Freitag, 24. Juli 2020

Jenseits der Blogroll - 07/2020


Die Fundstücke und Empfehlungen des Monats.

Politik
. Obwohl eh schon das zahlenmäßig zweitstärkste Parlament der Welt, wird der nächste Bundestag wegen Überhang- und Ausgleichsmandaten wohl der größte aller Zeiten werden. Das hat aber nichts zu tun mit Unfähigkeit oder Gier einer als durchweg korrupt empfundenen politischen Klasse, die bloß daran interessiert ist, sich immer mehr lukrative Pöstchen zu verschaffen, sondern liegt am deutschen Wahlrecht. Die einzigartige Kombination aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht wurde ersonnen, möglichst alle Fehler der Vergangenheit zu vermeiden und es allen recht zu machen. Gero von Randow über den stetig wachsenden Bundestag, warum es so schwierig ist, diesen Prozess umzukehren und über falsche Vorstellungen von (repräsentativer) Demokratie.

Aus Sicht von Lucas Schoppe wird der gegenwärtige identitätspolitische Diskurs, in dem jedwede "Debatte [...] wie von Zauberhand immer schon entschieden [ist], bevor sie überhaupt begonnen hat, weil die jeweilige Gegenposition als sachlich irrelevante Fassade uneingestandener Privilegien präsentiert werden kann", letztlich dazu führen, dass das Prinzip der Bürgerrechte als eine der zentralen Errungenschaften der Aufklärung, erodieren und letztlich verschwinden wird. Vormodern und gegenaufklärerisch, sage ich doch. Was Schoppe befürchtet, könnte auch durchaus eintreten. Vorausgesetzt, diese Bewegung greift irgendwann von den Universitäten und den Straßen auf Gesetzgebung und Justiz über. Gerade letztere zeigt sich in Deutschland, wie am Beispiel von Fällen wie Kachelmann und Lohfink zu sehen ist, aber vorerst noch unbeeindruckt.

Dazu passend: Ein Interview mit Slavoi Žižek von 2016. Immer noch lesenswert. Wie auch eine Kolumne von Deniz Yücel aus dem Jahr 2013.

Robert Pfaller im Interview. Der meint, die totale Emanzipation habe die Frauen nicht stärker, sondern schwächer gemacht.

Benjamin Konietzny porträtiert den Nordrhein-Westfälischen Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann, der es gerade mit Tönnies zu tun hat. Die Pointe dabei: Zwar ist der gelernte Landmaschinenschlosser Laumann in der CDU, aber deutlich sozialer eingestellt als nicht wenige Sozialdemokraten.

Robert Misik: Multikulturalität ist eine Realität, die einfach existiert und keine weltfremde Träumerei. Ist es nicht viel eher so, "dass diejenigen, die von einer ethnischer Reinheit träumen, von einem unvermischten [Volkstum], das von keinen fremden Einflüssen berührt sei - dass das die Romantiker sind"?

Wissenschaft/Forschung. Ein längeres Interview mit Karlheinz Brandenburger, dem Erfinder bzw. Chefentwickler des mp3-Formats. Klar, hinterher ist man immer schlauer, aber in der Rückschau ist es unfassbar, wie borniert man bei der Musikindustrie einst war.

Herwig Finkeldey ist Arzt und Autor. Bei tell schreibt er über die Corona-Pandemie.
Safety first
Warum man es in der Medizin immer mit dem Einzelfall zu tun hat
Warum es beim Coronavirus keine einfachen Antworten gibt
Das neue Chamäleon der Medizin

Kultur und Gedöns. Wie um alles kommt man von Peggy Marchs Song 'In der Carnaby Street' über Abmahnanwälte zu Splatter mit Bauchdecken aufsägen? Die Herren Katz und Goldt wissen, wie.

Carnaby Street. Kommt, ihr wollt es doch auch.



Vor 25 Jahren starb der Maler Bob Ross, dessen Sendung 'The Joy Of Painting' immer noch (im sanften Originalton) vom Bayerischen Rundfunk gesendet wird (und offenbar gut Quote einfährt). Man munkelt, weniger wegen der gruseligen Bilder, sondern wegen der sedierenden Wirkung des ASMR-Pioniers mit dem Afro.



Sport. Milan Pavlovic über das legendärste Tennismatch aller Zeiten, das Wimbledon-Finale 1980 zwischen Björn Borg und John McEnroe. Das wurde es vor allem durch den legendärsten Tie Break der Tennisgeschichte, den Borg nach 22 Minuten mit 18 : 16 für sich entschied. Das ist ja der Punkt im Sport: Zur Legende wird man nur, wenn auch mindestens ein ebenbürtiger Gegner da ist. Daher sind eine Formel 1, in der Lewis Hamilton seit Jahren quasi konkurrenzlos alles in Grund und Boden karriolt (früher der Job von Michael Schumacher), eine Tour de France, bei der zig Jahre in Folge immer die gleiche rollende Apotheke alles plattradelt oder eine Bundesliga, in der das Titelabonnement des FC Bayern München bald in Jahrzehnten gemessen werden wird, auch so öde. Und lässt deren Triumphe, allen respektablen sportlichen Leistungen zum Trotze, letztlich schal schmecken. Bei Borg und McEnroe war das anders. Die beiden waren auf Augenhöhe und haben sich gegenseitig zu immer höherer Leistung getrieben. Hinterher wurden die beiden übrigens Freunde.

Noch ein Fußballerinterview. Für Dieter Müller vom 1. FC Köln, obwohl einer der besten seiner Zeit, hat es zur Legende nie ganz gereicht. Ist immer was dazwischengekommen. Entspannter Typ.

Essen, trinken, gutes Leben. Sven K. erinnert an Zeiten, in denen Rauchen noch nicht in erster Linie tödlich war, sondern eine Verheißung auf Freiheit und Abenteuer, und man sich fröhlich eine kurbelte. Unter anderem mit Javaanse Jongens, Samson, DRUM oder Van Nelle. Die richtig Harten pfiffen sich fertig gekurbelte Gauloises ein, und zwar filterlose Gauloises Caporal, nicht diese in den Achtzigern entwickelten 'blonden' Pseudo-Marlboros. Bleibt nur die Frage: Wo ist der Schwarze Krause geblieben?

Kathrin Hartmann erläutert, warum kein Billigkotelett auch keine Lösung ist.

"In riesigen Lofts verlieren sich weiße Mittdreißigerinnen mit einem perfekten Body-Mass-Index, denen das Marketing alle zehn Seiten einen genormten Seitenscheitel-Mann zur Seite stellt. Sie lächeln einander verhalten zu und halten Kaffeebecher in ihren manikürten Händen. Alle zwanzig Seiten sitzt die blonde Frau dann mit einem noch blonderen Kind allein an einer Edelstahltheke und reicht dem Nachwuchs einen Apfelschnitz oder Träubchen. […] Wo Stühle von geflochtenen Hockern dargestellt werden und der einzige erlaubte Rumsteher ein japanischer Messerblock ist, muss man ja aggressiv werden und kann sich wie nebenbei auf Modelmaße runterhungern. Kochen, kleckern, krümeln gar möchte man hier nicht. Zumal die Kochdünste die überall im Saal hängenden und stehenden wertigen Kunstobjekte schädigen könnten." (Maier)

-- Anja Maier und Gatte suchen eine neue Küche. Und finden ein neues Hassobjekt: Küchenkataloge. Nachvollziehbar angesichts des Gesummses, das inzwischen um heimische Kochstellen getrieben wird.

Das Rezept. Sommer, Sonne, mediterran. ("Uhhh, er hat 'mediterran' gesagt! Hang him higher!") Gefüllte Paprika nach Marina Angelaki, deren Blog bzw. dessen Lektüre auch sonst hiermit anempfohlen wird. Fällt mir nix Schlaues zu ein, außer: lecker!







8 Kommentare :

  1. "How do I get to Carnegie Hall?" "Practice, man. Practice! " Muppet Show, irgendwann in den späten 70ern. Ist aber komplett OT.

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  2. "Obwohl eh schon das zahlenmäßig zweitstärkste Parlament der Welt im Verhältnis zur Einwohnerzahl..."

    Schon der erste Satz beginnt mit einer Lüge.
    Der Bundestag hat absolut den zweiten Platz weltweit.
    Einfach mal informieren

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    1. Normalerweise pflege ich mich für Korrekturen und Ergänzungen zu bedanken. In diesem Fall sage ich mal: Klopp dir nen Ei drauf und fuck off, Schlaubi-Schlumpf!

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  3. Nette Antwort - aber zeigt nur Hilflosigkeit.
    https://www.bedeutungonline.de/liste-der-groessten-parlamente-der-welt/

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    1. Plustern Sie sich doch mal ein bisschen auf, das beeindruckt mich gleich noch mehr. Wenn Sie das Anmaßende Ihres eingänglichen Kommentars nicht imstande sind zu erkennen, dann kann ich nicht wirklich helfen.

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  4. "wird der nächste Bundestag wegen Überhang- und Ausgleichsmandaten wohl der größte aller Zeiten werden."

    Ist er bereits. Oder überholt man dann schon China und hat dann mehr als 2900 MdB's?

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  5. Kachelmann ist nur z.T. ein Sieg des Rechsstaats, zunächst wollten sie ihn verknacken. Aktuell in Thüringen hat er funktioniert, in Berlin war es der Gesetzgeber, der den Rechtsstaat abgeschafft hat, wenn es um die Polzei geht, getragen sogar von den mittig linken Parteien, die sich zunehmend gegen die FDGO wenden.
    Das muß aufhören, beat the devil out of it.

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  6. Das Produktionsteam für "Carnaby Street" nach London schicken? Viel zu teuer! Das muffige West-Berlin Anfang der 70er war im Vergleich zu West-Deutschland "ausgeflippt" genug und musste reichen.

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