.

    Wenn man ganz tief gräbt, kann man noch auf folgende Daten kommen:

    9.11.911 Vorabend der Thronbesteigung Konrads des Jüngeren. Als Konrad I. ist er der letzte fränkische König des Ostfrankenreiches. Ihm folgen die Ottonen und die Entstehung dessen, was später einmal das "Heilige Römische Reich (deutscher Nation)" heißen sollte.

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    1. Fleißig. Danke. Und vergessen wir nicht: Am 9.11.2016 wurde auch Donald Trump zum President of the U.S. of A. gewählt.

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    2. Stimmt ja! Und stammt seine Familie nicht ursprünglich aus dem Brulljesmacher Örtlein Kallstadt in der Pfalz? Hach wie ist das schön! Das muss unbedingt mit in die Liste. Erst waren wir 2005 Papst, jetzt sind wir sogar US-Präsident!

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  5. Der 3. Oktober ist auch beiläufig der Todestag von F.J. Strauß – schon seltsam, newoahr?

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  6. @Stefan
    "Alternativlos ist nichts"
    Stimmt natürlich, nur gab es, im Nachhinein betrachtet, kaum einen anderen Weg als die schnelle Wiedervereinigung, sie war die einzige Möglichkeit, schnelle Stabilität in die Situation zu kriegen (natürlich ist man im Nachhinein immer schlauer).
    Experimente mit einem dritten Weg wären blanker Wahnsinn gewesen.

    "nicht eh ein paar Jahre später von selbst gekommen wäre."
    Zutreffendes Argument, war wohl ziemlich wahrscheinlich.

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