Mittwoch, 15. Mai 2019

Schmähkritik des Tages (28)


Heute René Hamann über die Schunkel-Shanty-Band 'Santiano'

"Es gibt Abgründe in dieser Welt, von denen man gar keine Ahnung hat, dachte ich, während ein ice-cold weißer Hybrid-SUV von BMW an uns vorbeischaukelte, fast geräuschlos. Von hinten hörten wir: eine Fiedel, ein paar Flöten, einen Schunkelrhythmus, eine reibeisenharte Männerstimme. Eine Mischung aus Seefahrerliedern und Mittelalterrock mit stark irischer Anmutung. Waren das die Pogues? Nein, dafür war die Musik zu schlecht. Die Levellers oder Poems for Laila? Nein, die Musik war deutscher, auf keinen Fall studentisch oder links. Sie war erwachsener, spießiger. [...]

»Alle die mit uns auf Kaperfahrt fahren, müssen Männer mit Bärten sein / Jan und Hein und Klaas und Pit, / Die haben Bärte, die fahren mit«. Kurze Forschung im Netz, wir leben schließlich doch im 21. Jahrhundert: Das waren »Santiano«, eine deutsche Band, den Slogan gibt es auch als T-Shirt im Beatles-Style: »Jan & Hein & Klaas & Pit«. [...] Schade nur um die Rasierten und die anderen, die von Natur aus keinen Bart, die Knaben und die Frauen, die in diesen Texten vornehmlich »Weiber« heißen ...

Eine Musik, die noch in größter Küstenferne wie hier in Berlin ziemlich seekrank machte. Eine Musik, die wie an den Waden klebender Tang war, wie ein beherzter Tritt in einen Seestern, wie ein Bad in einem Aquarium voller Quallen. [...] Wer braucht da noch Rammstein? Niemand. Was es braucht, ist hohoho und ’ne Buddel voll Rum, wenn der Whisky mal aus ist [...]." (junge Welt, 9.5.2019)


Anmerkung: Man sollte darauf hinweisen, dass eine Band, die Millionen Tonträger verkauft und die größten Hallen und Stadien vollbekommt, in professioneller Hinsicht definitiv etwas richtig macht. Macht eine Band das seit Jahren regelmäßig, dann geschieht das auch nicht aus purem Zufall. -- Das nur, um dem Vorwurf des Bildungsspießertums vorzubeugen. Ich weiß auch nicht, was genau 'studentische' Musik sein soll. Die überwiegende Mehrheit der Studenten zu meinen Studienzeiten hatte in Musikdingen in meiner Erinnerung einen nicht minder gruseligen 08/15-Geschmack als der Rest der Bevölkerung. Keine Ahnung, wie das heute ist.

Vielleicht hat mich das auch so getriggert, weil wir damals in der Schule von gleich zwei Musiklehrern nacheinander mit Shantys dauerbehelligt wurde. Der erste hat mit uns Zehnjährigen die 'Zauberflöte', besprochen. Komplett. Weil wir nicht in Verzückung ausbrachen, fand er, wir seien Ignoranten und Kulturbanausen. Weil er aber auch nicht auf die Idee kam, dass wir eventuell ein wenig jung gewesen sein könnten für eine derart geballte Ladung Hochkultur, behelligte er uns zur Strafe fortan mit Seemannsliedern und ließ uns den Quintenzirkel auswendig lernen. Wer sich etwa bei 'What shall we do with the drunken sailor?' verhaspelte oder ein Vorzeichen übersah, landete im Klassenbuch. Der zweite leitete in seiner Freizeit einen Shantychor und hat uns so lange den 'Hamburger Veermaster' üben lassen, bis er irgendwann entnervt aufgab und sich krank schreiben ließ.

Es geht auch nichts ums Geschmäcklerische, geschweige denn, darum, sich irgendwie über Menschen zu erheben, die Musik der oben genannten Band Santiano gut finden. Nein, es geht eher darum, den Erfolg solcher Bands als Symptom zu begreifen. Es ist ja nicht so, dass Regression in eine kuschelig übersichtliche gute alte Zeit, wo Männer noch Männer waren etc. ein sonderlich neues Phänomen wäre. Seit den frühen Siebzigern fiedeln und whisteln Irish Folk-Bands wie The Dubliners, The Chieftains oder Clannad (damals noch mit der Säusel-Sirene Enya als Sängerin) erfolgreich auf dem Kontinent herum. Auch das finstere Mittelalter wurde hierzulande erstmals 1973 von der Band Ougenweide akustisch beackert und wird es noch immer.

Es heißt, der Erfolg von Tolkiens 'Herr der Ringe' und anderer Fantasy ab den frühen Siebzigern habe auch damit zu tun gehabt, dass die Hippie-Generation bzw. die der 68er ihre Illusionen begraben musste und sich als Kompensation in die Gegenwelten von Mittelerde flüchtete. Es macht daher wenig intellektuelle Mühe, ist beinahe schon schandbar trivial, den ungebrochenen Erfolg solch handwerklich perfekt gemachter, doch eher innovationsarmer, wenn nicht -feindlicher Musik mit den Sehnsüchten in Verbindung zu bringen, die das herrschende System offenbar bei vielen Menschen auslöst.

Rammstein? Nun gut, ja, die kann man mögen oder nicht, die sind auch nicht mehr rasend originell, bringen aber wenigstens alle paar Jahre ein wenig gekonnte ironische Brechung und Uneigentlichkeit ins Spiel. Allein dafür muss man sie ein wenig gern haben.

"Wenn Sie sich waschen und rasieren, haben Sie in drei Wochen einen Job." (Kurt Beck)

Apropos Männer mit Bärten: Seit Jahrzehnten bin ich, mehr aus Bequemlichkeit, überzeugter Bartträger und wer mich ernsthaft zum Rasieren auffordert, fängt schlimmstenfalls eine. Schaut man sich aber diese skinnybejeansten, nerdbebrillten, prekär arbeitenden, detoxenden Hipster-Milchsemmel an, die mit ihren Gesichtspullovern nunmehr seit Jahren die Hipster-Metropolen bevölkern, derweil sie ihr Essen fotografieren und Craftbeer süffeln -- dann weiß man: Vollbart allein ist auch keine Lösung. Darauf ne Buddel voll Rum.




2 Kommentare :

  1. Je mehr ich von diesen sich selbst ausbeutenden Hipster Deppen mitkriege, die sich für ganz doll progressiv und kosmopolitisch halten, in Wirklichkeit aber in jeder Metropole das immer gleiche Biotop bevölkern, desto überzeugter trage ich keinen Bart.

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