"Wir sind das Volk, und wir wollen, daß kein Gesetz sei; ergo ist dieser Wille das Gesetz, ergo im Namen des Gesetzes gibt's kein Gesetz mehr, ergo totgeschlagen!" (Büchner, Dantons Tod)
Es kursiert ein fundamentales Missverständnis über Demokratie und Volkssouveränität: Dass Politik nämlich gefälligst immer das zu tun habe, was das Volk gerade wünscht, also 'den Volkswillen' zu exekutieren. Das ist aber Blödsinn. Politik hat genau das eben nicht zu tun, sondern im Interesse und zum Wohle der Bevölkerung zu handeln. Das ist ein Unterschied. Anders formuliert: Ein Parlament, eine Regierung ist nicht der Büttel des Volkes, sondern wird von einer im besten Fall mündigen Bevölkerung für einen Zeitraum x ermächtigt, in deren Interesse und unter Wahrung des geltenden Rechts die Geschäfte zu führen und muss sich nach dem Zeitraum x erneut dem Votum der Bevölkerung stellen.
Und das kann sehr wohl bedeuten, dass es keineswegs undemokratisch ist, wenn eine demokratisch gewählte Regierung gegen eine Bevölkerungsmehrheit agiert. Die Beispiele sind zahlreich:
In Großbritannien herrschte 1940 eine weitgehend resignierte und kriegsmüde Stimmung. Hätte der demokratisch gewählte Winston Churchill sich davon leiten lassen, wäre das Königreich wohl nicht in den Krieg gegen Deutschland eingetreten und hätte Frieden mit dem Deutschen Reich geschlossen (und dafür, das haben Verhandlungen so an sich, Bedingungen akzeptieren müssen). Zumal nach der Niederlage Frankreichs die Situation sich weiter verschlimmerte und man allein gegen Deutschland dastand. Man weiß es nicht, aber ob es nach einem deutsch-britischen Friedensschluss auch möglich gewesen wäre, die Britischen Inseln als Basis für die US-amerikanischen Lieferungen an die UdSSR und später die Rückeroberung Westeuropas zu nutzen, ist mehr als fraglich.
Konrad Adenauer setzte 1955 die Wiederbewaffnung Westdeutschlands und den NATO-Beitritt gegen erheblichen Widerstand der Bevölkerung durch.
Helmut Schmidt hatte während seiner Regierungszeit zwei schwere Krisen zu bewältigen: Den Kampf gegen die RAF und die parteiinterne Krise wegen des NATO-Doppelbeschlusses. Im Fall der RAF hatte Schmidt klare Prämissen. Erstens: Kein Einknicken vor gewalttätigen Erpressern, zweitens: Rechtsstaatlichkeit muss gewahrt bleiben. Entgegen dem, was rechte CDUler im Krisenstab und die Scharfmacher von Springer vorschlugen, durfte das Recht nicht außer Kraft gesetzt werden. Keine Standgerichte, keine Folter, keine Erschießungen. Obwohl sich dafür möglicherweise eine Mehrheit in der Bevölkerung hätte finden lassen. Vier Jahre später dann setzte Schmidt gegen Widerstände aus der eigenen Partei und gegen die bis dahin größte Protestbewegung der BRD den NATO-Doppelbeschluss durch. Er riskierte eine Spaltung der SPD und sein Amt. Otto Graf Lambsdorff witterte seine Chance und der Rest ist bekannt.
Der raumgreifende Oggersheimer Kohl wird 1989 gewusst oder zumindest geahnt haben, dass vor allem die westdeutsche Bevölkerung einer schnellen Wiedervereinigung indifferent gegenübersteht und hat in so einer weitreichenden Frage auf ein eigenes Referendum verzichtet. Als solches sollte dann die Bundestagswahl 1990 gelten, die er klar gewann.
Natürlich ist damit nicht gesagt, dass solches Handeln per se segensreich ist. Ist es definitiv nicht. Was eine Margaret Thatcher, ein Gerhard Schröder an sozialen Verwerfungen angerichtet haben, ist auch viele Jahre später alles andere als das. Aber sie waren berechtigt dazu. Sie und auch alle anderen genannten wurden teils heftig kritisiert bis angefeindet, es gab Proteste. Kaum jemand hat ihnen vorgeworfen, gegen den Willen des Souveräns gehandelt zu haben.
Wäre mehr direkte Demokratie die Lösung? Das bedeutet unter anderem, komplexe Probleme auf simple Ja-nein-Fragen einzudampfen. Sicher, es gibt korrupte, gekaufte Abgeordnete. Aber angesichts einer Bevölkerung, von der sich mindestens die Hälfte von Springer und Social Media einreden lässt, dass die Ausländer und die Grünen unser aller Unglück sind und im Ausländertriezen und Sozialleistungenkürzen das Heil liegt, wäre ich auch sehr skeptisch in Bezug auf Manipulierbarkeit. Brexit anyone?
Wie stünde es zudem um die Bereitschaft, Ergebnisse von Volksentscheiden, die einem absolut nicht passen, dann bitte auch zu akzeptieren? Die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung fanden auch rückwirkend überwiegend Zustimmung bei der Bevölkerung, es gab also eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass entsprechende Volksentscheide auch entsprechend ausgegangen wären. Hätten Cononalatscher und Impfgegner dann gesagt "Okay, dann halt nicht!"? Weil: Direkte Demokratie? Die schlechte Nachricht: Die bequeme Ausrede, 'die da oben' hätten uns das alles eingebrockt, entfiele dann.
Bleibt das Problem, wie der Volkswille jenseits von Wahlen gemessen zuverlässig werden soll oder kann. Mit Umfragen? Deren Ergebnisse können bestenfalls eine Orientierung bieten, auf die sich aber keine politischen Entscheidungen gründen lassen. Zumal der sich so offenbarende Wille durchaus launisch sein kann. Angela Merkel ist vermutlich die deutsche Regierungschefin, die am meisten auf Umfragen geschaut hat. Ihre Entscheidungen im Februar 2011, aus dem Ausstieg aus dem Atomausstieg wieder auszusteigen und die vom August 2015, die Grenzen offen zu halten, stießen auf breite Zustimmung. Man kann sagen: Sie hat gemacht, was das Volk wollte. Rückblickend ist aber auch das wieder nicht recht, man wirft ihr vor, genau das getan zu haben, schimpft sie eine Verräterin und schlimmeres. Ja wat denn nu?
Momentan muss der ominöse, in Umfragen sich angeblich manifestierende 'Volkswille' vor allem als Argument herhalten, wenn es ums Drangsalieren von Flüchtlingen und Dichtmachen von Grenzen geht. AfD und CDU kommen zusammen auf ca. 50 Prozent, also: Grenzen dicht und Remigration ahoi! Nur scheinen bei anderen Fragen Umfrageergebnisse irgendwie weniger wichtig zu sein. Die Deutschen sind nämlich mehrheitlich für:
- Ausbau von erneuerbaren Energien,
- eine Vermögenssteuer,
- höhere Besteuerung höherer Einkommen,
- ein bundesweites Böllerverbot,
- ein allgemeines Tempolimit auf Autobahnen,
- einen Mindestlohn nicht unter 15 Euro pro Stunde,
- eine Bürgerversicherung,
- einen Mietendeckel und das Einfrieren von Mieten sowie
- eine völlige Legalisierung von Cannabis.
Volkes Wille! Warum wird das alles nicht stante pede umgesetzt? Weil Markus Söder dann traumatisiert wäre?
Zudem, jetzt kommt’s ganz dicke, hat bei einer aktuellen Umfrage nur jede:r Fünfte angegeben, Migration sei das wichtigste Thema und ein großer Teil angab, es gäbe drängendere Probleme.
Zwei Ausnahmen immerhin gibt es: Eine knappe Mehrheit der Deutschen ist gegen ein Verbrenner-Aus und bei der Frage nach einem Veggie-Tag in Kantinen fiel das Ergebnis mehr so halbe-halbe aus. Bratwurst und Brrrm-Brrrm! bleiben also erstmal. Das möge einigen zum Troste gereichen.
Direkte Demokratie hat auch ein paar praktische Probleme. Über wie viele Themen soll man abstimmen lassen? Soll es jeden Monat eine Abstimmung geben, für die wieder Wahllokale eröffnet und mit Personal besetzt werden? Kann man mehrere Themen in einer Abstimmung zusammenfassen? Wer legt die Themen fest, wer formuliert die Fragen? Welche Fragen sind tabu? Die Bevölkerung ist sicher für eine Absenkung der Mehrwertsteuer oder eine Rente mit 60. Wie viele Leute kann man, neben Europa-, Bundestags-, Landtags- und Kommunalwahlen noch zu diesen vielen Urnengängen motivieren? Da ist es doch besser, man delegiert bei Wahlen die konkreten Einzelentscheidungen an die Abgeordneten der Parteien.
AntwortenLöschenUnd das sind nur die rein technischen/rechtlichen Probleme. Ich denke mal, die Forderung nach direkter Demokratie ist eine Minderheitenforderung, die in bestimmten Milieus halt beliebt ist. Glaube kaum, dass der Michel sich wie in der Schweiz alle paar Sonntage vom Sofa erheben wird, um über dies und jenes abzustimmen. Und wenn doch, dann wird die Begeisterung stark abnehmen, wenn ein paar Entscheide nicht so ausgehen, wie gewünscht.
LöschenVor allem, wenn - wie in Berlin zu sehen ist - der Gesetzgeber nach Belieben entscheidet, welchen Bürgerentscheid er annimmt oder nicht. Vergesellschaftung von Wohnungsgesellschaften (gegen angemessene Entschädigung) und Weiternutzung des Flughafens Tegel - der Mehrheitswille wurde einfach ignoriert.
LöschenSehr guter Beitrag !!!
AntwortenLöschen"Vox Populi, Vox Rindvieh"
AntwortenLöschen(Franz Josef Strauß)