Samstag, 26. Juni 2021

Vorrundenbilanz. Sieben Thesen

 
1. Die schwarz-rot-geile Party ist vorbei – und das ist gut so.

Insgesamt scheint das Interesse an nationalem Gekicke nachzulassen. Nicht nur, dass heuer die Einschaltquoten eingebrochen sind, auch die so genannten Public Viewings, zu denen seit 2006 immer Millionen gepilgert sind, finden dieses Mal nicht statt. Ansonsten: Keine Hupkonzerte, keine Autokorsos, kaum albern in Schwatzrotsenf dekorierte Schland-Autos, -Häuser und -Menschen. Keine grölenden, marodierenden Horden auf den Straßen, und infantil-orgiastischer Partynationalismus ("JAAA! JAAAAA!! JAAAAAAA!!! HEUTE PUTZEN WIR DIE XYZ WEG!!!") ist wieder Sache der Spezialisten vom Springer-Verlag. Ich empfinde das alles als überaus erholsam. 
 
 
2. Das Fehlen von Lahm und Mertesacker konnte bislang nicht kompensiert werden

Einem alten Bonmot zufolge, gewinnen beim Fußball Stürmer die Spiele und Verteidiger die Turniere. Die beiden eben Genannten bildeten 2014 mit Jerôme Boateng und dem jungen Mats Hummels, die beide auf der Höhe ihres Könnens und ihrer Fitness sich bewegten, eine hervorragendes Abwehrzentrum. Zur Zeit übernehmen die Innenverteidigung Antonio Rüdiger, der in der Regel solide spielt, aber auch seine Ausfälle hat, und ein gealterter Mats Hummels, der leider kein Bordeaux ist und inzwischen über die wanderdünenhaften Beschleunigungswerte eines Mercedes 200 D von 1970 verfügt, was er aber mit Erfahrung und Übersicht irgendwie (noch) kompensiert. Die Außenverteidigung besorgt Matthias Ginter, unterstützt von Robin Gosens, einem sympathischen Quereinsteiger mit Wumms im Bein, der bislang nur gegen Portugal einen guten Tag erwischt hat, und Joshua Kimmich, der auf ungewohnter Position spielt. Für eine Mannschaft mit dem Anspruch, Weltklasse zu sein, dürfte das zu wenig sein.
 

3. Es war schon immer eng

Franz Beckenbauer hat in seinem Leben einen wirklich klugen Satz gesagt, der mir in Erinnerung geblieben ist. Der da wäre: Beim Fußball werden keine Schönheitspreise vergeben. Den EM-Titel gewinnen bedeutet, sieben Spiele in kurzer Zeit zu bestreiten, darunter vier k.o.-Partien, die alle in die Verlängerung gehen können. In der Vorrunde, wo man sich noch ein Unentschieden leisten kann, nicht Vollgas zu spielen, vielleicht sogar unbewusst, ist daher keine schlechte Idee. Ein Turnier gewinnen, heißt auch, sich mal durchzupfuschen und auch die hässlicheren Spiele zu gewinnen bzw. zu überstehen. Von denen redet aber später niemand mehr, wenns am Ende geklappt hat.
 
In fußballaffinen Kreisen einnert man sich, dass die Italiener 1982 mit einem überzeugenden 3 : 1 gegen Deutschland (West) das Finale gewannen und Weltmeister wurden. Daran, dass dieselbe italienische Mannschaft sich als erste überhaupt mit drei lahmen Unentschieden durch die Vorrunde laviert hatte, eher weniger. 2014 überstrahlten das legendäre 7 : 1 gegen Brasilien und das brutal harte Endspiel gegen Argentinien die Tatsache, dass es zuvor mehr als ein mal sehr eng gewesen und nur mit Hängen und Würgen weitergegangen ist (gegen Algerien im Achtelfinale etwa). Die deutsche Mannschaft hat bislang ein sehr mittelmäßiges Spiel gegen Frankreich, ein gutes gegen Portugal und einen einfallslosen Grottenkick gegen Ungarn gezeigt. Das ist sicher kein Ruhmesblatt, aber insgesamt gesehen normal und nicht die Katastrophe, zu der es in den Medien aufgeblasen wird.
 

4. Löw bleibt Löw, da helfen keine Pillen

Joachim Löw hat, das wird sein Verdienst bleiben, entscheidenden Anteil daran gehabt, den Fußball der DFB-Elf von Kampftreterei, Eisenfressen und Rumpelkick auf eine neue Stufe zu heben. Die Kehrseite ist, dass Löw nach wie vor zu erratischen Entscheidungen neigt, meist immer noch kein gutes Händchen hat beim Wechseln und vor allem zu oft keine Antwort hat, wenn seine ausgefuchsten, kunstvollen Pläne nicht aufgehen. Zumal ihm auch ein verlängerter Arm auf dem Platz fehlt - eine Rolle, die bis 2014 Philipp Lahm innehatte, und die weder Kroos noch Müller und auch Gündoğan nicht übernehmen können oder wollen. Kunstlose Varianten wie die, die Brechstange auszupacken, es also gegen einen tief stehenden Gegner mit Distanzschüssen zu versuchen (was Goretzka gegen Ungarn dankenswerterweise getan hat) oder über Standardsituationen das Glück zu wenden, sind nach wie vor nicht seins und sie werden offenkundig immer noch vernachlässigt. Das letzte Freistoßtor einer deutschen Nationalmannschaft datiert aus dem Jahr 2018. Das ist deutlich zu wenig. Dass er nun geht und der Champions League-erfahrene Hansi Flick übernimmt, könnte das ändern.
 

5. Fußball war und ist politisch, kann gar nicht anders

Nichts geschieht im luftleeren Raum, keine Ausnahmen. Daher sind Forderungen wie die, man möge doch einfach mal einen Film nur genießen, Kunst habe bitte, bitte unpolitisch zu sein, die Politik möge sich aus dem Sport heraushalten etc., immer höchst verdächtig. Kommen solche Forderungen von Politikern, kann man davon ausgehen, dass selbige bloß selbst gern mehr Platz hätten zum Politisieren. Wären die, die die Abwesenheit von Politik im Fußball am lautesten fordern, auch einverstanden damit, Nationalfahnen und -hymnen aus den Stadien zu verbannen? Wenn das keine politischen Symbole sind, was dann?

Helmut Kohl begründete 1996 die Tradition, den Spielern in die Kabine zu folgen, Angela Merkel griff diese Tradition auf. Das ist so wenig unpolitisch wie Erdoğans Foto mit Özil und Gündoğan. Man darf annehmen, dass die Staats- und Regierungschefs von Ungarn, Russland, Polen und der Türkei es sehr wohl politisch ausgeschlachtet hätten, wenn die betreffenden Teams weitergekommen wären. Und natürlich ist es ein politisches Statement, wenn einer wie Orbán angesichts des Auftretens einer bekannten ungarischen Hooligan-Truppe bloß diplomatisch schweigt.

"Wer als progressiver Mensch erlebt, wie mit autoritären Staatschefs nicht nur fröhlich Geschäfte gemacht werden (das ist nicht neu), sondern wie auch Lippenbekenntnisse zur Vielfalt hektisch einkassiert werden, weil man sich von der Verantwortungslosigkeit der Autokraten gut aussehend volle Stadien verspricht, den kann die nackte Angst überkommen, wohin dieser Opportunismus noch politisch führen könnte." (Johannes Schneider)

Manchmal muss die Politik auch tätig werden. Bei der WM 1998 trat eine Horde deutscher Schläger den französischen Gendarmen Daniel Nivel derart brutal zusammen, dass er nur knapp überlebte und seither behindert ist. Hätte die Politik sich da raushalten sollen? So wie 1978, als man in Argentinien herumkickte, derweil die Militärjunta zur gleichen Zeit weiter politische Gegner ermordete und jeder Protest als unhöflich galt?
 

6. Somewhere over the Rainbow

Es gibt welche, die jetzt spitzen Fingers anmerken, es hätten auch viele multinationale Konzerne sich scheinheilig in Regenbogenfarben gehüllt, als entwerte das ein grundsätzlich unterstützenswertes Ansinnen. Man muss unwillkürlich daran denken, wie man in querdenkeraffinen Kreisen pikiert von 'Kontaktschuld' brammelte, als darauf hingewiesen wurde, dass auf den einschlägigen Demos eine Menge Rechte und Nazis sich herumtrieben. Nur ist es eben ein Unterschied, ob eine Firma mit einer zweifellos billigen Geste Werbung macht für ein grundsätzlich emanzipatorisches Ansinnen, wenngleich scheinheiligerweise nicht in Nahost (honi soit qui mal y pense), oder sich nicht zu distanzieren von welchen, die Ziele verfolgen wie den Sturz des herrschenden Systems zugunsten eines völkisch-autoritären Gebildes. Differenzieren - sooo twentieth century!

Vollends lächerlich wird es, wenn über den Gratismut gespöttelt wird, den die Regenbogenträger da zu Markte getragen hätten. Einige verstiegen sich gar zu der Aussage, Solidarität, die nicht weh täte, sei keine. Sicher kann man davon ausgehen, dass viele, die am Dienstag das Regenbogenfähnchen schwenkten, dies unter anderen Bedingungen eventuell nicht täten. Muss man aber erst warten mit seiner Solidarität, bis wieder die braunen Bataillone marschieren? Soll ich als Nichtjude davon Abstand nehmen, jedes Jahr am 9. November die Gedenkveranstaltung am Ort der zerstörten Synagoge zu besuchen und Präsenz zu zeigen? Weil mir wahrscheinlich nichts passieren wird? Weil’s ja nicht wehtut? Muss es erst so weit kommen, dass ich dort Prügel riskierte, um nicht als scheinheilig zu gelten? Bei einigen, da fragt man sich zuweilen...

Fußball mag eine der letzten Bastionen offen und kollektiv gelebter LGBTQ-Feindlichkeit sein. Dass es auch dort langsam eng zu werden beginnt für die Hater, ist, allen unguten Begleiterscheinungen zum Trotze, insgesamt keine schlechte Nachricht.
 

7. Vielleicht ist ein Zenit überschritten

Es mehren sich die Anzeichen, dass die Zeiten endlosen Wachstums im professionellen Fußball vorbei sein könnten. Davon künden die gescheiterte Gründung einer Superliga dieses Jahr, das nach wie vor verheerende Echo auf die alberne WM in Katar und, s.o., die sinkenden Einschaltquoten bei der EM. Viele Ligen werden von Seriensiegern dominiert und dadurch immer langweiliger. In Spanien, wo die letzten Jahrzehnte über meist Barca und Real die Sache unter sich ausgemacht haben, beginnt dem großen FC Barcelona die Puste auszugehen. Auch die Champions League wird immer mehr zum schrumpfenden exklusiven Klübchen der immergleichen. Die Bereitschaft vieler Fans jedenfalls, jeden noch so absurden teuren Blödsinn mitzumachen, scheint langsam abzunehmen. Sollten das tatsächlich Indizien dafür sein, dass der professionelle Fußball sich wieder zu dem entwickelt, was er mal war - eine Nebensache, eine sehr schöne zwar, aber eine Nebensache -, dann täte ich das sehr begrüßen.






2 Kommentare :

  1. Ich habe mehrmals nachgezählt und komme nur auf sieben Thesen. Oder wird die dritte noch nachgereicht?

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